Christliche Sozialethik und Kapitalismus: Ein Widerspruch? (Vortrag bei den Millstätter Wirtschaftsgesprächen 2017)

Das 19. Jahrhundert ist für viele Menschen der Inbegriff einer Zeit des Raubtierkapitalismus, wie er sich auch heute wieder zu zeigen scheint. Er beutete angeblich die Arbeiter aus und schuf zunehmende soziale Ungleichheit. Einige hätten profitiert, die Mehrheit sei deshalb verarmt. Nur durch sozialpolitische Eingriffe des Staates konnte schließlich – gemäß dieser Erzählung – diesem Prozess gegengesteuert werden. Das sei auch heute noch so, auch heute müsse der Staat dafür sorgen, dass eine Gesellschaft entsteht, in der soziale Gerechtigkeit sprich: weniger Ungleichheit herrscht. Woher stammt dieser Antikapitalismus sowie das Misstrauen gegenüber Kapitalismus und freier Marktwirtschaft? Warum übersehen so viele Menschen, dass gerade sie unseren heutigen Wohlstand erzeugt haben? Warum sind gerade christliche Sozialethiker oft blind gegenüber der wohlstandschaffenden Wirksamkeit der kapitalistischen Marktwirtschaft, obwohl die geistigen Grundlagen des modernen Kapitalismus gerade der christlichen Tradition entspringen?

Der nachfolgende Text entspricht dem Wortlaut eines Vortrags des Autors an den Millstätter Wirtschaftsgesprächen 2017 zum Schwerpunktthema „Wirtschaft , Kultur & Religion“. Der Vortragstext wurde in dem vom echomedia Buchverlag, Wien, edierten Tagungsband Wirtschaft, Kultur & Religion – Millstätter Wirtschaftsgespräche: Über die nicht-ökonomischen Grundlagen unserer Wirtschaft“ veröffentlicht. Der Band auf amazon.de oder über den normalen Buchhandel bezogen werden. Hier können Sie den Originalbeitrag auch als PDF herunterladen.

 

Theologen für den Kapitalismus: Die ältere Tradition christlicher Wirtschaftsethik

Die Geschichte der Katholischen Sozialethik, die sich mit der Zeit zu einem Corpus kirchlicher Soziallehre entwickelt hat, beginnt bei den Kirchenvätern und den Philosophen und Theologen des Hochmittelalters, die sich oft detailliert zu wirtschaftlichen Fragen äußerten. Wichtig unter ihnen sind vor allem Petrus Olivi, der hl. Bernhardin von Siena und Nikolaus von Oresme – alle drei gehörten dem Franziskanerorden an.

In der Tat waren es Franziskaner, die als erste nicht nur den Zusammenhang von Kapital und Zins verstanden und verteidigten, sondern mit Hilfe wohltätiger Spenden Banken gründeten, die sogenannten montes pietatis („Berge der Barmherzigkeit“), um armen Menschen Geld auszuleihen – natürlich gegen Zins, sonst wäre das Geschäft nicht nachhaltig gewesen. Das christliche Mittelalter vermochte auf reinen Gelderwerb ausgerichtete unproduktive Arten des Geldgeschäftes gut von solchen, die einen allgemeinen Nutzen stiften, zu unterscheiden und verteufelte auch nicht das Gewinnstreben. Flandrische Kaufmannsverträge wurden zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts mit der Formel „Für Gott und den Profit“ eröffnet, eine Formel, die sich bereits im Jahre 1253 in florentinischen Bankbüchern findet.

An der Schwelle zur Neuzeit und als Höhepunkt moraltheologischer Beschäftigung mit Fragen der Wirtschaftsethik findet sich die spanische Spätscholastik des 16. Jahrhunderts mit der Schule von Salamanca und ihren erstaunlich modernen und richtigen Einsichten in die Natur der wirtschaftlichen Tätigkeit und der Geldtheorie, die Funktion des Privateigentums, die Preisbildung, die Frage des gerechten Preises und des gerechten Lohnes, angemessener Staatsausgaben und der gerechten Besteuerung. Die meisten dieser Moraltheologen waren Jesuiten – heute fast unbekannte, aber bis hin zu Adam Smith einflussreiche und heute noch aktuelle Pioniere des ökonomischen Sachverstandes. Die katholische Sozialethik hat sie weitgehend vergessen.

Ursprünge des Antikapitalismus

Als Jahrhunderte später Kapital und Kredit mit der industriellen Revolution ganz neue Dimensionen annahmen, entstanden zunächst auch im Bereich kirchlichen Nachdenkens über Gerechtigkeit ganz neue Fragen, vor allem die sogenannte soziale Frage. Damals formte sich allmählich unter vielen Intellektuellen, aber auch im katholischen Klerus eine antikapitalistische Mentalität.

