Für die Länder der Euro-Zone ist nicht Corona, sondern Italien das Problem

Italien hat ein Problem mit dem Corona-Virus, Italien hat ein wirtschaftliches Problem seit vier Jahrzehnten und Italien ist heute der monetäre Problemfall, der den Euro zu sprengen droht.

Wie kam das alles? Italien war bis 1650 das reichste Land der Erde, zeigt Angus Maddison in seinen Zeitreihen des Reichtums pro Kopf. Genua erfand schon im 13. Jh. die doppelte Buchhaltung, die schwebende Staatsschuld und die Notenausgabe. Venedigs Herrschaft über die Meere – auch dank Fließbandproduktion von Schiffen im „Arsenale“, das Bankwesen in Florenz, die Wechselmesse in Piacenza waren Sternstunden der Entwicklung. Doch um 1800 war Italien dramatisch abgehängt von Holland, England und der Schweiz. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs Italiens Wirtschaft nochmals, holte auf und übertraf vor 20 Jahren kurz das Pro-Kopf-Einkommen Englands – „il sorpasso“ wurde gefeiert.

Ein Drittel der an italienischen Universitäten lehrenden Professoren sind jeweils unter sich verwandt, der Wettbewerb um die Posten scheint nicht mit akademischen Leistungen ausgefochten zu werden.

Das war’s dann. Italien fiel in die Mittelstandsfalle, wie manche Ökonomen es nennen, wenn eine Volkswirtschaft zwar alle die Autos, die Kühlschränke und Dreizimmerwohnungen des Industriezeitalters schafft. Aber es kommt nichts nach – keine Informationstechnik, Biotechnik, keine Internetfirmen, keine Finanz, Versicherungen in größerem Ausmaß und auf dem höheren Weltstandard.

Institutionelles Versagen, Vetternwirtschaft und ein undurchdringbares Dickicht von Gesetzen

Ausgebremst wurden die fleißigen, gescheiten, eleganten Italiener aber durch ihre eigenen – schlechten – Institutionen. Die Schulen leisten gemäß den Pisa-Auswertungen nichts Besonderes; keine größeren, regelmäßigen Durchbrüche sind aus den Universitäten zu melden. Die klügsten Köpfe wandern aus und finden sich in amerikanischen Elite-Universitäten. Ein Drittel der an italienischen Universitäten lehrenden Professoren sind jeweils unter sich verwandt, der Wettbewerb um die Posten scheint nicht mit akademischen Leistungen ausgefochten zu werden.

Vor allem aber wirft die Rechtsordnung jedem zwanzig Knebel in die Beine, der etwas unternehmen will. Alle je erlassenen Gesetze, bis zurück ins Königreich, sagt man, gelten gleichzeitig noch – eine Fundgrube für unterbeschäftigte Juristen, eine Quelle der geschürten Interessenkonflikte mächtiger oder auch nur neidischer Gruppen. Die Banca d’Italia schreibt, dass in Palermo jeder achtzigste Einwohner Jurist ist, allerdings mit mickrigem Einkommen, aber umso schärfer auf Prozesse jeder Art.

Als erstes Beispiel – es taumelt der gigantische, vom Staat seinerzeit gegründete Stahlkomplex Gioia Tauro, jetzt Ilva geheißen, in Tarent, seit 2015 in der Insolvenz, und Dutzende von Akteuren legen sich juristisch quer. Die Gewerkschaften, mehrere natürlich, die Regierung, EU-Fondsgelder, Bürgermeister, Öko-Gruppen, Lokalparlament balgen sich, und soeben wurde der einzige Übernahme-Interessent vergrault. Die Arcelor-Mittal musste sich sagen lassen, das Parlament erlaube den Rückgriff für die massiven Umweltschäden früherer Jahrzehnte auf den künftigen Inhaber. Der Premier Conte seinerseits verbat sich jede Reduktion der formal 20.000 noch Beschäftigten um 5.000 Arbeiter. Die Akten „Norme per l’Ilva“ können im Internet für die „XVII legislatura“ der Camera dei Deputati eingesehen werden – ein Wust hochkomplexer, inkohärenter Regeln, ein Ansporn für Einsprachen und Prozesse.

Arbeitsmarktexzesse und statt Strukturwandel Korrekturen aus der Staatskasse

Ein zweites Beispiel erhellt nicht juristische Fallgruben, sondern die ökonomische Inkompetenz der Politiker. Zwar ist der „cuneo fiscale“ bekannt, der Aufschlag von Abgaben auf den Arbeitskosten. Für einen Bruttolohn von 100 Euro muss der Arbeitgeber 42% Abgaben draufzahlen, während der Arbeiter 28% Abgaben und Steuern davon abgeben muss. Die 142 Euro Gesamtkosten des Arbeitgebers schlagen beim Kunden noch um 22% Mehrwertsteuer auf, sodass der Kunde 175 Euro bezahlt, wofür der Arbeiter 72 Euro heimträgt – ein Fiskalkeil von über 100%. Da wird Schwarzarbeit für Kunde, Firma, Arbeiter zum Paradies, die internationale Konkurrenz aber zum Albtraum. Die Regierung Renzi beschloss daher 80 Euro Zuschuss im Monat für jeden Arbeitsplatz – aber nicht an die Kosten des Arbeitgebers, sondern in die Tasche der Arbeitenden. Damit war nichts für die Konkurrenzfähigkeit getan, riesige Kosten fielen für den bankrotten Staat an und die Arbeitenden erlebten die seit Jahren größte Reallohnzunahme, aber aus der Staatskasse. Welche Lernkurve für alle!

