Vom Wettbewerb zum Wohlfahrtsstaat: Europäische Sackgassen des Subsidiaritätsprinzips

Was mit Subsidiarität gemeint ist, verändert sich mit der Wirtschaftsordnung. Davon ist die Reichweite des Prinzips abhängig. Das ist meine These. In der Sache ist das Prinzip Teil des universellen Problems, mit knappen Mitteln klug, also kostensparend und wohlstandsmehrend umzugehen. Wie können übergeordnete Instanzen von Aufgaben ferngehalten werden, die untergeordnete Einheiten mindestens ebenso gut, wenn nicht besser wahrnehmen können? Wie können möglichst viele Entdeckungs- und Handlungsspielräume, bei denen die Menschen komparative Vorteile haben, durch den Staat und gegen den Staat gesichert werden? Können zugewiesene Aufgaben bei neuen Erkenntnissen über bessere Zuordnungen revidiert werden?

Die Reichweite des Subsidiaritäts-prinzips ist nicht selbsterklärend. Sie bedarf einer ordnungsabhängigen Beurteilung, in der es um den politischen Willen zur Freiheit und zum Wettbewerb geht.

Verbände, Parteien, staatliche Stellen, Kirchen, Medien, welche Ordnungskräfte es auch immer sein mögen, sie kommen bei Fragen dieser Art an einer vergleichenden Beurteilung des sozialwirtschaftlichen Gehalts dezen­traler und zentraler Ordnungsstrukturen in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft und an Entscheidungen für oder gegen die Marktwirtschaft und den Wettbewerb als Ordnungsprinzip nicht vorbei.

Dies ist ein Auszug aus dem ausführlichen und reichlich dokumentierten Paper von Alfred Schüller mit dem Titel „Von der Verfassung des Wettbewerbs zur Verfassung des Wohlfahrtsstaates. Europäische Sackgassen des Subsidiaritätsprinzips“ (Austrian Institute Paper Nr. 41), das Sie hier herunterladen können.

Das Subsidiaritätsprinzip bedarf einer ordnungsabhängigen Beurteilung

Die Reichweite des Subsidiaritätsprinzips ist also nicht selbsterklärend. Sie bedarf einer ordnungsabhängigen Beurteilung[1], in der es um den politischen Willen zur Freiheit und zum Wettbewerb geht. Dem zugrundeliegenden Menschenbild und Staatsverständnis entspricht die „Freie Marktwirtschaft“ (etwa in der klassischen Denktradition von Adam Smith bis Friedrich von Hayek) oder der „Sozialen Marktwirtschaft“ (im Verständnis des ordoliberalen Denkens von Walter Eucken bis Wilhelm Röpke). Diese Gedankenwelt ist – bei unterschiedlichen Vorstellungen zur Ordnung des Wettbewerbs – auf eine weltoffene Arbeitsteilung der Menschen hin angelegt. Daraus kann jenseits nationalstaatlicher Grenzen eine internationale Wirtschaftsordnung entstehen. Und hinsichtlich der politischen Ordnung korrespondiert damit das Leitbild einer föderativen Weltstaatengemeinschaft mit einer Vielzahl von souveränen Staaten, die im friedlichen Wettbewerb um die bestmögli­chen Regeln und Organisationen, dem sog. Systemwettbewerb, stehen.

Gründe für die Pervertierungen des Subsidiaritätsprinzips

Der positive Wirkungsbereich des Subsidiaritätsprinzips verkehrt sich ins Gegenteil, je ungebremster der Staat die Wirtschaftsprozesse mit Verboten, Geboten, Mindest- und Höchst­preisen (die im Interesse bestimmter Anbieter nicht unterschritten bzw. zugunsten bestimmter Nachfrager nicht überschritten werden dürfen), Entlastungen und Belastungen, Subventionen u. ä. zu steuern versucht, sich also nicht darauf beschränkt, eine Rahmenordnung zu setzen,

  • die es erlaubt, die menschliche Selbstverantwortungs- und Selbststeuerungsfähigkeit mit Hilfe der Informations-, Anreiz und Lenkungsfunktion der Preise, des freien Rechtsstaates und des Wettbewerbs in den Dienst des wirtschaftlichen und sozialen Wohlstands zu stellen;
  • die es dem Staat ermöglicht, sich auf seine Verantwortung für die wirklich Bedürftigen und die Aufgaben zu konzentrieren, für die er ausschließlich zuständig ist. Das gilt besonders für die innere und äußere Sicherheit, für den Katastrophenschutz, den Schutz vor Cyberangriffen. Vielfach wird die EU als Friedensgarantie aufgefasst. Deshalb könnte in den hier aufgezeigten Irrwegen der europäischen Ordnungspolitik der Preis für den von der EU verbürgten wertvollen Frieden gesehen werden. Doch ist es höchst fraglich, ob Länder, die sich an der europäischen Integration ohne Bereitschaft beteiligen, unverzichtbare marktwirtschaftliche Regeln einzuhalten, bereit sind, das zu tun, was die USA zumindest bisher Europa voraus haben – nämlich Macht mit Verant­wortung zu paaren. Daran gemessen dürfte nach wie vor der NATO und der militärischen Präsenz der USA in Europa der überragende Schutz  vor   kriegerischen Auseinandersetzungen zu ver­­danken sein.

