Der «Economist», das «Wall Street Journal» und die «New York Times» haben es rezensiert, Letztere gleich zweimal, der Ex-US-Präsident Barack Obama lobte es wegen seiner «überzeugenden Erkenntnisse über den Verlust von Sinn und Gemeinschaft, den viele Menschen im Westen empfinden»: Gemeint ist das auch auf Deutsch erschienene Buch «Warum der Liberalismus gescheitert ist» von Patrick J. Deneen. Der an der Eliteuniversität Notre Dame in den USA lehrende Politikwissenschafter ist konservativer Katholik und «Kommunitarist», sein Feindbild ist der Liberalismus.
Eine ausführliche und dokumentierte Version dieses Artikels ist als Austrian Institute Paper Nr. 35/2020 unter dem Titel „Ist der Liberalismus gescheitert? Patrick Deneens populistischer Antiliberalismus: Antwort eines katholischen Liberalen“ erhältlich. DOWNLOAD HIER
Feindbild Liberalismus
Nach Deneen ist der Liberalismus gescheitert, weil er erfolgreich war. Dadurch hat er seine eigenen Voraussetzungen zerstört.
Denn gemäß klassisch-vorliberalem und christlichem Verständnis, das der Liberalismus seit je systematisch bekämpft habe, sei der Mensch nicht von Natur aus frei, Freiheit müsse vielmehr erlernt werden. Durch sein Verständnis von Freiheit als bloßem Tun-Können, was man gerade wolle, habe der Liberalismus die humanistische Bildung zurückgedrängt, die auf der Einübung von Selbstbeherrschung und Tugend gründe, durch die Auflösung gemeinschaftlicher Bindungen Vereinsamung und «Entfremdung» des Individuums vorangetrieben und dieses schließlich vom bürokratischen Fürsorgestaat abhängig gemacht. Dadurch ist der moderne Mensch zugleich individualistischer wie auch staatsgläubiger geworden.
Patrick Deneen rechnet mit allen Spielarten des Liberalismus ab – sie sind laut ihm Frucht eines falschen Menschenbildes.
Deneen rechnet mit allen Spielarten des Liberalismus ab, dem konservativ-marktorientierten und dem progressiven Linksliberalismus – beide sind sie laut ihm Frucht eines falschen Menschenbildes.
Zwar will Deneen die «wunderbaren Ideale» des Liberalismus in die Zukunft retten: Menschenwürde und Freiheit. Was Deneen jedoch als moralgesättigte Alternative zu einer unmenschlichen Welt marktwirtschaftlicher Globalisierung, ökologischen Raubbaus, wachsender Ungleichheit, bürokratischer Vergewaltigung des Menschen und unkontrollierter Macht von Eliten anpreist, ist in Wirklichkeit eine Sackgasse von Illusionen. Seine Strategie lautet: Widerstand gegen die liberale «Antikultur» durch kleine, lokale, moralisch und religiös homogene Gemeinschaften – dies in der Hoffnung, dass daraus auf spontane Weise Neues und schließlich eine bessere Welt entstehe.
Deneen findet die für ihn maßgebende «Wirklichkeit» in den Texten der Klassiker der Antike und des christlichen Europa; die reale Geschichte der Entstehung der modernen Welt, die institutionellen Realbedingungen der Freiheitssicherung, die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und Erfordernisse für ein Überleben der Menschheit in Wohlstand und Würde sowie die bereits weit fortgeschrittene, durch technologische Innovation ermöglichte Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch werden hingegen vollständig ignoriert. Schließlich: Der Einfluss sozialistischer Ideen kommt in Deneens Narrativ nicht vor, es gibt nur den Liberalismus, er allein ist an allem schuld.
