Wie die Nullzins-Politik unser Leben verändert

Den „natürlichen Zins“ kann niemand errechnen, auch nicht die Zentralbank. Über seine Höhe lässt sich dennoch eines mit Sicherheit sagen: Sie wird niemals null betragen.

Dass wir in Europa seit der Euro-Rettung mit dem Nullzins leben, kann somit niemals Ausdruck der natürlichen Präferenzen der Menschen sein. Dass der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) einen solchen Zinssatz festgelegt hat, bedeutet somit vor allem eines: Es  herrscht eine Diskrepanz zwischen einer staatlichen Intervention und den Einstellungen der Menschen. Bereits der Schöpfer des Begriffs des „natürlichen Zinses“, der schwedische Ökonom Knut Wicksell (1851-1926), warnte vor Gleichgewichtsstörungen, die eintreten, sobald der herrschende Geldzins vom natürlichen Zins abweicht.

Staatliche Interventionen – vor allem, wenn sie den Einstellungen und Präferenzen der Menschen widersprechen – sind schädlich. So ist es auch beim Zins. Um dies zu veranschaulichen, hilft es, ein Bild zu verwenden, auf das sich die Autoren des neuen und lesenswerten Buchs „Die Nullzinsfalle“ stützen. Hierfür muss man freilich etwas weiter ausholen:

Der Kapitalismus basiert nicht auf Altruismus. Deshalb ist er vielen Menschen suspekt, obwohl er Massen wie nie zuvor aus der Armut befreit hat. Zweifelhaft ist freilich, ob eine auf Altruismus fußende Gesellschaft überhaupt funktionieren könnte: Jeder verausgabt sich aus freien Stücken für den Anderen, weshalb niemand mehr Not leiden muss – aufs Erste klingt das paradiesisch. Ein Wirtschaftsleben, wie wir es kennen, würde nicht entstehen, denn Produzenten würden ihre Waren herschenken, statt sie zu verkaufen. Die nötigen Produktionsgüter würden sie ihrerseits unentgeltlich erhalten, und natürlich auch alle Konsumgüter, denn von irgendetwas muss man ja leben. Der Markt, dessen Funktion es ist, die Preise zu bestimmen, wie Ludwig von Mises unterstreicht, wäre überflüssig. Unser Wirtschaftsleben, das auf Kalkulation basiert, gäbe es nicht.

Doch das alles ist nur ein Hirngespinst. Alle Versuche, auf Erden ein Paradies von Altruisten zu errichten, sind kläglich gescheitert. Nur wer kurzsichtig ist, kann ernsthaft glauben, in einer Gesellschaft, in der beispielsweise alle Brote gratis verschenkt werden, würde für alle das Problem des Hungerleidens dauerhaft gelöst. Das Gegenteil wäre der Fall. Bäcker werden nämlich ihre Brote nur dann gratis verschenken, wenn sie der Staat dazu zwingt. Solche Gratis-Brote wären nicht Ausdruck der aufopfernden Haltung der Bäcker, sondern vielmehr Folge der Zwangsgewalt des Staates. Das Ergebnis wäre nicht das Paradies, in dem alle dank der sich verausgabenden Bäcker genug zu essen hätten, sondern das Ende der Herstellung von Broten. Bald würde es weder Brot, noch Bäcker geben.

 

Der Nullzins – Ausdruck höchster „Tugendhaftigkeit“?

Ähnlich – so argumentiert das Autoren-Trio der „Nullzinsfalle“ – verhält es sich mit dem Nullzins. Gesetzt den Fall er wäre Ausdruck der geänderten Präferenzen der Menschen, so würde das sicherlich auf eine ganz besondere „Tugendhaftigkeit“ der Bevölkerung schließen lassen. Im zwischenmenschlichen Bereich würde ein Nullzins von selbstloser Nächstenliebe zeugen: „Wenn es zum Selbstzweck wird, anderen Menschen unsere Ersparnisse zur Verfügung zu stellen, dann würden wir dies auch ohne Zinsforderung tun“, argumentieren Ronald Stöferle, Rahim Taghizadegan und Gregor Hochreiter. Verbunden wäre so ein Zins wohl auch mit „maximaler Zuversicht in die günstige Entwicklung der Zukunft“. Er könnte auch „Ausdruck einer extrem niedrigen Zeitpräferenz sein. Dies wäre denkbar, wenn die Menschen sich so sehr auf ein ewiges Leben ausrichten, dass sie kein Problem damit hätten, auf Konsum zugunsten einer Anlage mit längster Laufzeit zu verzichten.“

