Wegen seines Spitzenergebnisses in der ersten Runde der argentinischen Präsidentschaftswahlen gilt der sich als Katholik bekennende ultraliberale Ökonom Javier Milei als aussichtsreichster Kandidat für die Endrunde. Mileis politische und ökonomische Positionen erscheinen jedoch vielen nicht nur als zu radikal, sie sind auch eine Herausforderung für den ebenfalls aus Argentinien stammenden Papst Franziskus. Da Milei Anhänger der Österreichischen Schule ist, sprach CNA Deutsch mit Austrian Institute-Präsident Martin Rhonheimer über die Österreichische Schule, Mileis Programm, dessen Vereinbarkeit mit der Soziallehre der katholischen Kirche und Fragen rund um das Thema Sozialpolitik und Sozialstaat. Das sehr ausführliche Interview wurde schriftlich geführt und ursprünglich in zwei Teilen veröffentlicht (am 6. bzw. 7. September 2023). Mit freundlicher Genehmigung bringen wir nachfolgend den vollständigen Text in einem einzigen Teil.
Dass die argentinischen Bürger nun massenweise einen Mann wie Milei wählen und nicht einem Sozialpopulisten nachlaufen, zeigt eigentlich, dass sie bereits reifer sind als die Bürger der meisten europäischen Staaten.
CNA: Der argentinische Präsidentschaftskandidat Javier Milei gilt, wenn man den Medienberichten vertrauen kann, als Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Sie sind Präsident des „Austrian Institute of Economics and Social Philosophy“ und somit auch ein Vertreter dieser Österreichischen Schule. Was genau hat es damit auf sich?
Martin Rhonheimer: Lassen Sie mich zuerst folgendes präzisieren: Obwohl ich mich mein ganzes Leben lang mit ökonomischen Fragen auseinandergesetzt und entsprechende Literatur gelesen habe, bin ich nicht Ökonom, sondern von Fach Philosoph wie auch studierter Historiker. Wie ich mit den Jahren erkannte, ist die Österreichische Schule – wie sie traditionellerweise genannt wird – nicht nur Ergänzung und teilweise auch Korrektiv dessen, was heute an unseren Wirtschaftsfakultäten gelehrt wird, sondern auch von enormer sozialphilosophischer Bedeutung. Zudem besitzt sie, wie sich gerade in den letzte Jahren gezeigt hat, für das Verständnis aktueller Probleme ein enormes Potential.
Mutet sich der Staat zu viel zu, ist das letztlich die Anmaßung eines Wissens, über das er bzw. staatliche Bürokratien gar nicht verfügen, da dieses Wissen nur dezentral vorhanden ist und in wettbewerblichen Prozessen mit Hilfe des Preissystems des Marktes erst entdeckt oder gar erst geschaffen wird. Das ist wie gesagt eine entscheidende Einsicht eines der wichtigsten Vertreter der Österreichischen Schule, Friedrich August von Hayek.
Die Österreichische Schule der Nationalökonomie entstand in Wien, sie war Protagonistin der sogenannten marginalistischen Revolution (Grenznutzenlehre), ihre großen Köpfe waren Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk, Friedrich von Wieser, danach Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek, der 1974 für seine Konjunkturtheorie den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. Durch die Emigration von Mises in die USA – er war Jude – und die Lehrtätigkeit Hayeks zunächst in London, dann in Chicago (und erst viel später in Freiburg i. Br.) verlagerte sich die Österreichische Schule in den angelsächsischen Sprachraum und ist dort heute als „Austrian Economics“ bekannt. Gleichzeitig veränderte sie aber auch ihr Gesicht: Sie begann nämlich im Staat das Wurzel aller Übel zu sehen, was schließlich zu einer prinzipiellen Ablehnung des Staates führte – und das war ganz und gar nicht im Sinne der Gründerväter der Österreichischen Schule.
Österreichische Schule – kurz erklärt
Soweit die Geschichte. Was ist in groben Zügen der Inhalt der „Österreicher“?
Sie stellen in ihren Analysen das handelnde, selbstverantwortliche Individuum in den Mittelpunkt, man nennt das „methodologischen Individualismus“. Sie interessieren sich nicht oder nicht in erster Linie für gesamtwirtschaftliche Aggregate, sondern fokussieren sich auf die wirtschaftlichen Entscheidungen von Individuen, die bestimmte Ziele verfolgen. Dabei wollen sie verstehen, welches die ökonomisch wirksamen Mittel sind, um diese Ziele zu erreichen. Das Verständnis von Ökonomie als eine Theorie des menschlichen Handelns – der Titel von Mises’ Hauptwerk lautet „Human Action“ – liefert viele Schnittstellen mit der klassischen aristotelischen und thomistischen Handlungstheorie und Ethik, auch wenn Mises selbst – meiner Meinung nach war das ein Fehler – diese in kantianisch-aprioristischer Weise verstand.
Da wir Menschen aufgrund unserer Natur danach streben, unser Leben zu verbes-sern, wollen die Vertreter der österreichischen Schule zeigen, dass dafür am besten das Koordinationssystem einer Marktwirtschaft geeignet ist, die auf dem Schutz der Eigentumsrechte und der damit verbundenen kapitalistischen Produktionsweise gründet.
Da wir Menschen aufgrund unserer Natur danach streben, unser Leben zu verbessern, wollen die Vertreter der österreichischen Schule zeigen, dass dafür am besten das Koordinationssystem einer Marktwirtschaft geeignet ist, die auf dem Schutz der Eigentumsrechte und der damit verbundenen kapitalistischen Produktionsweise gründet. Theoretische Grundlage ist die sogenannte subjektive Wertlehre, die im Gegensatz zur klassischen Ökonomie besagt: der Wert eines wirtschaftlichen Gutes hängt nicht von objektiven Gegebenheiten wie den Produktionskosten (Adam Smith) oder der dafür verwendeten Arbeit (David Ricardo, Karl Marx), sondern allein von den (jeweils marginalen) Präferenzen derer, die diese Güter nachfragen, ab. Wirtschaft ist also sozusagen „Dienst am Konsumenten“ in einer Welt der Knappheit. Marktwirtschaftlich-wettbewerbliche Prozesse sind deshalb, wie vor allem Hayek zeigte, „Entdeckungsverfahren“. In ihnen spielt das freie und innovative unternehmerische Handeln, das mit Hilfe der Preissignale des Marktes die Präferenzen der Verbraucher mit der optimalen Verwendung knapper Ressourcen in Einklang bringt, die wesentliche Rolle. Gerade das können zentrale Planung oder politische Vorgabe und bürokratische Kontrolle nicht leisten.
Die Marktwirtschaft ist deshalb von ihrem Wesen her gemeinwohlorientiert oder, wie Ludwig von Mises es formulierte, eine ständige Abstimmung der Konsumenten darüber, was produziert werden soll; Produzenten, die das Abstimmungsergebnis über längere Zeit ignorieren oder falsch interpretieren, scheiden aus dem Markt aus, was entsprechend Ressourcen für deren effizientere Verwendung freisetzt. Als Rahmen für die Marktwirtschaft braucht es klare rechtliche Regeln, die für alle gelten, und einen in diesem Sinne starken Staat, der diese Regeln auch durchsetzt. Staatliche Interventionen in den Marktprozess selbst jedoch führen zu Verzerrungen der Preissignale und damit des Allokationsprozesses und so zu ineffizienten Ungleichgewichten, die nach immer neuen staatlichen Interventionen verlangen – ein Spiel, das weitergeht, bis Marktwirtschaften dysfunktional werden und durch die Macht von mit der Politik verbandelten Interessengruppen ihre innovative und gemeinwohlfördernde Dynamik verlieren. Dieser Prozess ist gegenwärtig gerade in Europa weit fortgeschritten.
