Deutschlands Armut: Importiert und hausgemacht

Das Buch „Working Class – Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“ der Journalistin Julia Friedrichs kommt wie bestellt. Rechtzeitig zum Superwahljahr führt die junge Autorin Klage darüber, dass der soziale Aufstieg durch Erwerbsarbeit in Deutschland kaum mehr möglich ist. Auf 323 Seiten werden allerhand Daten und Betroffenheit als Belege angeführt, warum es der Mittelschicht nicht mehr zu Wohlstand reicht. Schuld sind Globalisierung, Deregulierung, Finanzkapitalismus und natürlich eine unsoziale Politik. So weit, so bekannt – und nicht ganz falsch.

Soziale Gerechtigkeit ist ein Dauerthema in Deutschland. Wollte Ludwig Erhard noch „Wohlstand für alle“ schaffen, so geht es heute vor allem darum, die Unterschiede zwischen Arm und Reich einzuebnen.

Das Werk der Journalistin erfährt viel (mediale) Aufmerksamkeit. Der Sound passt zur Stimmungslage, die da stets aufs Neue intoniert wird: Das „reiche Deutschland“ leiste sich viel Armut. Um die Dramatik zu unterstreichen, wird neuerdings ein statistischer Trick angewandt: Nicht tatsächliche materielle Not ist das Kriterium, denn die ist laut Statistischem Bundesamt von 2008 bis 2018 von 5,3 auf den Tiefststand von 3,1 Prozent gesunken. Auch ist die Zahl der Bezieher von Hartz IV, Grundsicherung oder Asylbewerberhilfe von zehn (2006) auf acht Prozent (2019) zurückgegangen. Also wird eine mögliche „Armutsgefährdung“ konstruiert. Betroffen ist bereits, wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens leben muss. Würde also über Nacht ein Geldregen über Deutschland niedergehen und jedermanns Vermögen verzehnfachen, so würde sich an der statistischen Armutsgefährdungsquote nichts ändern.

Rot-grüne Umverteilung von unten nach oben

Soziale Gerechtigkeit ist ein Dauerthema in Deutschland. Wollte Ludwig Erhard noch „Wohlstand für alle“ schaffen, so geht es heute vor allem darum, die Unterschiede zwischen Arm und Reich einzuebnen. Grüne, SPD und Linkspartei, die im Herbst auf einen Machtwechsel in Berlin zusteuern, brauchen möglichst viel Ungleichheit, um ihre Forderungen nach „Reichensteuern“ und zusätzlichen Vermögensabgaben zu rechtfertigen. Gerne garniert mit einem Bürgergeld oder einer Garantiesicherung, die auch jenen zustehen soll, die nicht arbeiten wollen.

Die wahren Ursachen dafür, warum die untere Hälfte der Bevölkerung in relativem Nicht-Wohlstand verharrt, werden selten thematisiert.

Über die banale Forderung nach Umverteilung von oben nach unten kommt die deutsche Gerechtigkeitsdebatte selten hinaus. Auch das hat System: Die wahren Ursachen dafür, warum die untere Hälfte der Bevölkerung in relativem Nicht-Wohlstand verharrt, werden selten thematisiert. Denn zu Ende gedacht, würde man dann auch bei jenen als Schuldigen landen, die über die „ungerechten Verhältnisse“ am lautesten klagen. Sie betreiben in Wahrheit eine Umverteilung von unten nach oben.

Beispiel steigende Mieten und Immobilienpreise…

Am Beispiel der steigenden Mieten und hochschießenden Immobilienpreise wird dies besonders deutlich: Obwohl in Deutschland nur 14,4 Prozent der 357 000 Quadratkilometer als Siedlungs- und Verkehrsfläche ausgewiesen sind, haben die Grünen dem „Flächenfraß“ den Kampf angesagt. Wo immer sie das Sagen haben, werden neue Baugebiete verhindert. Einfamilienhäuser sollen möglichst gar nicht mehr erlaubt sein. Diese politisch gewollte Verknappung treibt die Preise drastisch in die Höhe. Ein ausuferndes Baurecht und immer strengere Energieeinsparauflagen sorgen zusätzlich dafür, dass sich auch gutverdienende Mittelschichtsfamilien den Traum von den eigenen vier Wänden abschminken können. Nutznießer sind die Besitzer von Grundstücken und Immobilien. Eine Dynamik von weniger Angebot und mehr Nachfrage (auch durch Zuwanderung) lässt ihr Vermögen wachsen. Was wiederum den beklagten Graben zwischen Arm und Reich vertieft.

Denn ohne Eigentum bleibt man ewig Mieter – und damit von einer Vermögensbildung fürs Alter abgeschnitten. Hier ist Deutschland mit einer Eigentumsquote von unter 50 Prozent ohnehin Schlusslicht. Der Bonner Wirtschaftshistoriker Moritz Schularick hat errechnet, dass die ärmsten 20 Prozent der deutschen Haushalte mittlerweile fast 40 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben. 1993 seien es noch 23 Prozent gewesen.