Im Zentrum: Rule of Law
Dem ist zu widersprechen. Die Signatur der Moderne und schließlich des liberalen Konstitutionalismus ist die Einsicht, dass Freiheit nicht durch die Tugenden einzelner Herrscher, sondern durch die Herrschaft des Rechts zu sichern sei. Dass der Staat nicht mehr als hochmoralische Anstalt gesehen wurde, sondern pragmatisch-instrumentell als Mittel der Sicherung der Freiheit und nun, anstatt der Tugend und Weisheit der Herrscher, die Herrschaft des Rechts und Gewaltenteilung die Grundlage sein sollten, bedeutete nicht, die Ziele der Moral herunterzuschrauben oder einen neuen Freiheitsbegriff zu etablieren, wie Deneen suggeriert.
Liberalismus heißt: Der politischen Autorität kommt nicht mehr die Aufgabe zu, in Fragen der Moral und der Religion als Schiedsrichter oder gar als Erzieher zu walten.
Vielmehr war damit gemeint, der politischen Autorität komme nicht mehr die Aufgabe zu, in Fragen der Moral und der Religion als Schiedsrichter oder gar als Erzieher zu walten. Das ist es, was Liberale vertreten, auch solche, die, wie der Schreibende, von der Existenz einer Wahrheit in diesen Fragen überzeugt sind.
Als freiheitssichernde Instanz ist der liberale Staat auch der Beschützer des freien Marktes und der durch ihn ermöglichten «spontanen Ordnung» (F. A. Hayek) der Gesellschaft. Deneen behauptet hingegen – sachlich falsch –, auch der «freie Markt» sei «fortwährend von staatlicher Arbeit, Einmischung und Unterstützung» abhängig. Das ist zwar de facto der Fall, gerade deshalb gibt es aber heute auch keine «freien Marktwirtschaften» mehr, sondern lediglich durch den Staat vielfach behinderte, über- und oft fehlregulierte Mischgebilde. Sie gründen auf der fortwährenden Missachtung liberaler Ordnungsprinzipien – so läuft es nun seit Jahrzehnten zum Schaden von Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand.
Von sozial zu sozialistisch
Der Liberalismus ist nicht gescheitert, aber er existiert in verschiedenen Varianten, von denen einige in der Tat für Fehlentwicklungen, die Deneen diagnostiziert, mitverantwortlich sind. Viele Liberale assimilierten – im Verbund mit Christlichdemokraten – die genuin sozialdemokratische Ansicht, der Kapitalismus müsse, damit er nicht nur den Reichen diene, sozialpolitisch gezähmt, die Ergebnisse des Marktes müssten aus sozialen Gründen durch Umverteilung korrigiert werden. Zudem sei das Individuum gegenüber seinen Unwägbarkeiten durch einen staatlichen Schutzschirm möglichst lückenlos abzusichern – nicht nur für eigentliche extreme Notsituationen, sondern auch dort, wo man sich selber helfen könnte. Man lese Ludwig Erhard, um zu erkennen, welche Pervertierung des ursprünglichen – liberalen – Konzepts seiner «sozialen Marktwirtschaft» dies ist!
„Liberale“ vertreten heute eine Reihe von Forderungen der neomarxistischen Kulturrevolution. Sie können aber nicht aus dem Wesen des Liberalismus abgeleitet werden.
So wurde nicht nur mancher unternehmerischen Initiative, sondern auch der Familie als natürlicher Reproduktions-, Erziehungs- und Vorsorgegemeinschaft zunehmend der Sauerstoff entzogen. Das heute auch von Liberalen geförderte «Ideal», alle, Männer und Frauen, möglichst vollständig in den Prozess der Erwerbsarbeit zu integrieren und Erziehung entsprechend zu sozialisieren, erinnert an Friedrich Engels’ sozialistisches Programm zur Zerstörung der bürgerlichen Familie. Solches, wie auch eine Reihe von Forderungen der neomarxistischen Kulturrevolution – wie die Idealisierung einer völligen Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung oder «antiautoritäre» Erziehungsmodelle –, vertreten heute «Liberale», nicht nur in den USA. Sie können aber in keiner Weise aus dem Wesen oder dem «Menschenbild» des Liberalismus abgeleitet werden.
