Seit langem schlagen Republikaner in den USA Alarm vor dem Sozialismus. „Sozialistisch“ nennen sie alles, was von links kommt, also auf Vergemeinschaftung von Eigentum, Leistung und Verantwortung abzielt. Malen sie ein bloßes Schreckgespenst an die Wand? Vor kurzem hörten wir auch von Peter Sloterdijk, wir lebten heute in Europa angesichts der hohen Fiskalquoten von 50 Prozent im Semi-Sozialismus oder gar in einem Dreiviertelsozialismus. Ist auch er ein Scharfmacher?
Der Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft ist tendenziell sozialistisch, weil er in Konkurrenz mit der freien und mit persönlichem Risiko behafteten Verfügungsmacht über die Produktionsmittel steht.
Sozialismus heißt Verstaatlichung der Produktionsmittel: von Unternehmen, Fabrikanlagen, Maschinenparks – generell: von Kapital –, auch der Banken, von Immobilien, von Land, der Landwirtschaft insgesamt, und in der Folge: Politische Zentralisierung, Wirtschaftsplanung, „Demokratie“ höchstens noch dem Namen nach. All das natürlich aus sozialen Gründen, zur Überwindung von Armut und Ausbeutung und für die Schaffung einer gerechten Welt.
Ein solches Szenario erscheint in der Tat meilenweit von der jetzigen Realität entfernt. Doch schauen wir genauer hin, wie das Friedrich August von Hayek 1944 in seinem Buch „The Road to Serfdom“ – Der Weg zur Knechtschaft“ – tat. Das Buch enthielt die Widmung „Den Sozialisten in allen Parteien“. Damals gab es eine allgemeine, sich durch alle Partien hindurchziehende Planungseuphorie. „Planung“ war die Modeforderung der Zeit. Der „Markt“ war diskreditiert, nur der planende Staat, so meinte man, könne rettend und sozial wirken.
Jede Zeit hat ihre Modewörter, eines davon lautet heute „Primat der Politik“. Gemeint ist der Primat gegenüber „der Wirtschaft“ und der ihr eigenen Logik, der Logik der eigentumsbedingten, auf Rentabilität und Gewinn zielende Verfügungsmacht über die Produktionsmittel. Der Primat der Politik tritt als kategorische Forderung auf – denn es muss ja so manches vor dem so gar nicht auf das Gemeinwohl gerichteten Zugriff der privaten Akteure gerettet werden: Der Euro, die Banken, die Umwelt, das Klima, ja der Planet Erde insgesamt– und jetzt, infolge der Bekämpfung der Pandemie, die Wirtschaft selbst: Der Staat hat sie genommen und der Staat wird sie uns jetzt wieder geben, grüner, klimafreundlicher, sozialer – gelobt sei der Primat der Politik!
Das „kalte Herz“ des Kapitalismus schafft Wohlstand
Da sind wir in der Tat schon ganz nahe beim Sozialismus angekommen. Beileibe nicht bei irgendeiner Form von real existierendem Sozialismus, aber bei jenem Denken, das für ihn schon immer die Voraussetzung bildete. Der Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft ist tendenziell sozialistisch, weil er in Konkurrenz mit der freien und mit persönlichem Risiko behafteten Verfügungsmacht über die Produktionsmittel steht. Der Sozialismus führt den Primat der Politik nur zu seiner letzten Konsequenz.
Jeder Schritt, der die freie Verwendung privater Produktionsmittel (bzw. von Kapital) aus Gründen konkreter politischer Ziele („Gemeinwohl“) irgendwie einzuschränken, zu lenken oder zu regulieren sucht, ist tendenziell sozialistisch – auch wenn das Privateigentum dabei rechtlich-formell bestehen bleibt. Nicht-sozialistisch hingegen ist die Überzeugung, dass gerade das Privateigentum an den Produktionsmitteln und deren freie Verwendung – in Kombination von Risiko und Haftung – die beste Verwendung von Ressourcen und Kapital für das Gemeinwohl sicherstellt, da von dort Innovation und Wachstum der Arbeitsproduktivität und damit Anstieg der Reallöhne und des allgemeinen Lebensstandards kommen.