Mit der Verdrängung, Aushöhlung und Umkehrung des Subsidiaritätsprinzips in Richtung staatlich organisierter Solidarität entwickelt sich der demokratische Staat zu einem Superstaat, „der seine Bürger überwältigt, ja schließlich lähmt, weil er Arten von Initiativen überlagert, die eine freie Gesellschaft auszeichnen“ (Christian Watrin).

Wesentliche Tätigkeiten und Lebensräume der Menschen verlieren damit ihren Privatrechtscharakter und geraten in den Sog politisch-staatlicher Zuständigkeiten. Diese bieten Anreize für die Expansion von Interessenverbänden, staatlichen und supranationalen Bürokratien, die dazu neigen, die politischen Organe im Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip zu beherrschen.

Im Sog von Europäischem Wohlfahrtsstaat und EU-Schuldenunion

Mit dem Versuch, anstelle einer „Europäischen Verfassung des Wettbewerbs“ den „Europäischen Wohlfahrtsstaat“ zu etablieren, gerät die EU über die Entstehung fest gefügter Wettbewerbsbarrieren in eine tiefe integrationspolitische Sackgasse. Sind die heutigen Befürworter dieses Weges sich bewusst, dass sie damit die Abschaffung der bürgerlichen Privatrechtsordnung und die Irrelevanz des Subsidiaritätsprinzips für moderne Gesellschaften betreiben? In der Sache ist auf Hayeks Argument der informationstheoretischen Überlegenheit dezentraler Lösungen (die mangelnde Zentralisierbarkeit des relevanten Wissens der realen Welt) sowie auf dessen Erkenntnis hinzuweisen, nach der auch heute „der Wettbewerb umso wichtiger ist, je komplizierter oder „unvollkommener“ die objek­tiven Bedingungen sind, unter denen er wirksam sein soll“.

Die in der Eurozone rasch voranschreitende Politisierung und Verstaatlichung des Kreditsystems beruht auf einer von Schuldnerinteressen beherrschten Deflationsangst und ist mit einer Inflationierung der Staatsaufgaben und Staatsausgaben verbunden – im Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip. Im Hinblick darauf ist nach wie vor mit Peter Bernholz davon auszugehen, dass die besten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für eine Währungsverfassung, die den Geldwert sichern und dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung tragen kann, in kleinen marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnungen bestehen. Deren politische Verfassung macht einen Rückgriff auf die Inflation als Steuer des kleinen Mannes unattraktiv. Attraktiv ist es für kleine Länder wie die Schweiz, mit einer stabilen Geldpolitik aus der Währung eine internationale Anlageinstitution zu machen und daraus im internationalen Wettbewerb der Währungen den Vorteil der Seigniorage (des Münzgewinns) zu ziehen. Dahin zielt auch Hayeks praktischer Vorschlag des Wettbewerbs der Währungen.

Doch mit der Errichtung der Bankenunion wird ein weiteres Mal die Position der Mitgliedsländer gestärkt, ja letztlich unangreifbar gemacht, die die Kosten einer vergleichsweise unsoliden Finanz- und Bankenpolitik europäisieren und auch auf diesem Wege aus der Währungs- eine Umverteilungsunion machen wollen. Nationale Lösungen haben dagegen den Vorteil des Subsidiaritätsprinzips, und das je mehr sie auf eigene nicht-politische Finanzquellen bzw. den entsprechenden internationalen Kapitalmarktverbund angewiesen sind. Nach wie vor spricht vieles dafür, dass es einer volkswirtschaftlich zweckmäßigeren Verwendung förderlich ist, wenn die Kreditquellen in einem engen Informations- und Kontrollzusammenhang der nationalen und internationalen Kapitalmärkte stehen und der Herrschaft der Steuerzahler und Sparer unterworfen sind.

 

Anmerkung

[1] Siehe Alfred Schüller, Subsidiarität im Spannungsfeld zwischen Wettbewerb und Harmonisierung. Interpretationsversuche aus ordnungspolitischer Sicht, in: Knut Wolfgang Nörr und Thomas Oppermann (Hg.), Subsidiarität Idee und Wirklichkeit, Tübingen 1997, S. 69-104.

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