Wie viel Staat braucht eine gerechte Gesellschaft?

Bei Ausdrücken wie „Gerechtigkeit“ oder „gerechte Gesellschaft“ denken wir automatisch an die gerechte Verteilung von Vermögen, Einkommen, Chancen, Ressourcen; wir stellen uns ein bestimmtes „Muster“ von Gesellschaft vor oder sind zumindest der Meinung, eine gerechte Gesellschaft sei eine solidarische Gesellschaft, in der die politisch organisierte Gemeinschaft – und das heißt: der Staat – dafür sorgt, dass niemand zurückbleibt, sämtliche Grundbedürfnisse gedeckt werden und den grundlegenden Ansprüchen auf Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit Genüge getan wird.

Die sozial gerechte Gesellschaft – Ideal und Wirklichkeit

Eine solche Gesellschaft ist gewiss ein wünschenswertes Idealbild. Viele bilden sich ihre Begriffe von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auf der Grundlage dieses Ideals. Dabei plädieren sie wie selbstverständlich dafür, dass zum Zweck der Herstellung einer so verstandenen „sozialen Gerechtigkeit“ der Staat in den normalen Lauf der wirtschaftlichen Prozesse und ihrer Ergebnisse eingreifen müsse, indem er vor allem Einkommen, aber idealerweise auch Vermögen so umverteilt, dass die untersten Einkommensschichten durch Transferleistungen einen Einkommenszuwachs und die obersten Schichten eine entsprechende Minderung erfahren. Dadurch dass einige auf Kosten anderer bessergestellt werden, können als ungerecht empfundene soziale Unterschiede ausgeglichen und gleiche Chancen für alle hergestellt werden.

Dieses Idealbild wird jedoch durch eine kompliziertere und weit weniger ideale Wirklichkeit erheblich getrübt. So haben wir in Anbetracht der jüngsten Proteste der französischen „Gelbwesten“ vernommen, dass in Frankreich das Einkommen der untersten 20 Prozent durch Transferleistungen um 72 Prozent ansteigt – auf Kosten ihrer besser gestellten Mitbürger.[1] Wer sind diese? Es sind neben den Spitzenverdienern vor allem die Angehörigen der unteren Mittelschicht, die mehr als die Hälfte ihres relativ bescheidenen Einkommens an den Staat abgeben müssen, selbst aber kaum Zusatzleistungen erhalten. Sie waren die ersten, die wegen der Erhöhung der Treibstoffsteuern auf die Straße gegangen sind.

Nicht der Sozialstaat als solcher mit seinen auf dem Versicherungsprinzip beruhenden sozialen Sicherungssystemen, sondern der aus sozialen Gründen umverteilende, Vermögen und Einkommen egalisierende Staat schwächt vor allem die unteren Segmente der Mittelschicht, perpetuiert die Armut der Ärmsten, indem er sie von staatlichen Leistungen abhängig macht, und hat im Laufe der Jahrzehnte immer wieder neue Armut, vor allem aber auch Arbeitslosigkeit, insbesondere auch verdeckte Arbeitslosigkeit geschaffen. Das wurde von empirisch arbeitenden Soziologen wie Charles Murray schon vor langer Zeit für die USA nachgewiesen [2], ist aber ein allgemeines Muster moderner Sozial- und Wohlfahrtsstaaten.[3] Wohlgemeinte Sozialpolitik führt zur Schwächung der Mittelschicht; die Schuld wird fälschlich den Höchstverdienenden und ihrem zunehmenden Abstand von der „Basis“ gegeben – obwohl, zumindest in den USA, gerade das Top Prozent für die großen Innovationsschübe der letzten Zeit und damit auch für die Wohlstandsgewinne breiter Bevölkerungsschichten verantwortlich ist.[4]