Genau so geschah es in den letzten zweihundert Jahren, wie der Frankfurter Wirtschafts- und Sozialhistoriker Werner Plumpe – einst Marxist und Mitglied der DKP – in seiner unter dem Haupttitel „Das kalte Herz“ 2019 veröffentlichen Geschichte des Kapitalismus zeigt. Gerade das Privateigentum ließ den Kapitalismus zur bisher sozialsten aller Wirtschaftsformen werden. Denn der Kapitalismus beruht „auf dem evolutionären Zusammenspiel von dezentralen Privateigentumsstrukturen als Motoren der Variation, preisbildenden Märkten als Katalysatoren des Markterfolgs“, der für optimale Selektion sorgt, und schließlich „auf der politischen Stabilisierung dieser evolutionären Mechanismen“.
Sozialistisches Denken und tendenziell sozialistische Politik sind ein Dauerrenner, der sich stets neu aufgrund falscher Geschichtserzählungen über den angeblich unsozialen Kapitalismus der Vergangenheit legitimiert.
Ja, es stimmt, das Herz des Kapitalismus ist „kalt“, seine Sprache und seine Motive sind nicht die des Sozialen oder des Gemeinwohls, Doch war er – in den Worten Plumpes – „von Anfang an stets eine Ökonomie der armen Menschen und für arme Menschen (genauer der Unterschichten)“. Die kapitalistische Massenproduktion erzeugte für alle erschwingliche und das Leben stetig verbessernde Konsumgüter, Produkte, die zuvor Luxusgüter der Reichen waren. So wurde der Kapitalismus zur Quelle des Wohlstands der armen und mittellosen Massen, die ihn oftmals zugleich verachten. Die Reichen brauchten den Kapitalismus nicht.
Der Staat als rettender Wohltäter, Innovator – und Unternehmer
Sozialistisches Denken und tendenziell sozialistische Politik sind ein Dauerrenner, der sich stets neu aufgrund falscher Geschichtserzählungen über den angeblich unsozialen Kapitalismus der Vergangenheit legitimiert. Ihrem Geiste nach sozialistische Versuchungen wandeln sich und zeigen sich heute etwa als freiheitsfeindliche Rezepte der Klimapolitik oder – ebenfalls im Namen des Primats der Politik – im zunehmenden Aufkauf von Unternehmensanleihen durch die EZB, die damit eine schleichende Verstaatlichung des Unternehmenssektors vorantreibt.
Und schließlich – der Vorsehung sei‘s gedankt – zeigen sie sich in den Monster-Rettungsfonds der EU und einzelner Staaten: Überbrückungskredite und Entschädigungszahlungen für die Folgen der staatlich verordneten Lockdowns sind zwar nichts als gerecht. Aber die „anderen“ Sozialisten, die Verächter des freien Marktes und des Privateigentums sind auf der Lauer, um die Gunst der Stunde zu nutzen und die Staatsmacht auf Kosten der Freiheit auszuweiten. Die von ihnen anvisierte Politik des staatlichen Durchfütterns unproduktiver und vom Konkurs bedrohter Betriebe – Hauptsache sie schaden nicht der Umwelt – mag hehren Motiven entspringen, wird aber, lässt man sie walten, einmal mehr nur eine weitere Variante von „real existierendem Sozialismus“ und das heißt mehr Armut für alle erzeugen. Denn staatlich durchgefütterte Betriebe – sie sind typisch für den Sozialismus, im Kapitalismus nennt man sie heute „Zombies“ – schaffen keinen zusätzlichen Wohlstand, binden aber Ressourcen, die sonst allgemeinen Wohlstand zu erzeugen vermöchten.
Der Sozialismus, der immer mit dem gleichen Vorwurf auftritt, das Privateigentum schaffe Wohlstand nur für die Reichen, tritt heute auch im Schafsgewand der Forderung nach Industriepolitik auf: Der Staat soll besonders zukunftsfähige Innovationen, Schlüsseltechnologien oder „Leitmärkte mit Zukunftspotenzial“ entdecken und fördern. Oder man erhebt die Forderung nach dem „Staat als Unternehmer“ (Mariana Mazzucato): Dieser – weil private Akteure angeblich eine weniger gute Spürnase für marktfähige Innovationen als der Staat haben – soll nun endlich einmal jene echten Werte schaffen, die den wahren Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Im gleichen Zug wird auch eine Sozialpolitik gefordert, die vor allem umverteilt und den Bürger zum „sozialen Untertan“ (Ludwig Erhard) macht. Soziale Sicherheit geht dem Sozialisten über alles, Freiheit hingegen steht bei ihm unter Generalverdacht und er hält sie für rechtfertigungsbedürftig.
Wo beginnt der Sozialismus?