Der kirchlich-klerikale Antikapitalismus war spezifisch modernen Ursprungs. Zu seinen Ursachen gehörte die Erfahrung der sozialen Entwurzelung einer zunehmenden Zahl von Menschen infolge der Bauernbefreiung und der Einführung der Gewerbefreiheit; sowie das oft schockierende Arbeiterelend, das damals mit keinem politischen Mittel aus der Welt zu schaffen war und durch oftmalige Hartherzigkeit und Rücksichtslosigkeit von Fabrikbesitzern besonders zum Stein des Anstoßes wurde.

Martin Rhonheimer: „Der Kapitalismus ist die Wirtschaftsform des Gebens“. Bild: www.mwg.or.at

Dazu kam ein wachsender Antisemitismus, eine Reaktion der durch Strukturwandel Geschädigten, insbesondere Angehöriger des gewerblichen und handwerklichen Sektors, aber auch von Teilen der niederen Beamtenschaft. Der antisemitisch motivierte Antikapitalismus hat auch in der katholischen Sozialethik des 20. Jahrhunderts seine Spuren hinterlassen, etwa bei Gustav Gundlach S.J. od­er Johannes Messner, der 1938 in der fünften Auflage seines Werkes „Die soziale Frage“ unter dem Einfluss von Werner Sombart den Kapitalismus als Ausfluss des jüdischen Geistes bezeichnete und dessen, wie er schrieb, unmoralisches Erwerbs- und Gewinnstreben anprangerte.

Im Gefolge des zunehmenden Nationalismus verbreiteten sich im 19. Jahrhundert besonders in Deutschland Staatsgläubigkeit und Obrigkeitsdenken sowie die Überzeugung, freie Märkte, grenzüberschreitender Wettbewerb und unternehmerisches Gewinnstreben würden die Arbeiter lediglich ausbeuten und ihre Besserstellung verhindern. Zur Ausrichtung der Wirtschaft bedürfe es deshalb der gestaltenden Hand eines bürokratisch durchorganisierten Staates. Diese Auffassung prägte auch zunehmend die katholische Soziallehre, insbesondere durch den Einfluss der von dem Jesuiten Heinrich Pesch entwickelten Idee des sogenannten Solidarismus als eines „Dritten Weges“ zwischen Sozialismus und individualistischem Kapitalismus.

Kapitalismus wirkt

In weiten Kreisen des Klerus äußerte sich auch eine zunehmende Technikskepsis, ja Technologiefeindlichkeit, von der sich deutliche Spuren auch noch in der jüngsten Sozialenzyklika „Laudato si‘“ finden. Doch der moderne Kapitalismus zeichnet sich aus durch die Verbindung von Kapitalakkumulation und technologischer Innovation – und genau diese Kombination schafft zunehmenden Wohlstand auch für die untersten sozialen Schichten, sie ist das Erfolgsrezept des Kapitalismus und wird es auch weiterhin bleiben. Gerade damit werden wir auch die ökologischen Nebenfolgen des Fortschritts in den Griff bekommen. Es handelt sich jedoch bei dieser kapitalistischen Entwicklung, um mit Joseph Schumpeter zu sprechen, um einen Prozess der „schöpferischen Zerstörung“, der immer auch Verlierer schafft, aber allmählich zu einem stets anwachsenden Wohlstand und verbesserten Lebensstandard der Massen führte. Wir sind heute Zeugen, wie sich dieser Prozess gegenwärtig auf globaler Ebene in einem rasanten Tempo wiederholt. Durch die sukzessive Öffnung hin zu kapitalistischen Produktionsweisen und marktwirtschaftlichen Prinzipien hat sich der Abstand zwischen reichen und armen Ländern in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich und drastisch verringert und die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen mehr als halbiert.