Die oft extrem hohe Besteuerung der Superreichen, aber auch von Kapital- und Unternehmensgewinnen, bedeutet für Spitzenverdiener keine unmittelbare Einbuße an Lebensqualität; sie beeinträchtigt aber das Wachstumspotential der Volkswirtschaften und damit mehr und produktivere Arbeitsmöglichkeiten und höhere Reallöhne. So paradox es klingt: In einem kapitalistischen Wirtschaftssystem ist die extrem hohe Besteuerung der Superreichen gemeinwohlwidrig. Für Innovation, Wachstum und Reallohnsteigerung bedarf es nämlich der Kapitalakkumulation, und das heißt unweigerlich: Vor allem Phasen höherer Innovation und eines dadurch allgemein ansteigenden Lebensstandards charakterisieren sich durch Zunahme der sozialen Ungleichheit. Ohne Superreiche und entsprechende Ungleichheit gibt es keinen Massenwohlstand – was nicht heißt, dass Wachstum immer mit Zunahme der Ungleichheit einhergeht; zeitweise kann auch das Gegenteil der Fall sein. So sank etwa in den USA, aber auch in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, bei steigendem Wachstum und Wohlstand die Ungleichheit. Trotz zyklischer Zunahme der Ungleichheit in Phasen beschleunigter Innovation – wie etwa heutzutage infolge des engen Zusammenhangs von Digitalisierung und Globalisierung – scheint ein gesundes Wachstum langfristig eher zur Abnahme der Ungleichheit zu führen.[5] Dem Zusammenhang zwischen Innovation, Wachstum und Ungleichheit liegen unausweichliche ökonomische Gesetzmäßigkeiten zugrunde, die durch die Geschichte der letzten zweihundert Jahre bestätigt werden. Ohne Berücksichtigung solcher ökonomischer Zusammenhänge ist deshalb eine sinnvolle und realistische Gerechtigkeitsdebatte kaum möglich, sie würde zu realitätsfremdem Moralismus entarten.[6]

Nicht Ungleichheit, sondern Armut ist das Problem

Man hat in letzter Zeit immer wieder eine OECD-Studie aus dem Jahre 2014 angeführt, die laut Medienberichten beweisen soll, dass soziale Ungleichheit nach oben hin, also der zunehmende Abstand zwischen den Vermögendsten, insbesondere des Top Prozents (oder gar der Top Promille) zum Rest der Gesellschaft sich negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirkt [7]. In Wirklichkeit sagt jedoch die OECD-Studie das genaue Gegenteil: “… no evidence is found that those with high incomes pulling away from the rest of the population harms growth” – „es wurde kein Beweis dafür gefunden, dass der zunehmende Abstand der Hochverdiener zum Rest der Bevölkerung schädlich für das Wachstum ist“. Das Problem sei vielmehr der Abstand zwischen den untersten Einkommensschichten zum Rest der Bevölkerung („..what matters most is the gap between low income households and the rest of the population“). Es ist diese Art von Ungleichheit, so sagt die Studie, die negative Auswirkungen auf das Wachstum hat.[8]

Das ist, genau besehen, ein triviales Ergebnis. Es ist ja offensichtlich: Je mehr einkommensschwache und schlecht ausgebildete Menschen es in einer Gesellschaft gibt, desto geringer muss im Vergleich zu Gesellschaften mit weniger Geringverdienern und mit besser Ausgebildeten das Wachstum ausfallen. Wachstumshemmend ist nicht die Ungleichheit als solche, sondern die Tatsache, dass dieser unterste Teil der Bevölkerung auf Kosten des Restes der Bevölkerung lebt, selbst unproduktiv ist, auch kaum Anreize zu produktiver Arbeit hat und ihm dazu auch wegen mangelnder Qualifikation die Möglichkeit fehlt. Kurz: Grund für die Tatsache, dass Gesellschaften mit großer Ungleichheit hinsichtlich der einkommensschwächsten Bevölkerungsschichten wachstumsschwächer sind, ist nicht der Reichtum der Reichen, sondern die Armut sowie die Bildungsferne der Einkommensschwachen. Ihr Zustand wird gerade durch sozial motivierte Regulierungen des Arbeitsmarktes und andere Hindernisse für die Schaffung von Arbeit – wie hohe Steuerprogression, hohe Kapital- und Unternehmenssteuern und sonstige Belastungen für Unternehmen und Arbeitgeber – verursacht bzw. perpetuiert.[9]