Freilich: Selbst im Mittelalter, als Menschen auf Konsum für den mehrere Generationen umfassenden Bau von Kathedralen zu verzichten bereit waren, lag der Zins nicht bei null. So niedrig kann die Zeitpräferenz gar nicht sein, als dass ein Nullzins entstehen könnte. Ein Nullzins bedeutet das Ende des Zinses, doch das ist widersinnig. Der Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk (1851-1914) konnte den Zins über die Zeitpräferenz erklären. Seine Schüler und Nachfolger wiesen nach, dass eine solche Erklärung psychologischer Begründungen, die bei Böhm-Bawerk noch anzutreffen waren, nicht bedarf. Wer Geld bereitstellt, verzichtet auf ein gegenwärtiges Gut zugunsten eines zukünftigen. Das ist mit Verzicht und Risiken verbunden. Der Zins ist daher auch aus christlichen Gründen gerechtfertigt, wie Theologen im Mittelalter aufzeigten, die die wohlstandsschaffende Funktion des Geldes, wenn es zu Kapital wird, entdeckten.

Zurück zur Gegenwart: Der Nullzins, an dem der Rat der EZB bei seiner jüngsten Sitzung am 25. Juli unverändert festgehalten hat (der Hauptrefinanzierungszins beträgt 0,0 Prozent, der Einlagenzins liegt bei -0,40 Prozent), spiegelt nicht eine veränderte Einstellung der Menschen wider. Und: „Interventionen, die keine Einstellungsänderung auslösen, laufen ihren Intentionen entgegen – die Folgen sind oft paradox“, wie das Buch festhält.

 

Aus Kapitalismus wird Konsumismus

Der Mittel- und Hauptteil von „Die Nullzinsfalle“ (mehr als 100 von rund 260 Seiten) befasst sich mit den „gesellschaftlichen Folgen der Nullzinspolitik“. Zwar sind diese weniger klar als die wirtschaftlichen, wie die Autoren zugeben, dafür aber auch „gewichtiger und tiefgreifender“. Hier liegt der genuine, originelle und teils Augen öffnende Beitrag des Buchs.

Besonderes Gewicht geben die Autoren etwa einer neu entstehenden Kultur der Kurzfristigkeit, was einer hohen Zeitpräferenz entspricht: „Die künstlich gedrückten Zinsen ermutigen zu exzessivem Gegenwartskonsum. Dadurch findet ein sukzessiver Kapitalverzehr statt, was bedeutet, dass die fetten Jahre, die wir gerade erleben, zulasten der Zukunft gehen.“ Geringere Kapitalbildung und auf Dauer geringerer materieller Wohlstand sind die Folgen. Verbunden ist dies mit einer wachsenden Konsumzwanghaftigkeit.

Warum das so ist? Der Nullzins macht Geldschöpfung und damit „den vorübergehenden Eindruck von Wohlstandsmehrung möglich, ohne dass dafür in der Gegenwart die Beschränkung der Ersparnisbildung nötig ist.“ Und: „Jede Konsumausweitung, die nicht durch gestiegene Produktivität oder Nutzung von Ersparnissen geschieht, bedeutet eine Veränderung des Gewichts der Konsumentengruppen zu den weniger Produktiven und weniger Sparsamen. Diese Veränderung führt zu einer veränderten Kundenansprache durch die Unternehmen. Es wird immer lukrativer, den ‚Affektkonsum‘ zu bedienen.“ Aus dem Kapitalismus wird Konsumismus: „Nullzins bedeutet, dass Konsum nicht auf Produktion folgt, sondern Produktion auf Konsum: Wenn das Spätere dem Gegenwärtigen materiell gleichwertig ist, zieht jeder das Gegenwärtige vor.“

Die Beispiele für Konsumismus, die von den Autoren als Folge des Nullzinses angeführt werden – vom  „Hoverboard“ über „Amazon-Buttons“ – lassen gewisse Fragen offen. Konsumismus gibt es wohl auch in einer Welt hoher Zinsen, und dasselbe gilt für Produkte, die für Konsumismus charakteristisch sind. Allerdings halten die Autoren auch fest, dass solche Phänomene selbstverständlich nicht nur monokausal erklärt werden können. Bedenkenswert ist auf jeden Fall: „Wenn die Sparsamten die besten Zahler wären, würden Unternehmen und Werbung gewiss anders fokussieren, als das bei einem Nullzins der Fall ist.“ Das geht zulasten künftiger Generationen: „Nullzins bedeutet Konsumismus – und dieser könnte sich letztlich selbst verzehren. Was, wenn heutiger Konsum nicht mehr durch spätere Produktivität gedeckt werden kann?“

Die Konsequenzen der Nullzinspolitik sind nicht so offensichtlich, wie der Brotmangel durch das verordnete Gratis-Brot. Der Grund dafür ist ebenso heimtückisch wie weitreichend: „Der Nachfrageüberhang wird durch Kreditschöpfung gedeckt. Die geschaffenen Guthaben haben tatsächlich Kaufkraft, sind von den älteren Guthaben durch nichts zu unterscheiden.“