Man übersieht heute leider oft die positiven Entwicklungen, die uns mit Hoffnung erfüllen sollten, oder man verschweigt sie. Kirchliche Äußerungen zu Fragen der weltweiten Armut geben sich oft geradezu apokalyptisch, zeichnen ein Bild des Niedergangs und Verfalls. Natürlich soll die Kirche Anwältin der Schwachen sein und Menschenrechtsverletzungen anprangern. Sie sollte aber meiner Ansicht nach vor allem jene Kräfte ermutigen, die in den letzten Jahrzehnten für ungezählte Menschen Wohlstand bewirkten und das weiter tun werden. Und das sind die Kräfte des Kapitalismus, des Unternehmertums, freier und offener Märkte, des internationalen Handels. In jenen Ländern, die diesen Kräften der Freiheit und Eigenverantwortung Raum ließen und sie förderten, konnten sich Millionen aus der Armut befreien. Dort wo ihnen kein Raum gelassen wird, auch weil die Voraussetzungen wie Rechtstaatlichkeit und die Sicherung von Eigentumsrechten fehlen, sind die Menschen oft noch weiter in Armut versunken oder haben zumindest nicht dazugewonnen.

Intellektuelle Hemmnisse

Auch heute verstellen eine immer noch weitverbreitete antikapitalistische Mentalität und dadurch erzeugte Ideologien den Blick auf die Realitäten und die wohlstandsschaffende Kraft von Kapitalismus und Marktwirtschaft. Sie mindern das Vertrauen in ihre Kraft, auch die großen sozialen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft meistern zu können. In Wirklichkeit, so meine Überzeugung, sind Kapitalismus und christliche Sozialethik keine Gegensätze. Es gibt jedoch viele Gründe, warum viele heute Mühe haben, das zu erkennen.

Ich möchte im Folgenden einige dieser Gründe nennen.

Der erste Grund ist ein sehr verbreitetes Bild der Geschichte bzw. ein immer noch vorherrschendes Narrativ eines angeblich verderblichen, ungezügelten Laissez-faire Kapitalismus der Vergangenheit, der Krisen und soziales Elend verursacht habe, bis endlich der Staat regulierend eingriff und durch Sozialpolitik und die Verhinderung von Monopolen und Kartellen die Marktkräfte auf das Gemeinwohl ausrichtete. Dieses Narrativ entspricht nicht den historischen Tatsachen und ist durch die Forschung auch vielfach widerlegt worden.

Blick in den Saal: Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kirche nahmen an den Millstätter Wirtschaftsgesprächen 2017 teil. Bild: www.mwg.or.at

Der zweite Grund, den ich nennen möchte, ist ein weitverbreitetes Unverständnis für den Prozess wirtschaftlicher Wertschöpfung und damit dafür, was „Kapitalismus“ eigentlich ist und wie er funktioniert. Lassen Sie mich das kurz erklären: Während tausenden von Jahren verblieb die große Masse der Menschen auf einem mehr oder weniger gesicherten Subsistenzniveau. Wohlstandsgewinne wurden immer wieder durch Bevölkerungswachstum, aber auch durch Seuchen und Kriege zerstört. Um generationenübergreifend aus dem Teufelskreis von Armut und Subsistenzwirtschaft herauszukommen, gibt es nur einen Weg: die Steigerung der Arbeitsproduktivität, d.h. auf Innovation beruhendes Wirtschaftswachstum. Genau das hat, im Verbund mit der industriellen Revolution, der Kapitalismus geleistet und leistet er noch heute.

Warum ist das so? Im Kapitalismus wird privater Reichtum weder umverteilt noch einfach von den Reichen konsumiert, sondern auf eigenes Risiko gewinnträchtig investiert. Privater Reichtum wird damit zu Kapital, d.h. zu einem Produktionsfaktor für neue Güter. Kapital, verbunden mit unternehmerischen Visionen und innovativen Ideen, schafft Arbeit und damit Löhne; dadurch entsteht Kaufkraft und Konsum, was wiederum weitere Investitionen profitabel macht. So entsteht eine Aufwärtsspirale von Kapitalakkumulation, technologischer Innnovation und Steigerung der Produktivität. Folge davon sind stetig ansteigende Reallöhne, die ebenfalls die Kaufkraft und damit auch Konsum und Lebensstandard steigern.

Genau dieser Prozess vollzog sich im 19. Jahrhundert. Der bereits erwähnte österreichische Sozialethiker Johannes Messner, anfangs ein Kritiker des Kapitalismus, schrieb im Jahre 1964, in der achten Auflage seines Werkes „Die soziale Frage“, über England folgendes (er stützte sich dabei auf Daten von Joseph Schumpeter): „Von 1800 bis 1913 hat sich die Bevölkerung verfünffacht, das Gesamteinkommen verzehnfacht, die Preise sind auf die Hälfte gesunken, das durchschnittliche Realeinkommen des einzelnen hat sich vervierfacht; dabei ist die Dauer der Arbeit für den einzelnen fast auf die Hälfte gesunken, dazu außerdem die Kinderarbeit völlig ausgeschaltet und die Frauenarbeit sehr eingeschränkt worden.“ Für Deutschland, so Messner, gelte ähnliches, ja, mehr noch: im 19. Jahrhundert sei Deutschlands Bevölkerung um 44 Millionen gewachsen, die Reallöhne hätten sich dennoch mindestens verdoppelt und die Arbeitszeit um ein Drittel verringert.