Anmaßungen des Staates und liberale Staatsskepsis
Wie wirkt sich die ökonomische Theorie auf die politische Philosophie der „Österreicher“ aus?
Mutet sich der Staat zu viel zu, ist das letztlich die Anmaßung eines Wissens, über das er bzw. staatliche Bürokratien gar nicht verfügen, da dieses Wissen nur dezentral vorhanden ist und in wettbewerblichen Prozessen mit Hilfe des Preissystems des Marktes erst entdeckt oder gar erst geschaffen wird. Das ist wie gesagt eine entscheidende Einsicht eines der wichtigsten Vertreter der Österreichischen Schule, Friedrich August von Hayek. Wird sie nicht beachtet, wird staatliches Handeln – Politik und Bürokratie – oft mehr zerstören als aufbauen. Deshalb ist liberale Staatsskepsis wichtig – nicht Ablehnung des Staates, aber als klare Beschränkung seiner Aufgabe und Kontrolle institutionalisierter Macht durch institutionalisierte Gegenmacht und freie Medien ohne öffentlich-rechtliche Monopole – also strikte Gewaltenteilung. Und all dies im Interesse der individuellen Freiheit, aber auch des allgemeinen Wohlstands.
Jeder Liberale begegnet also der Staatsmacht mit Skepsis. Leider sind, wie anfangs kurz erwähnt, die neueren Vertreter der Österreichischen Schule vor allem in den USA – unter dem Einfluss von Murray Rothbard, einem Schüler Mises’ – in eine anarchistische Richtung abgedriftet. Staatliche Macht wird hier nicht nur als potentiell immer gefährlich und deshalb zu beschränken und zu kontrollieren betrachtet, sondern als ein Übel, als der eigentliche Feind der Freiheit, von katholischen Libertären sogar als Teufelswerk gesehen. Angestrebt wird eine reine Privatrechtsgesellschaft, in der es nur noch marktwirtschaftliche Beziehungen zwischen freien Eigentümern gibt.
Ludwig von Mises hielt den Staat als eine für das menschliche Zusammenleben und die Sicherung der Freiheit unverzichtbare und somit im positiven Sinne notwendige Institution. Zudem war er der Ansicht, Anarchismus sei ein noch größerer und gefährlicherer Irrtum als Sozialismus.
Diese „anarchokapitalistischen“ Vertreter der Österreichischen Schule, zu denen sich allem Anschein nach auch Javier Milei zählt – berufen sich auch für ihre politische Konzeption und ihre Rechtstheorie oft auf Ludwig von Mises, doch zu Unrecht. Denn Mises hielt den Staat für notwendig, und zwar nicht etwa nur in Sinne eines notwendigen Übels, sondern als einer für das menschliche Zusammenleben und gerade auch für die Sicherung der Freiheit unverzichtbaren und somit im positiven Sinne notwendigen Institution. Zudem war Mises der Ansicht, Anarchismus sei ein noch größerer und gefährlicherer Irrtum als Sozialismus. Auch Hayek vertrat die Meinung, dass es ohne staatliche Zwangsgewalt keine Freiheit geben könne – dass aber gerade deshalb auch die Freiheit durch die Macht des Staates immer gefährdet sei und vor allem durch das Recht gesichert werden müsse.
Peronismus: Wirtschaft als Nullsummenspiel
Milei bzw. seine wirtschaftspolitischen Positionen werden oft kontrastiert mit jenen von Papst Franziskus, der ja selbst aus Argentinien stammt. Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen den beiden? Gibt es vielleicht auch Gemeinsamkeiten?
Ich denke, beide verbindet die Überzeugung, dass die Wirtschaft nicht nur einigen wenigen Privilegierten nützen darf, sondern für alle Menschen jenen Wohlstand bringen sollte, der ein Leben in Würde und Freiheit ermöglicht. Franziskus betonte bereits als Erzbischof von Buenos Aires, dass der der menschlichen Würde angemessene Weg zum Wohlstand die eigene Arbeit sei, man also den Menschen ermöglichen müsse, von ihrer eigenen Arbeit und nicht von Wohltaten des Sozialstaates oder der Nächstenliebe zu leben. Ich vermute, Milei ist damit ganz einverstanden.
Präsident Perón verteilte Wohltaten an die ihn wählende Arbeiterschaft und schröpfte Unternehmen und Reiche – er ruinierte damit sein Land. Heute sind die Peronisten in Argentinien immer noch an der Macht…
Doch damit hören die Gemeinsamkeiten wohl auf, denn Franziskus ist durch das peronistische Argentinien geprägt, also von einem Denken beeinflusst, das die Wirtschaft als eine Art Nullsummenspiel betrachtet. Das heißt als ein „Spiel“, in dem man – wie bei „Monopoly“ – nur dann dazugewinnen kann, wenn andere gleichzeitig entsprechend verlieren. Deshalb meinte im Jahre 1948 der damalige Staatspräsident Juan Perón in einer berühmten Rede vor den versammelten und ihm applaudierenden Bischöfen des Landes, er befinde sich ganz auf der Linie der katholischen Soziallehre, wenn er die Meinung vertrete, die Armen könnten nur reicher werden, wenn die Reichen ärmer werden – also durch Umverteilung. So verstehen wir besser, warum Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si’“ schrieb, um das Leben in den armen Ländern zu verbessern, bräuchte es weniger Wirtschaftswachstum oder gar eine Rezession in den reichen Ländern.
Präsident Perón verteilte Wohltaten an die ihn wählende Arbeiterschaft und schröpfte Unternehmen und Reiche – er ruinierte damit sein Land. Heute sind die Peronisten in Argentinien immer noch an der Macht, nach einigen gescheiterten Versuchen, einen neuen Kurs zu finden, haben sie durch ihre Klientelwirtschaft – deren Teil auch die mächtigen und reichen, aber jeden Strukturwandel blockierenden Gewerkschaften sind – das Land mittlerweile an den Rand des Abgrunds manövriert. Hier legt Milei den Finger auf die entscheidenden wunden Punkte. Ob allerdings seine praktischen Rezepte die richtigen sind und Erfolg haben können, steht auf einem anderen Blatt. Er wird Mehrheiten wie auch gangbare innenpolitische Wege, um die Hauptübel seines Landes zu überwinden, finden und das Vertrauen des Auslandes und von Investoren gewinnen müssen. Um das zu erreichen, genügt eine richtige Analyse nicht und eine doktrinäre Ablehnung des Staates wäre kontraproduktiv.
Libertäre, Liberale: Kritik im Namen der katholischen Soziallehre
Kritik an libertären Ansichten kommt oft unter Berufung auf die katholische Soziallehre. Sie sind eher libertär, stehen als Priester aber auch mit beiden Füßen auf dem Boden der katholischen Lehre. Wie passt beides zusammen?
Erlauben Sie mir zunächst zu präzisieren: Als „libertär“ würde ich mich selbst nie bezeichnen. In den USA, wo „liberal“ eine Haltung bezeichnet, die eine Mischung von „linksliberal“ und „sozialdemokratisch“ ist, benutzt man das Wort („libertarian“) hin und wieder, um zu bezeichnen, was in Europa „liberal“ oder besser „klassisch liberal“ heißt. Am liebsten bezeichne ich mich als katholischen Liberalen. Damit stehe ich – wie ja schon das bereits Gesagte zeigen sollte – zumindest ebenso auf dem Boden der katholischen Soziallehre wie jene, die Marktwirtschaft und Kapitalismus ablehnen.