Allerdings waren manch liberale Positionen der Vergangenheit ambivalent – so etwa J. S. Mills Freiheitsbegriff. Denn er sah die letzte Rechtfertigung der Freiheit in ihrer bloßen Ausübung – gleichgültig, welcher Zweck und welches Gut damit verfolgt werden, solange man damit anderen keinen Schaden zufügt. Das ist ein brauchbares Kriterium für die rechtlich-politische Ebene, taugt jedoch nicht für den nichtpolitischen Bereich, weder für jenen der Familie noch für Erziehung und Bildung.
Eine Pädagogik, die darauf beruht, schafft Orientierungslosigkeit und wirkt destruktiv. John Locke, der von Deneen als liberaler Kronzeuge angeführt wird, hatte einen anderen Begriff von natürlicher Freiheit: Er verstand darunter die Freiheit, zu tun, was man wolle, aber – und das wird von Deneen unterschlagen – «innerhalb der Grenzen des natürlichen Gesetzes».
Verteidigung des liberalen Projekts
Der «wertbewusste» Liberale befindet sich auf einer Gratwanderung. Er muss die Ebene der persönlichen Lebensführung, wo es immer um die Freiheit der Entscheidung zwischen Gut und Böse, um Moral und Tugend, geht, klar unterscheiden von der politischen Ebene. Letztere ist jene der gesetzlichen Verteidigung der Freiheit eines jeden, die das friedliche Zusammenleben von Bürgern ermöglicht, die über Gut und Böse, Moral und Tugend divergierende Auffassungen haben.
«Progressive» Liberale oder «Linksliberale» setzen jedoch, was man eher von Sozialisten erwarten würde, auf etatistische, staatsinterventionistische Maßnahmen, um ihre eigenen, letztlich egalitaristischen Moralvorstellungen und neuerdings auch identitätspolitische Forderungen durchzusetzen. Damit beteiligen sie sich am Spiel der antibürgerlichen Kulturrevolution.
Liberale benötigen starke ethische Überzeugungen, und eine liberale Gesellschaft bedarf eines sozialen Unterbaus, der solche Überzeugungen zu formen geeignet ist.
Das liberale Projekt muss heute sowohl gegenüber konservativ-reaktionären Kritikern wie auch gegenüber seinen linksliberalen Totengräbern verteidigt werden. Letztere unterminieren in der Tat die sozialen und moralischen Voraussetzungen einer freien Gesellschaft – insoweit ist Deneen recht zu geben. Liberale benötigen starke ethische Überzeugungen, und eine liberale Gesellschaft bedarf eines sozialen Unterbaus, der solche Überzeugungen zu formen geeignet ist.
Genau das lehrte vor Jahrzehnten der liberale Zürcher Staatsrechtslehrer Dietrich Schindler in seinem klassischen Werk «Verfassungsrecht und soziale Struktur»: Ein liberaler, die Unabhängigkeit und Freiheit des Einzelnen betonender Staat wie auch eine Demokratie bedürften im «Außerrechtlichen der Kompensation durch entgegengesetzte Prinzipien», «sittlich-moralischer Voraussetzungen», «Selbstdisziplin, Mäßigung . . .», eines «Kodexes von Tugenden».
Es war, und Deneen verschweigt es, die «linke» Kulturrevolution, die das Gegenteil verfochten hat, gegen die liberale, bürgerliche Gesellschaft. Und sie tut dies weiterhin auf außerordentlich wirkungsvolle Weise, weil viele Liberale heute aus purer Kurzsichtigkeit ihre Verbündeten sind.
Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Alle gegen den Liberalismus“ in der Neuen Zürcher Zeitung (17. 09. 2020, S. 28), sowie online auf nzz.ch.
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