Dieser Prozess war historisch beispiellos. Er war nicht die Folge von Sozialpolitik oder gewerkschaftlichen Arbeitskämpfen. Es war das Ergebnis des Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts, der genau das Gegenteil dessen, was Marx vorausgesagt hatte, bewirkte: Er erwies sich als Wohlstandsgenerator, und das nicht nur für die oberste Schicht, sondern für alle Menschen – trotz eines noch nie dagewesenen Bevölkerungswachstums, das der Kapitalismus ja selbst durch die Verbesserung der hygienischen und medizinischen Verhältnisse mitverursachte. Voraussetzung für diesen Erfolg waren vor allem zwei Dinge: Die Existenz eines Rechtsstaates, der Eigentumsrechte und die Durchsetzung von Verträgen sicherte, sowie eine immer bessere Infrastruktur.

Wirtschaftsform des Gebens

Der Kapitalismus ist die „Wirtschaftsform des Gebens“. Kapital – das Investieren von Reichtum – geht der Rendite voraus. Auch wenn die Rendite – oder der Profit – sich noch nicht eingestellt hat, ja obwohl unsicher ist, ob er sich je einstellen wird, erhält der Arbeiter bereits seinen vertraglich zugesicherten Lohn. Der Lohn des Arbeiters ist immer eine Vorleistung. Der Kapitalist gibt, ohne zu wissen, ober er selbst seinen Anteil erhält, ja mit dem Risiko, sogar zu verlieren. Deshalb widerspricht es nicht der Gerechtigkeit, wenn im Falle des Erfolgs seine Rendite bzw. der Unternehmensgewinn – nach Maßgabe des Erfolges und der erzielten Wertschöpfung – entsprechend hoch ausfällt. Solche Gewinne können heute bei global agierenden Unternehmen, auf globalisierten Märkten also, um ein Vielfaches höher sein als zu früheren Zeiten. Die dadurch wachsende Ungleichheit innerhalb wirtschaftlich fortgeschrittener und technologisch besonders innovativer Gesellschaften ist dann nichts anderes als die Kehrseite des durch solche Unternehmen erzeugten Anstiegs des globalen Wohlstandes.

Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist also gleichsam strukturell und systembedingt sozial. Während er die Wirtschaftsform des Gebens ist, ist hingegen der Sozialismus die „Wirtschaftsform des Nehmens“ – im Sozialismus wird verteilt, bis alle gleich arm sind. Dort wo sich Kapitalismus und Marktwirtschaft entfalten können, beseitigen sie das fundamentalste soziale Problem der Menschheit: die Massenarmut. Der Kapitalismus schafft nicht Gleichheit, sondern Massenwohlstand. Der Sozialismus hingegen schafft Gleichheit – und Massenarmut; aktuelles Beispiel: Venezuela.

Zugleich erweist sich der Kapitalismus als die effizienteste Weise, der Sozialpflichtigkeit des privaten Eigentums Genüge zu tun: d.h. er ist die beste Art, Privateigentum für das Gemeinwohl einzusetzen, also dafür zu sorgen, dass die Güter dieser Erde, vor allem aber privater Reichtum, allen zugutekommen. Es wäre töricht, diesen zwecks Umverteilung zu besteuern. Die kirchliche Lehre von der „Sozialpflichtigkeit“ des Eigentums, dass also Privateigentum immer auch im Dienste des Mitmenschen oder des Gemeinwohls zu verwenden ist, entstammt einer Zeit, in der dies ein Aufruf an die Reichen war, den Armen und Bedürftigen von ihrem Überfluss Almosen zu geben – allerdings freiwillig. Das hat auch heute noch seine Bedeutung, ist aber als Möglichkeit, den eigenen Besitz oder Reichtum im Dienste des Gemeinwohls zu verwenden, bei weitem übertroffen worden durch die Möglichkeit, es in einer kapitalistischen Wirtschaft gewinnträchtig einzusetzen und damit selbsterarbeiteten Wohlstand für andere zu schaffen.