Jemandem den Vorwurf zu machen, seine Ansichten in wirtschaftlichen oder sozialpolitischen Fragen widersprächen der katholischen Soziallehre, kommt oft einem Versuch der Einschüchterung gleich. Die Vielschichtigkeit, geschichtliche Variabilität und inneren Widersprüche dieser Lehrtradition werden einfach ausgeblendet und man pickt heraus, was einem passt. Damit bleibt nicht nur eben jene Vielschichtigkeit und Variabilität der katholischen Soziallehre unberücksichtigt; ebenso wird auch die legitime Freiheit und Pluralität innerhalb der Kirche gerade in Fragen missachtet, die nicht wesentlich zum Glauben oder zur christlichen Morallehre gehören.
Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Ich erinnere erneut an Papst Franziskus Vorschlag in der Enzyklika „Laudato si’“, in einigen Teilen der Welt eine „gewisse Rezession zu akzeptieren“, weil dies helfen könne, dass anderswo „ein gesunder Aufschwung stattfinden kann“ (Nr. 193). Ähnliches hatte schon Paul VI. 1967 in seiner Enzyklika „Populorum progressio“ vorgeschlagen, nämlich eine globale Umverteilung von den reichen zu den armen Ländern. Gekommen ist es ganz anders: Infolge der Globalisierung und von mehr Kapitalismus und Marktwirtschaft in jenen Ländern, in denen Hunderte von Millionen von Menschen der Armut entkommen sind, hat sich der Abstand zwischen „reichen“ und „armen“ Ländern dramatisch verringert, so sehr, dass man heute – wie Hans Rosling und auf andere Weise auch der Ungleichheitsforscher Branko Milanović gezeigt haben – die Welt schlicht nicht mehr in „reiche“ und „arme“ Länder aufteilen kann. Wohlstand für die Massen beruht auf einer innovativen und produktiven Wirtschaft, nicht auf Umverteilung.
Die Enzyklika „Centesimus annus“ von Johannes Paul II., veröffentlicht im Jahre 1991, wurde dann dieser Tatsache gerecht und verteidigte praktisch die gegenteilige Position von jener Pauls VI., nämlich, arme Länder könnten sich dadurch am besten entwickeln, dass sie sich in das internationale Handelssystem integrierten. Genau das ist es, so scheint mir, was Papst Franziskus nicht versteht. Für ihn sind Kapitalismus und Marktwirtschaft eine „Wirtschaft, die tötet“ (vgl. dazu meinen FAZ-Artikel aus dem Jahr 2016).
Ein anderes Beispiel: Wie ich vor zwei Jahren in einem Artikel in der Herder Korrespondenz (7/2021) gezeigt habe, enthält die Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus Aussagen über das Privateigentum, die mit der Tradition der Soziallehre der Kirche unvereinbar sind. Dafür konnte ich mich auf die erste Sozialenzyklika berufen – sie ist gleichsam das Gründungsdokument der modernen kirchlichen Soziallehre –, die unter dem Titel „Rerum novarum“ im Jahre 1891 von Leo XIII. veröffentlicht wurde. Darin orientierte sich jener Papst nachweislich an der Eigentumstheorie von John Locke, der übrigens auch für die heutigen libertären „Austrians“ in den USA als liberaler Klassiker gilt, vermutlich auch für Javier Milei.
Die katholische Soziallehre gründet auf einer positiven Sicht des Privateigentums und der produktiven menschlichen Arbeit… Das Prinzip der allgemeinen Bestimmung der Güter schränkt das Recht auf Privateigentum nicht ein: vielmehr sind das Privateigentum und sein rechtlicher Schutz gerade das Mittel, damit das Prinzip der universalen Bestimmung der Güter verwirklicht werden kann.
Locke war der Meinung – und so schrieb er es in seinem „Second Treatise on Government“ –, Gott habe die Güter dieser Welt zum Nutzen aller Menschen geschaffen. Daraus schließt er aber nicht, man müsse sie deshalb vergemeinschaften oder denen, die durch ihre Arbeit Reichtum erworben haben, etwas wegnehmen, also Eigentumsrechte einschränken, um den angeblichen Überfluss an die Ärmeren umzuverteilen. Letzteres entsprach der Ansicht antiker Stoiker, von denen sich einige Kirchenväter beeinflussen ließen. Sie werden hin und wieder in päpstlichen Dokumenten – wie in „Populorum progressio“, aber auch in „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus – als die großen Autoritäten zitiert. Vielmehr war Locke – gerade umgekehrt – der Meinung, durch die Arbeit erwerbe man einen Eigentumstitel an deren Früchten und könne dadurch noch produktiver werden, was allen zugutekomme. Genau durch diesen „kapitalistischen“ Prozess, so die Idee, können schließlich alle an den Gütern dieser Erde teilhaben. Schließlich sind ja – abgesehen von Land und Rohstoffen – diese „Güter“ nicht einfach vorhanden, sie werden vielmehr erst durch produktive Arbeit geschaffen (selbst Rohstoffe sind nicht einfach da, sondern müssen in der Regel erst durch harte Arbeit und Erfindungsgeist nutzbar gemacht werden).
Die sich später entwickelnde katholische Soziallehre gründet auf dieser positiven Sicht des Privateigentums und der produktiven menschlichen Arbeit, wenn auch, je nach Zeitgeist, nicht ohne Widersprüche und Inkonsequenzen. Das Prinzip der allgemeinen Bestimmung der Güter schränkt also das Recht auf Privateigentum nicht ein, wie es in „Fratelli tutti“ heißt; gemäß „Rerum novarum“ ist es vielmehr gerade umgekehrt: Das Privateigentum und sein rechtlicher Schutz sind gerade das Mittel, damit das Prinzip der universalen Bestimmung der Güter verwirklicht werden kann.
Stammt die „Soziale Marktwirtschaft“ aus der katholischen Soziallehre?
Wie schaut es mit der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland aus, die sich doch auch auf die katholische Soziallehre beruft?
Mit wirtschaftlicher Freiheit, Marktwirtschaft und Wettbewerb hat sich die Kirche immer etwas schwer getan. Man denke nur – ein weiteres Bespiel für die geschichtliche Variabilität der katholischen Soziallehre – an die korporatistische Konzeption von „Quadragesimo anno“ (1931), die in der Tradition des Solidarismus des Jesuiten Heinrich Pesch als wirtschaftliches Ordnungsprinzip dem marktwirtschaftlichen Wettbewerb die „soziale Gerechtigkeit“ und eine staatliche gelenkte, als solidarischer empfundene korporatistische Organisation der Gesellschaft entgegenstellte. Noch bis weit in die 1950er Jahre hinein hielt dies Vertreter der katholischen Soziallehre wie auch katholische Politiker vor allem in Deutschland – zu nennen sind hier vor allem Oswald von Nell-Breuning und der junge Anton Rauscher, beide ebenfalls Jesuiten – davon ab, sich mit dem Programm einer „sozialen Marktwirtschaft“ im Sinne Ludwig Erhards – der „sozial“ immer klein schrieb – anzufreunden.
All das zeigt, dass die katholische Soziallehre kein geschlossenes Lehrgebäude ist, sondern, sobald sie konkret wird, historisch zum Teil widersprüchliche Ansätze vertritt. Sie bleibt in jeder ihrer geschichtlichen Ausgestaltungen weitgehend von zeitgenössischen Ansichten zu Fragen der Wirtschaft und Sozialpolitik geprägt.
Erhard hatte sich zunächst mit gegenüber der Marktwirtschaft ablehnend eingestellten und planwirtschaftliche Ideen favorisierenden Christdemokraten konfrontiert gesehen und musste sich in seiner eigenen Partei gegen diese durchsetzen. Anton Rauscher – wie etwa auch Johannes Messner in Österreich – schwenkte dann Richtung Marktwirtschaft und einer positiven Sicht des Wettbewerbs um, Nell-Breuning hingegen wandte sich nach seiner Abkehr vom ständestaatlichen Modell von „Quadragesimo anno“ der SPD und den Gewerkschaften zu, blieb also seinem früheren „Antikapitalismus“ weitgehend treu. Später entstand dann – warum auch immer – die sich hartnäckig haltende Legende, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft habe seinen Ursprung in der katholischen Soziallehre, was nicht stimmt und leicht zu widerlegen ist.