Die anfänglichen Intuitionen bezüglich einer durch staatliche Eingriffe ermöglichten gerechteren Gesellschaft scheinen uns also auf eine falsche Fährte zu führen. Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft hat nichts mit der Einkommens- und Vermögensverteilung oder mit dem Maß an sozialer Ungleichheit zu tun. „Aus moralischer Perspektive ist es nicht wichtig, dass jeder dasselbe hat. Was moralisch zählt, ist, dass jeder genug hat.“[10] Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft entscheidet sich an der Frage, ob sie so geordnet ist, dass niemand auf Kosten anderer lebt, mit anderen Worten: dass die Reichen nicht auf Kosten der weniger Reichen reich sind, und die Geringverdiener nicht auf Kosten der besser Verdienenden besser gestellt sind oder gar von ihnen abhängig gemacht werden. Eine gerechte Gesellschaft soll allen ein Leben in Würde und Freiheit ermöglichen. Ein Leben in Würde und Freiheit hängt jedoch nicht so sehr von den materiellen Ressourcen ab, und schon gar nicht von deren Gleichheit, sondern davon, ob man in seinem Leben auf eigenen Füßen steht, also nicht auf Kosten anderer lebt und insofern also „genug“ hat – auch wenn man relativ zu den anderen wenig hat. Daran, welcher Raum für Freiheit und Selbstverantwortung des Einzelnen gegeben ist und welche Möglichkeiten in einer Gesellschaft vorhanden sind, sich durch eigene Arbeit den für ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben genügenden Anteil selbst zu erwirtschaften, entscheidet sich die Frage der Gerechtigkeit – nicht daran, wer wie viel besitzt oder gar am Ausmaß der Ungleichheit, und noch weniger daran, in welchem Maße soziale Ungleichheit durch politische Maßnahmen – Umverteilung – abgebaut wird.

Leider wird die Frage nach einer gerechten Gesellschaft heute zumeist nicht in dieser, sondern in einer rein materialistischen und letztlich auf die Rechtfertigung von Umverteilung zielenden Weise gestellt, weil die Ungleichheit – sozusagen als „negative Messlatte“ – als Argument dient, das sich in höchst emotionaler und klares Denken verwirrender Weise verselbständigt und entsprechend emotional aufgeladen hat.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Text eines Vortrags, den der Verfasser an den 6. Internationalen Gocher Gesprächen „Markt versus Moral?“ vom 12./13. Januar 2019, organisiert von der Arnold Janssen Solidaritätsstiftung im Collegium Augustinianum Gaesdonck, Goch, gehalten hat. Er wird in einem Tagungsband zusammen mit den anderen Tagungsbeiträgen publiziert werden.

Hier finden Sie den ganzen Text als PDF zum Download: Austrian Institute Paper Nr. 24

 

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Nina Belz, Woher kommt die Wut der gelben Westen? Das französische Steuersystem sorgt zwar für eine gerechtere Einkommensverteilung – allerdings zu einem hohen Preis, NZZ 14.12.2018; Quelle für die Zahlen ist das Institut national de la statistique et des études économiques / INSEE.  Das auf der INSEE Website oder durch die Google-Suchmaschine direkt auffindbare Dokument hat folgenden Namen: FPORSOC18m4_F4.4.pdf.

[2] Charles Murray, Losing Ground. American Social Policy 1950-1980, New York 1984, 2. Aufl. 2015.

[3] Vgl. James Bartholomew, The Welfare of Nations, London 2015.

[4] Vgl. Eward Conard, The Upside of Inequality. How Good Intentions Undermine the Middle Class, New York 2016.

[5] Vgl. Branko Milanović, Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, Berlin 2016, bes. 98 ff.

[6] Zu berücksichtigen ist auch, dass die seit bald zwei Jahrzehnten bewusst betriebene Politik des billigen Geldes (Niedrig- bis Nullzinspolitik) zu einem gewaltigen Anstieg der Vermögenspreise (Immobilien und Aktien) führte, was auf dem Papier die Reichen immer reicher gemacht hat – eine Blase, die einmal platzen wird.

[7] Federico Cingano, “Trends in Income Inequality and its Impact on Economic Growth”, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, No. 163, OECD Publishing, 2014 http://dx.doi.org/10.1787/5jxrjncwxv6j-en.

[8] Ebd., 6.

[9] Dabei sind auch die schädlichen Auswirkungen von Mindestlöhnen für die am schlechtesten Qualifizierten zu berücksichtigen; vgl. dazu die eindeutige, andere Studien zur Frage kritisch evaluierende Studie von David Neumark und William L. Wascher, Minimum Wages, Cambridge Mass., 2008.

[10] Harry G. Frankfurt, Ungleichheit. Warum nicht alle gleich viel haben müssen, Berlin 2016, 17.

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an.

So halten wir Sie über Neuigkeiten auf unserer Website und die Aktivitäten des Austrian Institute auf dem Laufenden.

Jetzt anmelden