Übersehene Arbeit des Kapitals

Ein dritter Grund für eine antikapitalistische Mentalität, die Kapitalismus und christliche Sozialethik als Widersprüche sieht, hängt mit dem zuvor genannten eng zusammen. Es besteht in der verbreiteten Auffassung, die Kapitalisten des 19. Jahrhunderts hätten die Arbeiter ausgebeutet, indem sie ihnen den größten Teil des ihnen zustehenden Lohnes für ihre Arbeit vorenthielten und sich so bereicherten. So besagt es in Kurzform die marxistische Ausbeutungstheorie. Reichtum und „Kapital“ kommen auf diese Weise unter Generalverdacht, denn sie sind dieser Denkweise gemäß auf Kosten bzw. durch ungerechte Ausnutzung der Arbeitskraft des Arbeiters entstanden. Nur durch staatliche Eingriffe und gewerkschaftlichen Druck sei Gerechtigkeit geschaffen und seien allmählich angemessene Löhne ausbezahlt worden.

Der Autor im Gespräch mit Michael Spindelegger (ICMPD – International Centre for Migration Policy Development; ehemaliger österreichischer Bundesminister, Vizekanzler und ÖVP-Bundesparteiobmann). Bild: www.mwg.or.at

Diese enorm folgenreiche Fehleinschätzung, von der auch viele katholische Sozialethiker und leider auch kirchliche Dokumente geprägt sind, beruht auf einer falschen Entgegensetzung von „Arbeit“ und „Kapital“. Dabei wird die „Arbeit des Kapitals“ bzw. des Kapitalisten oder Unternehmers übersehen. Der Wert des vom Arbeiter hergestellten Produktes hängt nicht von dessen – des Arbeiters – Arbeit ab, sondern vom zu erwartenden bzw. tatsächlichen Marktwert eines Produktes; dieser aber bemisst sich wiederum danach, ob er effektiven Bedürfnissen, Präferenzen, Wünschen der Konsumenten entspricht. Die Schaffung dieses Wertes ist nicht die Leistung des Arbeiters, sondern ausschließlich – ich sage: ausschließlich – des Unternehmers, Investors, Kapitalisten. Die unternehmerische Leistung – oder Arbeit – besteht gerade darin, Konsumentenwünsche zu entdecken, ja zu antizipieren, und Produkte zu entwickeln, die dann auch tatsächlich gekauft werden und einen Erlös generieren, aus denen dann schließlich Löhne gezahlt werden können. Unternehmer müssen Visionen haben, kreativ sein, Risiken eingehen; sie vollbringen eine intellektuelle und organisatorische Leistung, die es dem Arbeiter überhaupt erst ermöglicht, produktiv zu sein und einen entsprechenden Lohn ausbezahlt zu bekommen – denn dieser fällt ja nicht wie Manna vom Himmel, sondern muss durch den Verkauf der erzeugten Produkte erwirtschaftet werden. Kurz: Ohne kapitalistisches Gewinnstreben und dadurch motivierte unternehmerische Leistungen wäre im 19. Jahrhundert die große Masse der Menschen glatt verhungert bzw. gar nie geboren worden.

Das Problem des beginnenden Industriekapitalismus war die enorm tiefe Arbeitsproduktivität und entsprechend niedrige Löhne. Dazu kam der durch das rasante Bevölkerungswachstum erzeugte ständige Überschuss an Arbeitskräften, was die Löhne weiter drückte. Die Alternative – kapitalintensivere Produktion und höhere Löhne –  wäre Massenarbeitslosigkeit und für viele noch größeres Elend gewesen. Erst Produktivitätszuwachs durch gewaltigen Kapitaleinsatz und damit verbundene technologische Innovation, d.h. kapitalistisches Wirtschaftswachstum, haben dieses Problem zu lösen vermocht. Höhere Sozialstandards konnte man sich erst bei entsprechend höherer Produktivität allmählich leisten, sie ließen sich nicht einfach verordnen. Sie sind im wesentlichen Folge des sich entwickelnden Kapitalismus, nicht von dessen Eindämmung oder Korrektur durch Sozialpolitik. Auf heute bezogen ist zu sagen: Sozialpolitik kann Wachstum und damit mehr Wohlstand für alle auch verhindern und tut dies heute massiv. Die großen Hindernisse für mehr Wohlstand sind heute Gesetzesflut und Bürokratie, Regulierungen aller Art sowie die stets zunehmende öffentliche Verschuldung, mit der unsere aus dem Ruder laufenden Sozialsysteme am Leben erhalten werden müssen.