Kein geschlossenes Lehrgebäude – Option für die Freiheit
All das zeigt, dass die katholische Soziallehre kein geschlossenes Lehrgebäude ist, sondern, sobald sie konkret wird, historisch zum Teil widersprüchliche Ansätze vertritt. Sie schöpft eben gerade nicht aus einem vorgegebenen Offenbarungsschatz, sondern bleibt in jeder ihrer geschichtlichen Ausgestaltungen weitgehend von zeitgenössischen Ansichten zu Fragen der Wirtschaft und Sozialpolitik geprägt. Die konkreten Erscheinungsformen der katholischen Soziallehre – nicht ihre zeitlosen Grundprinzipien – sind deshalb in allen ihren Entwicklungsstadien zeitgeistig gewesen. Gleichzeitig hat die Kirche jedoch immer betont, keine konkreten, „technischen“ Lösungen vorlegen zu wollen, denn das sei nicht ihre Aufgabe.
Meiner Meinung nach kann man deshalb einen Katholiken nicht im Namen des katholischen Glaubens darauf verpflichten, in solchen oft sehr konkreten, „technischen“, politischen und ökonomischen Fragen, die in den kirchlichen Dokumenten mit oft klaren Optionen sehr wohl zur Sprache kommen, auf sein legitimes Recht zu verzichten, eine persönliche und – immer im Rahmen der Prinzipien der katholischen Morallehre – zuweilen auch divergierende Meinung zu haben.
In diesem Sinne verstehe ich auch meine eigene Tätigkeit und die Gründung des Austrian Institute. Unsere Arbeit ist von der Überzeugung geleitet, dass die christlichen Ideale der Gerechtigkeit und Solidarität ohne das Verständnis ökonomischer Zusammenhänge nicht verwirklicht werden können. Und zweitens: Dass Marktwirtschaft und Unternehmertum, gründend auf wirtschaftlicher Freiheit und Kreativität, die entscheidenden Faktoren für Wohlstand und auch für eine Gesellschaft sind, die dem christlichen Menschenbild entspricht. Auf der Website des Institutes finden Sie einen Abschnitt „Unsere Prinzipien“ wie auch eine ganze Seite „Warum die Österreichische Schule der Nationalökonomie?“, wo Sie dies alles etwas ausführlicher nachlesen können.
Kurz: Es gibt meiner Ansicht nach verschiedene Positionen, die im Einklang mit den Prinzipien der katholischen Soziallehre stehen. Einige dieser Positionen halte ich persönlich zwar für problematisch, weil sie der Funktion freier Märkte und der kapitalistischen Produktionsweise nicht gerecht werden und dagegen zu viel vom Staat und seinen Interventionen in den Marktprozess erwarten. Aber ich würde nicht behaupten, sie widersprächen dem, was ein Katholik aufgrund seines Glaubens für richtig und wahr halten müsse. Die Achtung der Freiheit, auch der Freiheit, in solchen Dingen zu irren, wovon ja der Glaube nicht betroffen ist, erscheint mir ein viel höheres Gut zu sein.
„Sozialstaat“ heißt heute auch Überschuldung und Inflation
Der Ökonom Jan Schnellenbach sagte im Gespräch mit CNA Deutsch, Javier Milei sei „überzeugt, dass die private Initiative auch im Sozialen ausreichen kann“. Die katholische Soziallehre hingegen sehe, „dass die rein freiwillige Koordination sozialer Sicherung nicht ausreichen wird, weil jeder Einzelne dann ja doch immer wieder versuchen wird, selbst wenig zu leisten, in der Hoffnung, dass andere es schon tun werden“. Ist das eine legitimer Kritikpunkt?
Es scheint mir unzweifelhaft, dass – nicht nur in Argentinien, dort allerdings auf besonders extreme und bedauerliche Weise – unsere Staatsfinanzen immer mehr aus dem Ruder laufen. Man hat mit dem Euro ein Währungssystem geschaffen, zu dessen Dauerrettung, zusammen mit der damit verbundenen Rettung des Bankensystems, Unsummen von Geld elektronisch durch Knopfdruck aus dem Nichts geschaffen wurden und weiter geschaffen werden. Danach kam die Pandemie, dann die industriepolitischen Riesenprogramme der EU im Rahmen des „Green Deal“ der EU (ähnlich in den USA). Durch das monopolistische Papiergeldsystem, das seit 1971 von jeder Verankerung in einen Warenwert (Gold) gelöst und damit maßlos geworden ist, die damit verbundene inflationäre Geldpolitik wie auch die massive Überschuldung der öffentlichen Hand – angetrieben durch die Verführung des billigen Geldes – wurde viel real existierender Wohlstand vernichtet und Innovation und Wohlstandszuwachs verhindert.
Die hartnäckige Inflation ist nicht nur eine Folge von Energieknappheit, sondern, wie führende Ökonomen bereits lange vor Ausbruch des Ukraine-Krieges feststellten, in ihrem Kern dadurch verursacht, dass zu viel Geld auf zu wenig produzierte Güter und Dienstleistungen stößt, was die Preise in die Höhe treibt und damit die Kaufkraft des Geldes vermindert.
Und dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Man denke auch an die hartnäckige Inflation: Sie ist nicht nur eine Folge von Energieknappheit, sondern, wie führende Ökonomen bereits lange vor Ausbruch des Ukraine-Krieges feststellten, in ihrem Kern dadurch verursacht, dass – und das ist die eigentliche Inflation – zu viel Geld auf zu wenig produzierte Güter und Dienstleistungen stößt, was die Preise in die Höhe treibt und damit die Kaufkraft des Geldes vermindert. Das hängt auch mit dem Fachkräftemangel zusammen, der nun zusätzlich Löhne und Preise ansteigen lässt bzw. Produktivitätsanstiege und Innovation verhindert.
„Sozialstaat“ heißt heute auch weniger Produktivität und Wohlstandsverluste
Das billige Geld – die niedrigen, gegen Null tendierenden Zinsen – ermöglichte es in den letzten Jahren einer Unmenge von relativ unproduktiven und wenig innovativen Betrieben als sogenannte Zombies zu überleben. Das alles verhinderte eine höhere Produktivität und damit auch höhere Reallöhne für alle Einkommensschichten, mit den entsprechenden Wohlstandsgewinnen. Es führte auch dazu, dass Immobilien- und Aktienpreise – ebenfalls auf inflationäre Weise – anstiegen, was den Abstand zwischen reichen Kapitaleigentümern und wenig Vermögenden enorm vergrößert hat – zumindest in den Statistiken. „Österreichische“ Ökonomen haben immer wieder darauf und die damit verbundene Ungerechtigkeit hingewiesen, die katholischen Sozialethiker haben das Thema verschlafen.
Unsere Sozialstaatssysteme sind technisch bankrott. Die strukturelle Überschuldung ist Folge eines überbordenden Sozialstaates, der die Eigenverantwortung der Bürger ausgehöhlt und, wie wir jetzt langsam erkennen, auch die demographische Basis seines umlagefinanzierten Rentensystems untergraben hat.