Italien hat keine Feed-back-Kultur, wo Anregungen, Kritik, aufgenommen und selbstverantwortlich gelöst werden.

Diese repräsentativen Beispiele summieren sich zu festen Macro-Daten. Italien wächst seit Jahren nicht. Hingegen wachsen die Staatsausgaben, schon vor der Corona-Ausgabenwelle von weit über 100 Milliarden Euro. Ende 2020 wird Italien Staatsschulden von gegen 160% des Inlandprodukts haben – uneinholbar durch Steuern oder Wachstum. Der Arbeitsmarkt ist völlig verreguliert, und es ist nach wie vor für Unternehmer fast unmöglich, jemanden zu entlassen. Dementsprechend stellen sie, wenn überhaupt, nur befristet ein, oder schwarz, und zu Lumpenlöhnen. In Süditalien sind die bis 34-Jährigen zu 50% arbeitslos. Wieder ist eine Brücke – in der Toscana – auf fünf Jochen völlig eingestürzt, obwohl einfache Autofahrer seit Monaten gewarnt hatten. Italien hat keine Feed-back-Kultur, wo Anregungen, Kritik, aufgenommen und selbstverantwortlich gelöst werden.

Kapitalflucht und wachsendes Misstrauen trotz starkem Unternehmertum

Schließlich kämpfen sich die individuell tüchtigen italienischen Unternehmer sogar zu einem Exportüberschuss des Landes insgesamt durch, aber die Kapitalflucht kehrt alle Zuflüsse ins Gegenteil. Der target2-Saldo Italiens von gegen 500 Milliarden Euro mit Deutschland, also das, was das Land nach außen sandte und theoretisch schuldet, rührt aus Kapitalflucht her.

Angesichts der institutionellen Verwerfungen traut niemand dem Lande, weder die Einwohner noch Ausländer. Die Direktinvestitionen kommen nur im Tropfenzähler, wenn überhaupt. Die internationalen Anleger treiben die Anleihens-Zinsen immer wieder weit über die deutschen hinauf, würde die Zentralbank nicht laufend eingreifen und aufkaufen.

Nun wollen im Zeichen der Corona-Krise die europäischen Instanzen stärker eingreifen, ohne formal die Schulden des Euroraums zu vergemeinschaften, wie Italiens Premier oder Macron fordern. 750 Milliarden Anleihen will die EZB aufkaufen, hunderte Milliarden sollen aus der Europäischen Investitionsbank und durch Sonderfonds kommen, etwa durch pure Kreditschöpfung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, der Bankstatus hat.

Die Schulden vergemeinschaften?

Deutschland zögert vor weiteren Vergemeinschaftungen, und erstaunlicherweise wehren sich Teile des Movimento 5 Stelle und Matteo Salvini von der Lega gegen die europäischen Hilfen. Der Hintergrund könnte sein, dass Salvini und M5S mehrmals den Austritt aus dem Euro ansprachen. Dabei würden die bisherigen, zwar riesigen Schulden Italiens gemäß dem zugrunde liegenden italienischen Recht einfach auf Nuove Lire umgeschrieben. Doch wenn nun enorme neue Kredite in Euro, nach europäischem Gerichtsstand, dazu kämen, wäre das Halseisen gegen souveräne künftige Währungspolitik ausgelegt.

Der Ökonom Alberto Mingardi vom Mailänder Istituto Bruno Leoni sieht in einem originellen und gutgemeinten  Vorschlag „Lombard Bonds“, also eine Schuldenaufnahme der reichen und wirtschaftlich starken Provinz Lombardei, als Ausweg, wenn sie von Europa garantiert würden. Doch deren Bedienung würde das Steueraufkommen dieses reichsten Teils Italiens dem Rest des Landes wegnehmen, und damit stolpert auch dies über die bestehenden Finanzlöcher des Landes.

Der Euro als Schwabbelwährung – ein geordneter Austritt Italiens wäre besser

All das ist in den Hinterköpfen, auch die nordeuropäischen Hemmungen. Deshalb wird der Euroraum weiterhin ins Trudeln kommen, wird der Euro eine Schwabbelwährung für den Anspruch internationaler Akteure sein, wird er nie dem Dollar das Wasser reichen können. Bald schon wird das italienische Schuldenloch derart groß, die Geldschöpfung der EZB derart umstritten und der Anspruch an den Norden, zu zahlen, derart untragbar sein, dass irgendeine Lösung sich mit Gewalt Bahn bricht.

Immer neues Geld in Italiens institutionelle, verdrängte Rigiditäten einzuwerfen, wird die Parteienlandschaft in den nördlichen Ländern destabilisieren.

Vor allem darf man nicht nur auf die jederzeit möglichen inneritalienischen Eruptionen der Koalition, der Parteienlandschaft blicken und – im Norden – sich deswegen besorgt immer wieder zu viel Geldhilfen verleiten lassen. Immer neues Geld in Italiens institutionelle, verdrängte Rigiditäten einzuwerfen, wird im Gegenteil die Parteienlandschaft in den nördlichen Ländern destabilisieren. Schluss mit zahlen – das wird verfangen, und es braucht keine Rechtspopulisten dazu.

Ein geordneter Austritt Italiens würde den Euro glaubwürdiger machen, und das sollte kühl angegangen werden. Es bleiben dann immer noch die anderen Lateiner als Wackelkandidaten – Spanien, Frankreich, Portugal.

 

Zum Thema: Beat Kappeler im Gespräch mit mit NZZ-Chefredaktor Eric Gujer und der Politphilosophin Katja Gentinetta auf NZZ-Standpunkte: Hier geht’s zum Video.

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