Fehlinterpretation der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise

Ein vierter Grund für eine verbreitete antikapitalistische Mentalität ist die Erfahrung der letzten Finanz- und darauffolgenden Schulden- und Wirtschaftskrise bzw. die Fehlinterpretation ihrer Ursachen. Was diese Krise verursachte, waren nicht allzu freie, zu wenig regulierte und deshalb instabile Märkte, sondern die Politik und staatlicher Interventionismus, eine politikgetriebene Immobilienblase, staatlich abgesicherte Hypothekarbanken, die faule Kredite verbrieften, auf diese Weise Risiken verschleierten und mit Hilfe gesetzlich regulierter Ratingagenturen diese giftigen, aber mit einem Staatsqualitätssiegel versehenen Finanzprodukte über die ganze Welt verbreiteten. Ein von Politik und gesetzlichen Fehlanreizen unabhängiger, also freier Hypothekarmarkt und risikobewusstes unternehmerisches Handeln und entsprechende Kreditvergabe, kurz echter Kapitalismus und freie Marktwirtschaft, hätten niemals ein Umfeld geschaffen, in dem dank Staatsgarantien Gier und kriminelle Energie dermaßen freie Bahn erhielten, dass sie schließlich das gesamte Finanzsystem dem Einsturz nahebrachten.

Ein fünfter Grund für weitverbreiteten Unmut gegenüber Kapitalismus und freier Marktwirtschaft ist unser Geld- und Finanzsystem. Doch auch dies zu Unrecht. Denn unser Geld- und Finanzsystem ist in Wirklichkeit keineswegs kapitalistisch oder marktwirtschaftlich, sondern – wenn schon – sozialistisch zu nennen. Denn Sozialismus bedeutet Verstaatlichung der Produktionsmittel. Der Staat besitzt aber in unser heutigen Welt überall das Monopol der Geldproduktion und steuert damit durch seine Zentralbanken die Geldschöpfung der Banken. Er schreibt uns sein eigenes Geld auch als gesetzliches Zahlungsmittel vor, wir sind also gezwungen, es als Zahlungsmittel zu akzeptieren, obwohl es seit Jahrzehnten kontinuierlich an Wert verliert. Seit der US-Präsident Nixon 1971 zudem den Dollar und in der Folge alle – gemäß dem System von Bretton-Woods – an den Dollar gebundenen Währungen von der Anbindung an das Gold löste und damit die entsprechende Bremswirkung aufhob, erlebten wir eine ständige Ausdehnung der Geldmenge. Diese inflationäre Entwicklung – und nicht eine angeblich schädliche Deregulierung –, mit der Politiker ihre immer neuen Versprechungen finanzieren konnten, verursachte das oft beklagte enorme Anwachsen der Finanzwirtschaft mit einem teilweise von der Realwirtschaft abgekoppelten Eigenleben. Wie wir erfahren haben, birgt dies hohe Risiken in sich. Dieser „Finanzkapitalismus“ hat zwar oft wenig mit kapitalistischem Unternehmertum zu tun, gilt heute aber dennoch als der Inbegriff von Kapitalismus.

Eine inflationäre Geldpolitik, wie sie seit den letzten Jahrzehnten betrieben wurde, widerspricht in Wirklichkeit allen Prinzipien einer liberalen Marktwirtschaft. Für diese ist entscheidend, dass Geld knappgehalten wird, so dass sein Wert nicht zerfällt, dafür aber umso mehr Investitionen in langfristig rentable, innovative und wachstumsfördernde Kapitalgüter gefördert werden.

Die inflationäre Politik des billigen Geldes – und das kann nicht genug betont werden – war wesentliche Vorbedingung und Mitursache der letzten Finanzkrise. Heute befinden wir uns einer Situation, in der dieses Gift, das zur Finanzkrise führte, als angebliches Heilmittel verwendet wird, um die Krise zu überwinden. Statt schmerzhafte, aber heilsame Strukturanpassungen zuzulassen, versucht die Geldpolitik diese hinauszuzögern, verursacht dabei aber eine immer noch im Gang befindliche Inflation der Vermögenspreise (d.h. von Aktien und Immobilien). Das wiederum begünstigt die bereits Vermögenden, die ja eher in Aktien und Immobilien investieren können, und lässt sie zumindest statistisch immer reicher werden. Gleichzeitig haben die Sparer und damit die kleinen Leute das Nachsehen. Mit den niedrigen Zinsen werden zudem – auf Kosten des Gemeinwohls – unprofitable Betriebe am Leben erhalten, was Innovation und Wachstum bremst oder gar verhindert.