„Eigentum verpflichtet“ hieß es in der Weimarer Verfassung und so steht es auch im deutschen Grundgesetz, das hinzufügt: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. Das stammt aus einer Gedankenwelt, in der noch nicht klar war, dass unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus Privateigentum allein schon gemäß der Logik des Systems der Allgemeinheit dient. Freilich: Es gibt Kontexte, in denen das Wort Sinn macht, der Kontext des Almosengebens, des Teilens, der privaten Fürsorge, Nächstenliebe und Solidarität. Absurd ist es, die Binsenwahrheit, Eigentum verpflichte, als Waffe gegen den Kapitalismus einzusetzen. Damit liegt man nicht nur daneben, man zeigt auch, dass man nicht verstanden hat, wie Massenarmut überwunden und allgemeiner Wohlstand geschaffen wird.
Wo also beginnt der Sozialismus? Er beginnt dort, wo Eigentum und private Verfügungsmacht über Produktionsmittel und Ressourcen und deren grundlegende ökonomische Funktion, Variation, Innovation und damit steigenden Wohlstand zu ermöglichen, zugunsten sozialer und ökologischer Zielsetzungen regulierend eingeschränkt oder gar aufgehoben wird. Gemeint sind dabei nicht regulierende Auflagen wie etwa für den Gewässerschutz oder die Luftreinhaltung, die keinen Eingriff in Eigentumsrechte darstellen. Gemeint sind regulierende Eingriffe, die die Verfügungsmacht selbst einschränken wie zum Beispiel ein Mietendeckel oder verteilungspolitisch motivierte Auflagen im Baurecht, die Immobilieneigentum de facto entwerten oder eine ökonomisch profitable Nutzung erschweren oder gar verunmöglichen. Ähnliches gilt für den Arbeitsmarkt – z.B. flächendeckende Mindestlöhne – oder die Klimapolitik, die durchaus eigentums- und marktgerecht konzipiert, aber auch zu einem Umbau der Wirtschaft und damit auch der Eigentumsordnung missbraucht werden kann. Die Übergänge mögen manchmal fließend sein, doch gerade deshalb ist Zurückhaltung der Politik angesagt.
Wohlverstanden: Hier, bei regulierenden Beschränkungen der Verfügungsgewalt über Privateigentum an den Produktionsmitteln, „beginnt“ der Sozialismus, aber genau in dem Masse wie er beginnt, behindert er die wohlstandsschaffende – und wie wir heute auch wissen: umwelt- und ressourcenschonende – Dynamik von Kapitalismus und Marktwirtschaft. Der beginnende Sozialismus und sein Primat der Politik ist wie Sand im Getriebe einer freien Wirtschaft, verstärkt aber gleichzeitig den Ruf nach dem Staat als Reparateur der beharrlich dem Kapitalismus angelasteten, in Wirklichkeit aber durch den Primat der Politik verursachten direkten und indirekten Schäden.
Gesetzliche Rahmenordnung: Ja – Politisierung der Wirtschaft: Nein
Die staatliche, gesetzliche Rahmenordnung sollte als Anreiz für die schöpferische Variations- und Selektionslogik des Kapitalismus wirken und so das ihm eigene innovative Potential entfesseln – hinsichtlich konkreter Ausgestaltung von Innovation also bewusst auf den Primat der Politik verzichten. Der „andere Sozialismus“ hingegen tritt genau dann seinen Siegeszug an, wenn der Glaube an die schöpferische Kraft der Freiheit schwindet und einem „Primat der Politik“ Platz macht, der nun selbst gestaltend, regulierend und letztlich immer auch planend an die Stelle privater Verfügungsmacht über die Ressource „Produktionsmittel“ tritt.
Das Privateigentum besteht dabei rechtlich betrachtet weiter, seine konkrete Verwendung wird aber immer mehr gemäß politischen Zielsetzungen gesteuert. Damit verliert es weitgehend seine wohlstandsschaffende ökonomische Funktion. Und da jede marktfeindliche staatliche Intervention in das Gefüge der freien Wirtschaft zu einer Interventionsspirale führt, dürfen wir fragen: befinden wir uns vielleicht auf dem Weg in eine neue Art von Knechtschaft durch Staat und Politik? Die Frage – oder die Mahnung – geht auch heute noch an die Sozialisten in allen Parteien.
Dieser Artikel ist in einer leicht veränderten und kürzeren Fassung unter dem Titel „Der andere Sozialismus“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. März 2021, S. 40, erschienen. Er ist auch online unter nzz.ch abrufbar.
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