Dazu kommt das Problem der strukturellen Überschuldung der Staaten infolge ihrer Verpflichtungen durch das Sozialsystem, aber auch durch implizite Staatsschulden wie etwa Pensionsansprüche, die zwar nicht als Schulden in den Bilanzen der Staaten stehen, dennoch aber zu zahlen sind – zunehmend auch aus Steuergeldern und durch Aufnahme neuer Schulden. Das bedeutet, dass in Wirklichkeit unsere Sozialstaatssysteme, in sich betrachtet, technisch bankrott sind. Die strukturelle Überschuldung ist Folge eines überbordenden Sozialstaates, der die Eigenverantwortung der Bürger ausgehöhlt und, wie wir jetzt langsam erkennen, auch die demographische Basis seines umlagefinanzierten Rentensystems untergraben hat. Man spricht noch viel zu wenig darüber, das Problem ist auch noch nicht wirklich ins öffentliche Bewusstsein gerückt.
Was ist „sozial“? – Überhörte Warnungen
Wir tanzen noch immer wie die Passagiere der Titanic, obwohl bereits das Wasser in den Schiffsrumpf eindringt – die Vertreter der christlichen Soziallehre und der Kirchen tanzen mit. Der Tanz wird so lange andauern, bis die Geldentwertung so weit fortgeschritten sein wird, dass – wie in Argentinien – das böse Erwachen beginnt. Oder aber wir treten in eine Phase der massiven finanziellen Repression mit – infolge einer sich verfestigenden Inflation – dauerhaft negativen Realzinsen, Kapitalverkehrskontrollen usw. ein, was auf die Dauer mit enormen politischen Risiken verbunden ist und auch ökonomisch seine Grenzen hat. Dass die argentinischen Bürger nun massenweise einen Mann wie Milei wählen und nicht einem Sozialpopulisten nachlaufen, zeigt eigentlich, dass sie bereits reifer sind als die Bürger der meisten europäischen Staaten, die, statt mit den ihnen zur Verfügung stehenden demokratischen Mitteln gegen eine Politik der Verantwortungslosigkeit zu rebellieren, eben immer noch tanzen.
Während Ludwig Erhard das Soziale der sozialen Marktwirtschaft noch im marktwirtschaftlichen Wettbewerb gesehen hatte, sehen wir heute das „Soziale“ vor allem in Transferleistungen und Subventionen aller Art.
Während Ludwig Erhard das Soziale der sozialen Marktwirtschaft noch im marktwirtschaftlichen Wettbewerb gesehen hatte, sehen wir heute das „Soziale“ vor allem in Transferleistungen und Subventionen aller Art. Deshalb auch wird „Sozial“ in „Soziale Marktwirtschaft“ heute groß geschrieben: Im Laufe der – letztlich bereits auf Müller-Armack zurückgehenden – Sozialdemokratisierung des Konzepts betrachtete man den „sozialen Ausgleich“ als Korrektiv und Ergänzung einer ihrem Wesen nach gerade nicht als sozial empfundenen Marktwirtschaft. Für Erhard hingegen gehörte die Eigenschaft „sozial“ zum Wesen einer echten, und das heißt eben: wettbewerblichen Marktwirtschaft.
Die Folge dieser Umdeutung ist: Die Kosten sind uns über den Kopf gewachsen, auch wenn das nicht zugegeben wird und es darüber kaum eine öffentliche Debatte gibt. Gerade in Deutschland war die Überforderung des Sozialstaates jedoch einmal ein Thema der Kirche gewesen, man denke an das vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebene Dokument ihrer Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen mit dem Titel „Das Soziale neu denken“ (2003), wo es hieß: „Keine der großen Säulen des Sozialstaats ist ohne tiefgreifende strukturelle Korrekturen zukunftsfähig. Der sozialpolitische Reformstau hat in eine Gesellschaft geführt, in der gesellschaftliche Ressourcen der Solidarität und Eigenverantwortung zusehends geschwächt werden.“ Das Dokument ist in den Schubladen verschwunden.
Man erinnere sich auch an die Worte aus der Enzyklika „Deus caritas est“ des deutschen Papstes Benedikt XVI.: „Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung. Nicht den alles regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat, der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen anerkennt und unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufsteigen und Spontaneität mit Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden.“
Scheitern des übergriffigen Sozialstaates und die Schuld der Liberalen
Hat Milei mit seiner Kritik also Recht?
Mit seiner Attacke gegen einen Sozialstaat, der wie in Argentinien die großen Massen des Mittelstandes und der Arbeiterschaft durch Transferleistungen und Subventionen von sich abhängig gemacht hat, dabei aber Arbeitslosigkeit und Inflation produziert, so dass für junge Menschen keine Zukunftsperspektive mehr besteht, scheint Javier Milei die Eiterbeule eines geradezu übergriffigen Sozialstaates samt seiner korrupten Politikerkaste aufzustechen und für die Freiheit eine Lanze zu brechen. Ein guter argentinischer Bekannter sagte mir diesbezüglich, Freiheit sei doch ein Grundanliegen der katholischen Soziallehre und zudem finde er, für Milei gälten die Worte aus der Bergpredigt: „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden …“ Milei wird vorwiegend von jungen Menschen gewählt – bei uns kann die Politik Mehrheiten nur noch mit Hilfe der Älteren und Rentner finden.
Die Idee des modernen Sozialstaates hat vieles für sich, ist aber in der gegenwärtigen Form gescheitert, und kein Katholik, der darauf hinweist, darf angeklagt werden, der kirchlichen Soziallehre zu widersprechen! Vielmehr ist darüber zu diskutieren.
Die Idee des modernen Sozialstaates hat vieles für sich, ist aber in der gegenwärtigen Form gescheitert, und kein Katholik, der darauf hinweist, darf angeklagt werden, der kirchlichen Soziallehre zu widersprechen! Vielmehr ist darüber zu diskutieren. Ein Mann wie Javier Milei stößt diese Diskussion dankenswerterweise an. Er mag zu radikal formulieren, aber etwas mehr Radikalität in solchen Fragen würde hier in Europa durchaus gut tun, um uns wieder auf das Prinzip der Subsidiarität zu besinnen, und das heißt vor allem auf die Forderung, dass gerade die Bürger – als einzelne, aber auch gemeinschaftlich organisiert – für soziale und in diesem Sinne „öffentliche“ Belange zuständig sind. Früher betätigte sich hier die Kirche an vorderster Front.
Die Liberalen des 19. Jahrhunderts haben, wo sie es konnten, der Kirche diese Aufgabe entzogen und damit leider – und das ist eine der Kehrseiten ihrer Verdienste, was übrigens auch von „Österreichischen“ Liberalen wie Hayek kritisiert wird – einen staatlichen Zentralismus gefördert, der die Kräfte der gesellschaftlichen Selbstorganisation entscheidend geschwächt hat. Das wurde auch von dem großen italienischen Liberalen Guido de Ruggiero beklagt, der in seiner „Geschichte des Liberalismus im 19. Jahrhundert“ (1925) schrieb, die katholische Kirche sei, wenn auch keineswegs aus liberaler Absicht, im 19. Jahrhundert die größte Verteidigerin der Freiheit gewesen, weil sie sich gegen die von den damaligen Liberalen besonders in traditionell katholischen Ländern geförderte, geradezu diktatorische Übermacht des Staates gewehrt und ihr Recht auf freie soziale Betätigung verteidigt habe! Und was müsste man heute sagen? Warum schweigt die Kirche zu diesen Themen?
Staatlicher Zwang oder Sozialversicherung auf freiwilliger Basis?