Konsumismus und Politik

Die Politik des billigen Geldes begünstigt auch einen von der Kirche zu Recht kritisierten, aber von ihr ökonomisch wohl falsch interpretierten Konsumismus. Und damit kommen wir zu einem sechsten Grund für Misstrauen gegenüber Markwirtschaft und Kapitalismus. Schädlicher Konsumismus ist nicht Folge von Marktwirtschaft, sondern Ergebnis einer Politik, die alles daransetzt, die Menschen anstatt zum Sparen zum kreditfinanzierten Konsumieren zu ermutigen. Diese Politik des beständigen „Über-die-eigenen-Verhältnisse-Lebens“ läuft natürlich über Marktprozesse, folgt aber den Empfehlungen Keynesianischer Wirtschaftstheorie, die behauptet, man könne auf diese Weise die Wirtschaft „ankurbeln“ und Arbeitslosigkeit bekämpfen. Das ist aber ein Irrglaube. Allein dadurch, dass ihre Bürger immer mehr konsumieren, kann eine Gesellschaft nicht reicher werden. Reicher kann sie auf die Dauer nur werden durch Ersparnisse und Investitionen in langfristig ertragreiche Kapitalgüter. Das Regulativ, das hier wirken müsste, ist der Zins, der Preis des Geldes, der sich aber nur auf einem freien Geldmarkt bilden kann. Doch der Geldmarkt ist de facto sozialisiert, er wird staatlich manipuliert und sein Preissystem ist außer Kraft gesetzt. Die Menschen wissen nicht mehr, was die Dinge und auch was das Geld wert ist. Deshalb gibt es auch keine Anreize mehr zum Sparen – der Zeithorizont ist die Gegenwart, nicht die Zukunft.

Wann dieser Spuk des billigen Geldes einmal enden wird, weiß niemand. Er hat jedenfalls nichts mit Kapitalismus und freier Marktwirtschaft, sehr viel aber mit der Idee, der Staat müsse die Wirtschaft steuern, und mit dem von maßgeblichen europäischen Politikern gepriesenen Primat der Politik zu tun. Sicher scheint mir, dass das Ende dieser Politik sehr unangenehm sein könnte. Mit Bestimmtheit wird dann die Schuld einmal mehr dem Kapitalismus zugeschoben werden. Ebenso sicher wird dann erneut und noch stärker der Ruf nach noch mehr staatlicher Regulierung ertönen und, angesichts der zu erwarteten sozialen Verwerfungen, ein noch entschlossener Primat der Politik gefordert werden.

Verantwortung des Unternehmers

Ich komme zu einem Fazit. Aus christlicher Sicht, so meine Meinung, ist der Kapitalismus als „Wirtschaftsform des Gebens“ die Wirtschaftsform, die den Grundprinzipien der katholischen Sozialethik am ehesten entspricht. Ich würde sogar formulieren: Wirklicher Kapitalismus und ein christlich verstandenes Unternehmertum bilden eine natürliche Symbiose. Der mittelalterliche Leitspruch „Für Gott und den Profit“ ist auch heute für Christen noch gültig und keineswegs ein Widerspruch.

Unternehmer, die sich ihrer Verantwortung als Christen bewusst sind, scheinen heute oft ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie unternehmerisch handeln, das heißt wenn sie ein profitables Geschäftsmodell verfechten, also gewinnträchtig wirtschaften wollen, ja den Gewinn geradezu als Gradmesser ihres unternehmerischen Erfolgs ansehen und deshalb, um ihre Ziele zu erreichen, unter Umständen auch Arbeitsplätze abzubauen gezwungen sind. Solchen Unternehmern möchte ich sagen, dass sie kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen. Wenn sie als Unternehmer, Investoren, aber auch als angestellte Manager unternehmerisch, d.h. gemäß der Logik von Kapitalismus und Marktwirtschaft, handeln und ihren Kunden ein gutes Produkt zu verkaufen suchen, um damit Geld zu verdienen, dann tun sie nicht nur nichts Unchristliches, sondern das Beste, um ihren Verstand, ihr Wissen, ihre Arbeitskraft und ihr Eigentum im Dienste des Gemeinwohls zu verwenden. Sie brauchen sich ihrer Löhne und sonstigen Entschädigungen nicht zu schämen, vorausgesetzt diese entsprechen einer entsprechenden Wertschöpfung.