Seit die Nullzinsfalle zugeschnappt hat, kommen die Zentralbanken aus ihr nicht mehr hinaus. Das Buch „Die Nullzinsfalle. Wie die Wirtschaft zombifiziert und die Gesellschaft gespalten wird“ zeigt auf, wie die Zentralbanken in die Nullzinsfalle geraten sind, welche gesellschaftlichen Folgen sie nach sich zieht, wie Vermögensaufbau trotz Nullzinsfalle funktionieren kann und welche verschiedenen, allesamt unattraktiven Wege es aus der Nullzinsfalle gibt.

Die drei Autoren stützen sich in ihrer Analyse auf die Österreichische Schule der Nationalökonomie. Rahim Taghizadegan ist Wirtschaftsphilosoph und Rektor des „scholarium“ in Wien. Ronald Stöferle ist Partner der Anlage- und Vermögensverwaltungsgesellschaft Incrementum AG und bringt jedes Jahr die „In GOLD we TRUST“-Studie heraus. Gregor Hochreiter ist selbständiger Ökonom mit Sitz in Wien.

Manche der von den Autoren genannten Folgen sind bereits an anderer Stelle beschrieben worden. Das Buch gelingt es aber, diese Konsequenzen anschaulich und nachvollziehbar darzustellen. So nehmen niedrige Zinsen etwa Politikern den Reformdruck. Statt längst überfällige Reformen einzuleiten wurden in den vergangenen Jahren neue Schulden aufgenommen. Bei höheren Zinsen, wie wir sie vor der Krise von 2008 noch hatten, wäre die heutige Schuldenlast in sämtlichen Ländern schon längst untragbar geworden. Höhere Zinsen hätten daher in den vergangenen Jahren tiefgreifende und dringend nötige Reformen erzwungen. Die Politik hat sich mit ihrer fortgesetzten Verschuldung hingegen von der Nullzinspolitik abhängig gemacht.

Aufgrund der weltweit niedrigen Zinsen entsteht auch eine wachsende Abhängigkeit weiterer Notenbanken. Länder wie die Schweiz passen ihre Geldpolitik dem allgemeinen Trend an, da sie andernfalls eine deutliche Aufwertung ihrer Währung fürchten müssten, was kurzfristig massive Folgen für ihre eigene Exportwirtschaft hätte.

 

Unproduktive Unternehmen werden belohnt, produktive und kleine dafür bestraft

Leidtragende sind auch kleine Unternehmen, an die Banken immer seltener Produktivkredite vergeben. Profiteure sind hingegen unproduktive und überschuldete Unternehmen, die künstlich am Leben erhalten werden. Den produktiven Unternehmern werden die Ressourcen entzogen.

Eine bereinigende Krise fürchten die Notenbanken: Nicht nur wären die Folgen angesichts hochverschuldeter Staaten und zahlloser unproduktiver Unternehmen besonders dramatisch, auch des gängigen Mittels zur Bekämpfung des Abschwungs – der Zinssenkung – können sie sich bei Nullzinsen nicht mehr bedienen. Die Autoren sind sich aber sicher: „Der nächste Abschwung kommt bestimmt“.

Gesellschaftliche Spannungen wachsen ebenso, denn „Vermögende, die über Material zur Veranlagung verfügen und besonders kreditwürdig sind“, profitieren von der Nullzinspolitik, während es für wenig Begüterte zunehmend schwerer wird, Vermögen aufzubauen.

Lob verdient das Buch auch für die ersten beiden Kapitel, die nicht nur den Weg in die Nullzinsfalle gelungen nachzeichnen, sondern darüber hinaus die Funktionsweise unseres Geld- und Bankensystems in seinen Grundzügen gut erklären; an dieser Aufgabe sind schon mehrere Ökonomielehrbücher gescheitert. Die letzten beiden Kapitel listen die Möglichkeiten des Vermögensaufbaus bei Nullzinsen auf und besprechen kurz die verschiedenen, allesamt beschwerlichen Wege aus der Nullzinsfalle.

Auch wenn nicht alle Schlussfolgerungen der Autoren gleich überzeugend und gut begründet sind, bietet das Buch einen sehr gelungenen und weiten Überblick über ein hochaktuelles Thema, das unser Leben weit mehr bestimmt, als den meisten Menschen bewusst ist. „Die Nullzinsfalle“ veranschaulicht, was auch Thomas Mayer, Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute und ehemaliger Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe, unterstreicht: Um zu verstehen, was in den vergangenen Jahrzehnten geschehen ist, muss man vor allem den Zusammenhang zwischen Gesellschafts- und Geldordnung erfassen.

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