Grundsätzlich stimme ich freilich Jan Schnellenbachs Aussage zu, dass „die rein freiwillige Koordination sozialer Sicherung nicht ausreichen wird, weil jeder Einzelne dann ja doch immer wieder versuchen wird, selbst wenig zu leisten, in der Hoffnung, dass andere es schon tun werden“. Es gibt Versicherungen, die auf freiwilliger Basis gut funktionieren, andere aber nicht, weil es eine kritische Masse braucht und im Falle von Krankenversicherungen bei Freiwilligkeit die Gefahr einer Kumulation schlechter Risiken besteht: Junge und Gesunde haben weniger Anreiz sich zu versichern, das treibt die Kosten für die Prämien vor allem für die sozial Schwächeren, aber auch die Kosten für das soziale Absicherungsnetz generell in untragbare Höhen. Denn alle wissen, dass im Ernstfall das soziale Sicherungsnetz des Staates niemanden auf der Straße liegen lässt. Das erhöht für jene mit (subjektiv) geringen Risiken – Jungen, Gesunden – den Anreiz, sich nicht zu versichern, und damit auch die Kosten für die Gesellschaft. Sozialversicherungssysteme werden deshalb als Systeme der Zwangssolidarität betrachtet, in denen also alle mitmachen müssen, was gemäß den Ökonomen die billigste Lösung ist.
Das Problem ist, dass die Ansprüche immer weiter gestiegen sind; auch das Niveau, und die Standards der Gesundheitsversorgung wie auch die Leistungskataloge wurden ständig ausgeweitet, damit aber auch die Kosten vermehrt. Deshalb braucht es ein Umdenken.
Das Problem ist, dass die Ansprüche immer weiter gestiegen sind; auch das Niveau, und die Standards der Gesundheitsversorgung wie auch die Leistungskataloge wurden ständig ausgeweitet, damit aber auch die Kosten vermehrt. Deshalb braucht es ein Umdenken: Auch die Kosten von Systemen der Zwangssolidarität laufen mittlerweile aus dem Ruder. Ich bin gegen Extremlösungen, aber nicht gegen radikale Lösungen, solche also, die das Problem an der Wurzel erfassen. Ein Umbau wird schmerzhaft sein und einen Mentalitätswechsel verlangen, aber gerade deshalb, so fürchte ich, politisch nur sehr schwer durchsetzbar sein. Das System wird deshalb wohl früher oder später an die Wand gefahren werden.
Das hört sich nicht gut an …
Das sind tatsächlich keine guten Aussichten und deshalb finde ich, sollte man zumindest bei Leuten wie Milei hinhören. Auch wenn seine Vorschläge, wie die aller Libertären, extrem und in dieser extremen Form politisch impraktikabel sind, beruhen sie auf Einsichten und Analysen, aus denen man sehr viel lernen kann und die dem Geist der katholischen Soziallehre näher stehen, als die meisten glauben.
„Libertäre“ Klassiker der katholischen Soziallehre
Man lese etwa den Klassiker „Naturrecht und Socialpolitik“ (1893) von Georg von Hertling, der – im Anschluss an „Rerum novarum“ – für die Besserstellung der Arbeiter anstelle von Sozialpolitik für wirtschaftlich-technischen Fortschritt plädierte, oder Bischof Wilhelm Emmanuel von Kettelers Verteidigung der Freiheit des Bürgers und der Kirche gegen seiner Ansicht nach freiheitsberaubende Anmaßungen des „Steuerstaates“, die wir heute schon längst für normal und durchaus angemessen halten.
Die folgenden Aussagen Kettelers aus dem Jahre 1864 („Die Arbeiterfrage und das Christenthum“) klingen geradezu libertär: „Die staatliche Zwangsgerechtigkeit geht nur bis auf eine gewisse Grenze, die zum Schutze Aller und zur Ordnung nothwendig ist. Von da an beginnt das Gebiet der Freiheit, auch der Freiheit des Eigenthums.“ Ketteler selbst setzte sich wenig später aber auch für eine Arbeiterschutzgesetzgebung ein; sie war für ihn vereinbar mit seiner scharfen Ablehnung „der durch Majoritäten decretierten Staatshilfe“. Ebenso hielt er sich bereits 1864 nicht zurück, ein „immer weiter ausgebildetes Steuer- und Zwangssystem, an dem sämtliche Staaten fast zu Grunde gehen und bei denen freie Selbstbestimmung und Gesinnung gänzlich in den Hintergrund treten“ anzuprangern. Den Arbeitern mit Subventionen zu helfen, also Umverteilung, lehnte er ab. Das zeigt: Staatsskepsis, Verteidigung der Freiheit und des Eigentums gehören seit jeher wesentlich zur Tradition der katholischen Soziallehre – Kettelers Ansichten sollten dann auch die Enzyklika „Rerum novarum“ wesentlich prägen.
Ein Gesellschaftsvertrag als moralische Rechtfertigung für Umverteilung?
Schnellenbach sprach auch den „Gesellschaftsvertrag“ an, wodurch die Menschen dem Staat die Aufgabe übertragen, „Einkommen soweit umzuverteilen, dass jeder in unserem Land ein menschenwürdiges Leben führen kann“. Ein Gesellschaftsvertrag ist allerdings abstrakt, denn weder Sie noch ich haben je etwas derartiges unterschrieben. Es ist auch unmöglich, von dem Vertrag zurückzutreten und sich nur um sich selbst, seine Familie und seine Gemeinde zu kümmern. Wie brauchbar ist also die Idee des Gesellschaftsvertrags?
Die Begründung des Staates durch einen Gesellschaftsvertrag – der sogenannte Kontraktualismus – hat eine lange Tradition, die bis in die frühe Neuzeit zurückreicht. Thomas Hobbes, John Locke und auch, jedoch nicht in liberaler Manier, Jean Jacques Rousseau, dann jedoch wiederum auf liberale Weise Immanuel Kant und in seinem Gefolge im 20. Jahrhundert John Rawls argumentieren kontraktualistisch. Andere, wie David Hume, lehnten die Idee eines Gesellschaftsvertrags mit Spott und Hohn ab – er, so Hume, könne sich nicht erinnern, je eine solchen Vertrag unterschrieben zu haben. Gemeint war mit dem Gesellschaftsvertrag aber die Rechtfertigung für den Staat überhaupt, seine normative Grundlegung also. Kant – bei anderen ist es weniger klar – verstand den Gesellschaftsvertrag explizit als hypothetischen Vertrag, also nicht als einmal stattgefundenes historisches Ereignis, in dessen Folgen man dann ohne persönliche Zustimmung, hineingeboren wird, sondern als die Form einer moralischen Begründung für die politische Organisation der Gesellschaft in einem Staatswesen, mit einer Regierung und einem Recht, das im Rahmen eines staatlichen Gewaltmonopols mit Polizeigewalt durchgesetzt wird.
Der Gesellschaftsvertrag ist damit etwas, dem alle Angehörigen eines Staatswesens, sofern sie sich als rationale und moralische Subjekte begreifen, notwendig zustimmen müssen, weil ohne einen solchen Staat Sicherung von Freiheit, Leben und Eigentum, von Wohlstand und Zusammenleben der Menschen in Frieden und gemäß der Gerechtigkeit nicht möglich wäre.
„Gesellschaftsvertrag“ ist also die aller legitimen politischen Realisierung zugrundeliegende moralische Rechtfertigung politischer Herrschaft von Menschen über andere Menschen. Der Gesellschaftsvertrag ist damit etwas, dem alle Angehörigen eines Staatswesens, sofern sie sich als rationale und moralische Subjekte begreifen, notwendig zustimmen müssen, weil ohne einen solchen Staat Sicherung von Freiheit, Leben und Eigentum, von Wohlstand und Zusammenleben der Menschen in Frieden und gemäß der Gerechtigkeit nicht möglich wäre, unter dieser Voraussetzung die Ablehnung der Staatsgewalt folglich unmoralisch ist. Damit ist auch Humes Einwand entkräftet bzw. gegenstandslos, denn geboren werden wir ja als moralische bzw. der Moral fähige und entsprechend verpflichtete Subjekte.