Das Gemeinwohl wird vor allem durch erfolgreiche, und das heißt immer auch: gewinnbringendes unternehmerisches Tun geschaffen – auch wenn man das gar nicht intendiert, sondern vor allem arbeitet, um sich und seiner Familie den Lebensunterhalt und einen angemessenen Lebensstandard zu sichern, oder weil man eben reich werden und sich seine Träume verwirklichen will. Im Kapitalismus kann man das – im Unterschied zum Sozialismus –, ohne anderen zu schaden; vielmehr trägt man damit dazu bei, dass es auch den anderen bessergeht. Der Unternehmer ist nicht für das Gemeinwohl eines ganzen Landes oder einer Region verantwortlich, dazu sind die Institutionen des Staates und die Politik berufen. Der Unternehmer ist verantwortlich für das Wohl seines Unternehmens, der davon unmittelbar Betroffen oder Abhängigen, und natürlich derer, für die er in erster Linie arbeitet: Das ist im Normalfall er selbst und seine Familie bzw. andere Angehörige seines persönlichen sozialen Umfeldes.

Es wäre meiner Ansicht nach falsch zu meinen, der Unternehmer müsse, um sein Tun in sozialer oder gar christlicher Hinsicht zu rechtfertigen, als Unternehmer zusätzlich zu seinem unternehmerischen Tun noch irgendwelche außerhalb seiner unternehmerischen Ziele liegenden sozialen oder karitativen Zwecke verfolgen. Dazu ist der Unternehmer natürlich, je nach Umständen und Möglichkeiten, als Mensch und als Christ verpflichtet. Dies aber nicht mit seinem Unternehmen, sondern mit dem Einkommen, das ihm ausbezahlt wird oder er sich selber als Eigentümer seines Unternehmens ausbezahlt.

Marktwirtschaft ist moralisch

Heute ist die sogenannte „Corporate Social Responsibility“ in aller Munde – mit welcher Absicht auch immer. Aller Erfahrung nach nehmen jedoch Unternehmen über den unmittelbaren Unternehmenszweck hinausreichende soziale Verantwortung in erfolgreicher Weise nur wahr, wenn sie dies aus strategischen Gründen tun, d.h. weil sie damit rechnen, dass es sich langfristig für das Unternehmen und sein Geschäft auszahlt. Das ist klug, denn langfristiges unternehmerisches Denken ist letztlich das beste Geschäftsmodell. Auch in diesem Fall gilt also immer noch Milton Friedmanns Wort: the business of business is business. Nur wenn es ein „Geschäft“ ist, erfüllt ein Unternehmen auch seine ihm spezifische soziale Funktion, die eben grundlegend eine wirtschaftliche Funktion ist.

Ist das nicht moralisch gesehen zu wenig? Zeigt das nicht gerade, dass die Logik des Marktes moralzersetzend ist, zumindest moralischem Verhalten nicht förderlich, sondern rein utilitaristisch ist? Mir scheint, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Die Logik der kapitalistischen Marktwirtschaft appelliert – ganz im Unterschied zu staatlich organisierten Formen des Wirtschaftens wie der Sozialismus – an die besten Eigenschaften und Instinkte der Menschen wie beispielsweise Initiativgeist, Verantwortungssinn für das eigene Tun, Bereitschaft, Risiken einzugehen und dafür die Folgen auf sich zu nehmen, Vertragstreue, vor allem aber: das Aufbauen von Vertrauen, der kostbarsten Ressource von Geschäftsleuten. Je mehr der Staat sich einmischt, desto mehr entstehen Lobbyismus, Subventionenjägerei und Korruption – Unternehmer und Politiker versuchen sich dann auf Kosten der Steuerzahler, also auf unproduktive Weise, Vorteile zu ergattern. Ich behaupte nicht, dass gewinnsuchende Kapitalisten und Unternehmer bessere Menschen sind, aber sie tun etwas, was ihnen, sofern sie wirklich der Logik des Kapitalismus gemäß und unternehmerisch handeln, Anreize liefert, sich in mehr oder weniger hohem Maße moralisch zu verhalten.

Die Welt der kapitalistischen Marktwirtschaft ist keine heile Welt. In ihr tummeln sich auch Versager, Betrüger, Gauner, Halsabschneider. Der Markt sanktioniert aber früher oder später inkompetentes und unmoralisches Verhalten, ganz besonders wenn er in eine funktionierende Rechtsordnung mit klaren Regeln eingebettet ist. Mehr als die richtigen moralischen Anreize zu vermitteln, kann man von einem Wirtschaftssystem nicht verlangen – seine Aufgabe besteht nicht darin, uns zu Heiligen zu erziehen. Dafür sind andere Instanzen zuständig – doch das ist ein anderes Thema.

 

Lesen sie zu diesem Thema auch: Martin Rhonheimer, „Wohlstand für alle durch Marktwirtschaft: Illusion oder Wirklichkeit?“. in: Gesellschaft & Politik, 53. Jg., Heft 1, 2017, S. 9-38.

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