Das meint ja auch Jan Schnellenbach, wenn er von einem Gesellschaftsvertrag spricht, „der als rationale, gemeinsame Entscheidung der Einzelnen rekonstruiert werden kann“. Und er wirft Milei – und generell den Anarchokapitalisten – zu Recht vor, eine solche Begründung gar nicht in Betracht zu ziehen, vielleicht gar nicht zu kennen.
Gefahren des demokratischen Gesellschaftsvertrags: „Diktatur der Mehrheit“
Überträgt man jedoch diese aus der Begründung politischer Herrschaft stammende Denkfigur auf die Sozialpolitik, könnte man dann, salopp gesagt, zum Schluss kommen: Ein anständiger Mensch kann doch nichts gegen sozialstaatliche Umverteilung haben! Das Problem ist: Während wir – sofern wir nicht Anarchisten sind – kontraktualistischen Rechtfertigungen der politischen Gewalt und Herrschaft relativ leicht zustimmen, fällt uns das bei einer konkreten politischen oder sozialpolitischen Agenda weniger leicht. Hier wollen wir zusätzliche Argumente für die Angemessenheit, Notwendigkeit und Gerechtigkeit wie auch für die Effizienz entsprechender Maßnahmen – und für deren Grenzen.
Das heißt wir wollen Argumente dafür, dass solche Maßnahmen nicht Rechte einzelner Menschen verletzen – zum Beispiel Freiheits- oder Eigentumsrechte. Würden wir das nicht, würden wir in einem reinen Sozialutilitarismus landen, der alles für gerecht hält, was für das „Wohl der Gesamtheit“ oder das „größte Glück der größten Zahl“ nützlich ist – und könnten das dann als angeblichen Gesellschaftsvertrag absegnen.
Es kann leicht zu einer Diktatur der Mehrheit über eine Minderheit kommen – die Minderheit ist in der Regel so ungefähr das reichste Drittel der Gesellschaft. In den modernen demokratischen „Zweidrittelgesellschaften“ wird also auch Sozialpolitik letztlich von der Interessen einer Mehrheit diktiert, die dann letztlich definiert, worin der „Gesellschaftsvertrag“ besteht.
Es scheint mir deshalb unzureichend, sich im sozialpolitischen Zusammenhang allein auf die Figur eines Gesellschaftsvertrags zu berufen, ohne dessen Inhalt und moralische Normativität wie auch seine Grenzen argumentativ zu rechtfertigen. Gerade in einer Demokratie kann die Berufung auf einen angeblich existierenden Gesellschaftsvertrag problematisch sein. Warum das so ist, darauf haben bereits im 19. Jahrhundert Alexis de Tocqueville in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ und im 20. Jahrhundert dann wiederum Friedrich A. von Hayek im dritten Teil seiner Trilogie „Recht, Gesetz und Freiheit“ hingewiesen – und das ist nun eben gerade ein Thema der Liberalen.
Es kann nämlich leicht zu einer Diktatur der Mehrheit über eine Minderheit kommen – die Minderheit ist in der Regel so ungefähr das reichste Drittel der Gesellschaft. In den modernen demokratischen „Zweidrittelgesellschaften“ wird also auch Sozialpolitik letztlich von der Interessen einer Mehrheit diktiert, die dann letztlich definiert, worin der „Gesellschaftsvertrag“ besteht.
Grenzen: Liberale Grundrechte des Individuums und Minderheitenschutz
Aber mit einem Gesellschaftsvertrag hat diese Logik einer Zweidrittelgesellschaft, wie sie von Soziologen genannt wird, dann eben nichts mehr zu tun. Allerdings hat auch das oberste Drittel der Gesellschaft – die Minderheit – längst eingesehen, dass im Interesse des Friedens, der sozialen Akzeptanz von Reichtum und des gesellschaftlichen Zusammenhalts es auch in ihrem Vorteil ist, sich diesem Diktat der Mehrheit zu fügen. Aber mit einem „Vertrag“ hat das wenig gemein, oder besser: die Interpretation dieses Vertrags ist und bleibt das Diktat einer Mehrheitsentscheidung. Genau deshalb, weil dies unvermeidlich ist – es gibt letztlich keine bessere Alternative zu demokratischen Mehrheitsentscheidungen –, ist von entscheidender Wichtigkeit, dass eine Demokratie auch den Schutz der Minderheitsrechte und vor allem der Grundrechte des Individuums kennt, dass also angeblich auf einem Gesellschaftsvertrag beruhende politische Eingriffe durch grundrechtliche Barrieren vor staatlichen Interventionen verunmöglicht werden.
Und dann wird manches – bei weitem nicht alles –, was die Mehrheit beschließt, plötzlich fragwürdig – zum Beispiel aufgrund von Eigentumsrechten und vor allem unter Berücksichtigung der individuellen Freiheit. Kurz: Mit der Berufung auf einen Gesellschaftsvertrag allein lässt sich gegen Diktate demokratischer Mehrheiten nicht mehr argumentieren. Das scheint ja auch Herr Schnellenbach anzuerkennen, wenn er von Grenzen dieses Gesellschaftsvertrags spricht – und dies explizit gerichtet gegen „Sozialisten, die die Grenzen dieses Gesellschaftsvertragsargumentes nicht sehen und ein viel zu großes Maß an Umverteilung fordern“.
Durch Anspruchsdenken und Populismus der Linken – „Sozialpopulismus“ könnte man ihn nennen – ist die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates überdehnt worden. Ge-fragt wäre es, sich heute vermehrt durch jene Prinzipien leiten zu lassen, die dem eigentlichen Gesellschaftsvertrag zugrunde liegen, also der moralischen Rechtfertigung des Staates als solchem.
Was dieses „Diktat der Mehrheit“ betrifft, haben sich nun eben – und zwar aufgrund sozialistischer Ideen – die Grenzen des als legitim Erachteten in den meisten Ländern bereits stark verschoben. Durch Anspruchsdenken und Populismus der Linken – „Sozialpopulismus“ könnte man ihn nennen – ist die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates überdehnt worden. Gefragt wäre es, sich heute vermehrt durch jene Prinzipien leiten zu lassen, die dem eigentlichen Gesellschaftsvertrag zugrunde liegen, also der moralischen Rechtfertigung des Staates als solchem. Und da sieht es dann schnell anders aus, denn wir müssen nun rechtfertigen, warum es – mit den Worten von Herrn Schnellenbach – überhaupt eine Aufgabe des Staates, ja eine Forderung der Gerechtigkeit sein sollte, „Einkommen soweit umzuverteilen, dass jeder in unserem Land ein menschenwürdiges Leben führen kann“.
Menschenwürde: Auf eigenen Füßen stehen und nicht auf Kosten anderer leben
Was bedeutet denn dann ein „menschenwürdiges Leben“?
Ein menschenwürdiges Leben besteht meiner Meinung nach fundamental nicht darin, einen bestimmten Anteil an Ressourcen – ein Einkommen oder Vermögen in einer bestimmten Höhe – zu besitzen (oder zugeteilt zu bekommen), sondern schlicht und einfach in der Möglichkeit, sich aus eigener Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen zu können und daran weder von anderen Menschen noch durch den Staat gehindert zu werden. Der Staat bzw. die Gesetze haben also zunächst einmal die Aufgabe, die Bedingungen sicherzustellen, dass jeder sich seinen Lebensunterhalt mit seiner eigenen Arbeit verdienen kann. Menschenwürde bemisst sich also nicht nach der Höhe des Einkommens oder Vermögens, sondern daran, ob man auf eigenen Füßen zu stehen vermag und nicht auf Kosten der anderen zu leben braucht (so sah es auch Ludwig Erhard, der schon in den 1960er Jahren den „sozialen Untertan“ kritisierte, der seine Hand ständig „in der Tasche des Nachbarn hat“).
Wichtiger als Umverteilung ist rechtliche Sicherung und die Nichtbehinderung der bürgerlichen und unternehmerischen Freiheit durch Schranken aller Art sowie mehr Vertrauen in das Koordinationssystem des Marktes und zivilgesellschaftlicher Solidaritätsnetze, die nicht gemäß der Logik des marktwirtschaftlichen Preissystems funktionieren.
Ein menschwürdiges Leben bemisst sich auch daran, die Möglichkeit zu haben, das eigene Leben zu verbessern und nicht durch rechtliche und bürokratische Schranken oder gar durch Diskriminierung daran gehindert zu werden. Gleichzeitig sollten auch die Bürger eines Staates nicht daran gehindert werden, durch ihre eigenen Initiativen Bedürftigen zu helfen und z. B. die Bildungschancen der weniger Begüterten zu verbessern. Man sollte sich einmal überlegen, wie viel in dieser Hinsicht der Sozialstaat gerade nicht tut, vielmehr infolge von Umverteilung und hoher Steuerbelastung der höheren Einkommen gerade verhindert!
Wichtiger als Umverteilung ist also rechtliche Sicherung und die Nichtbehinderung der bürgerlichen und unternehmerischen Freiheit durch Schranken aller Art sowie mehr Vertrauen in das Koordinationssystem des Marktes und zivilgesellschaftlicher Solidaritätsnetze, die nicht gemäß der Logik des marktwirtschaftlichen Preissystems funktionieren. Dabei werden nicht alle Menschen das gleiche Bildungs- und Wohlstandsniveau erreichen. Das kann aber auch nicht Ziel des Staates und der Politik sein, auch wenn diese subsidiär eingreifen können, z. B. durch die vor allem rechtliche Förderung eines Stipendienwesens. Dieses kann aber durchaus auch privat finanziert werden, der entsprechende Zuteilungsmechanismus sollten überdies auf klaren Leistungskriterien beruhen.
Aufgaben des Staates. Gefahren der Politik, der Markt als Problemlöser
Staaten haben vor allem andere Aufgaben: Sie müssen das Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit, nach Maßstäben der Gerechtigkeit und des Rechts gewährleisten und Sicherheit im Innern und nach außen bieten. Der Staat als Versorgungsanstalt im Sinne einer Familie, die jedem nach seinen Bedürfnissen zuteilt, ist ganz sicher nicht die Vorstellung der katholischen Soziallehre. Dass es ein soziales Sicherheitsnetz für Bedürftige gibt, aber auch eine gesetzlich verankerte kollektive Absicherung gegen die wichtigsten Risiken des Lebens wie Krankheit, Unfall und Altersarmut, ist in einer Industriegesellschaft, in der die sozialen Sicherheitsnetze der früheren Großfamilie, feudalistischer Schutzverpflichtungen und des Zunft- und Gildenwesens nicht mehr existieren, also jedes Individuum auf sich gestellt ist, wohl unbestritten. Es bedurfte der Zeit, damit auch unter Liberalen diese Einsicht zum Durchbruch kam. Solche Sicherheitsnetze haben aber nichts mit staatlicher Fürsorge oder Umverteilung zu tun. Sie bestehen vielmehr in der Anwendung des Versicherungsprinzips. Zu überdenken und zur Diskussion zu stellen wäre auch das Umlagesystem in der Altersvorsorge, das schon längst zu einem Umverteilungssystem geworden ist, in diesem Fall von den Jungen zu den Alten, was extrem ungerecht ist wie vieles andere auch, was heute unter dem Namen „Sozialstaat“ läuft und angeblich durch einen Gesellschaftsvertrag abgedeckt ist. Auch hier schweigt sich bisher die neuere katholische Soziallehre weitgehend aus.
Was ist zu tun?
Gerade aus Sicht der katholischen Soziallehre wäre einiges nachzuholen und zu korrigieren, was Leute wie Javier Milei in verdienstlicher Weise ansprechen. Der Soziallehre ihrerseits würde es gut tun, von der gesunden liberalen Skepsis gegenüber dem Staat und der staatlichen Lösung und seinem Verständnis für marktwirtschaftliche Ansätze zu lernen. Wenn sie davon spricht, der Staat sei für das Gemeinwohl zuständig, sollte sie nachfragen, was mit „Gemeinwohl“ im konkreten Fall gemeint ist. Oft wird man merken, dass damit lediglich bestimmte Gruppeninteressen artikuliert werden, die sich mit der Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ äußern und für Politiker Gelegenheiten sind, mit dem Geld des Steuerzahlers für die nächsten Wahlen zu punkten. Man kann „Gemeinwohl“ also in völlig verschiedener Weise verstehen – doch mit Leerformeln ist uns nicht gedient.
Der freie Markt kann mehr Probleme lösen, als man ihm auch in ökonomischen Fachkreisen oft zugestehen will. Die Politik wiederum ist daran interessiert, schnellstmöglich ein „Marktversagen“ zu diagnostizieren, um sich für zuständig zu erklären, Probleme zu lösen, die sie nicht lösen sollte noch lösen kann.
Schließlich: Der Staat ist kein Übel, wie Milei und generell die Anarchokapitalisten behaupten – auch wenn er natürlich, wie jede Machtstruktur, zum Übel werden und Menschen korrumpieren kann –, sondern unerlässlich für die Existenz und Durchsetzbarkeit einer freiheitlichen Rechtsordnung. Ohne Staat gibt es auch kein gesichertes Eigentum – so mindestens lehrt es die historische Erfahrung und sagt es uns auch die Vernunft. Zudem, wie Herr Schnellenbach richtig betont, ist der Staat auch eine Instanz, die hilft, Koordinationsprobleme zu lösen, die der freie Markt nicht zu lösen vermag.
Allerdings ist hier Vorsicht geboten: Der freie Markt kann mehr Probleme lösen, als man ihm auch in ökonomischen Fachkreisen oft zugestehen will. Die Politik wiederum ist daran interessiert, schnellstmöglich ein „Marktversagen“ zu diagnostizieren, um sich für zuständig zu erklären, Probleme zu lösen, die sie nicht lösen sollte noch lösen kann. Und nicht zu vergessen ist: Fehler des Marktes sind dezentraler Natur und werden in der Regel vom Markt selbst korrigiert. Fehler der Politik hingegen wirken sich flächendeckend und langfristig aus und sind praktisch unkorrigierbar. Ein einziges Staatsversagen hat also unsäglich viel schlimmere Auswirkungen als dieses oder jenes einzelne Marktversagen.
Das allgemeine Interesse und die Interessen der Politiker
Ein Politiker, der sich nicht als Problemlöser präsentiert, wird jedoch nicht wiedergewählt. Politiker haben nicht immer das allgemeine Interesse im Blick; wie die Public-Choice-Theorie zeigt, verfolgen sie immer auch ihre eigenen, oft sehr menschlichen Interessen. Leider sind deshalb sehr viele Probleme, die Politiker zu lösen versuchen, von der Politik selbst verursacht.
Das gilt für die Finanzkrise von 2008, aber – um es zu wiederholen – auch für die Eurokrise, die damit verbundene Bankenkrise, kostspielige industriepolitische Verirrungen, die unverantwortliche Politik des billigen Geldes der letzten drei Jahrzehnte, die damit einhergehende exorbitante Staatsverschuldung sowie die durch all das erzeugte Inflation – und natürlich Kriege aller Art. Erst wenn die Politik demütiger wird und der Staat sich wieder auf seine eigentlichen Aufgaben besinnt, können wir meiner Meinung nach wieder sinnvoll von einem Gesellschaftsvertrag als normative Größe – mit dann aber klar definierten Grenzen – sprechen.
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