…und überhöhte Energiepreise: Nutznießer sind auch hier die Vermögenden

Dieser Personenkreis ist es auch, der unter den hohen Energiepreisen zu leiden hat: Den mit 30,43 Cent pro Kilowattstunde (kWh) höchsten Strompreis können sich jährlich an die 350 000 Haushalte nicht mehr leisten, und die Stromzufuhr wird ihnen abgedreht. Zwei Millionen Menschen in Deutschland fehlt laut Statistischem Bundesamt das Geld, um die eigene Bleibe ausreichend zu heizen. Selbst der Bundesrechnungshof rügt diese einseitige Belastung in seinem neusten Bericht. Dennoch wollen Grünen und SPD die Preise für Strom, Gas, Benzin und Heizöl weiter nach oben treiben. Das soll den Klimawandel bremsen, obwohl Deutschland kaum zwei Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoß beiträgt.

Nutznießer dieser Energiewende sind wiederum jene Vermögenden, die über Dächer und Grundstücke für Solarplantagen und Windräder verfügen oder viel Geld in hochrentierliche „grüne Fonds“ stecken. Sie können sich auch die teuren E-Autos leisten, derweil dem werktätigen Pendler sein alter Diesel verleidet wird, den er dringend zum Broterwerb braucht. Auch so wird den Armen genommen und den Reichen gegeben.

Während zu Hause das Geld fehlt, um insbesondere den abhängig Beschäftigten mehr Netto vom Brutto zu lassen, gibt man sich in Europa als Großsponsor.

So geht es geradezu fort mit der grün-roten Umverteilung. Während zu Hause das Geld fehlt, um insbesondere den abhängig Beschäftigten mehr Netto vom Brutto zu lassen, gibt man sich in Europa als Großsponsor. Entgegen der eindeutigen Rechtslage erklärt Finanzminister Olaf Scholz eine Schuldenunion zum politischen Ziel. Der Kanzlerkandidat der SPD, der einen Amtseid zum Wohle des deutschen Volkes geleistet hat, nimmt also die eigenen Steuerzahler in Haftung, um die deutlich wohlhabenderen Bürger in Italien, Spanien oder Frankreich vor unangenehmen Reformen zu bewahren. Denn mit einem Medianvermögen von netto gerade mal 61 000 Euro sind die Deutschen sogar ärmer als die Griechen, denen sie mit vielen Milliarden helfen mussten. Der EU-Schnitt liegt bei 100 000 Euro.

Zugleich hat das Land unter der Regierung Merkel nicht nur die Spitze der Steuer- und Abgabenbelastung unter den OECD-Ländern erklommen, hier trägt die arbeitende Mittelschicht mit 27,17 Prozent auch am meisten zum Steueraufkommen bei. Alle Versprechen, insbesondere die unteren Einkommensschichten spürbar zu entlasten, sind Makulatur. Dieser Personenkreis ist es auch, der am meisten unter der Null-Zins- oder gar Minus-Zins-Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) zu leiden hat. Denn der Kleinsparer kann sich riskante Aktienanlagen nicht leisten. Also auch hier: Umverteilung von unten nach oben.

Migration und importierte Armut – ein Tabuthema

Völlig ausgeblendet wird in der deutschen Gerechtigkeitsdebatte das Thema Migration. Selbst in offiziellen Studien wie dem „Sozialreport 2021“ wird allenfalls am Rande zwischen heimischer und importierter Armut unterschieden. Als einer der wenigen namhaften Politiker hat einzig Friedrich Merz gefordert, folgende Tatsache in die Debatte um Wohlstandsunterschiede einzubeziehen: „Wenn wir die Zuwanderung in den Jahren 2015/16 in die Sozialsysteme nicht gehabt hätten, hätten wir eine Million Hartz-IV-Empfänger weniger.“ Doch der Ruf nach mehr Transparenz wurde umgehend als Rassismus diskreditiert. Dabei hat der konservative Merkel-Widersacher, der im Dezember fast CDU-Vorsitzender geworden wäre, die Fakten auf seiner Seite: Von den damals 5,52 Millionen „Regelleistungsberechtigten nach dem Sozialgesetzbuch II“, die umgangssprachlich als Hartz-IV-Empfänger bezeichnet werden, haben rund zwei Millionen keinen deutschen Pass. 980 000 werden der Personengruppe „Asylbewerber“ zugeordnet.

Auch der jetzt vorgelegte Bericht des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung spricht eine klare Sprache: Vor allem die Zuwanderung von bildungsfernen Schichten aus Afrika und Arabien sowie deren deutlich höhere Geburtenrate hätten dazu geführt, dass die Bevölkerung in Deutschland nicht geschrumpft, sondern auf die Rekordmarke von rund 83 Millionen gestiegen sei. Jeder vierte der insgesamt 416 000 Asylanträge, die 2020 in allen 27 EU-Staaten gestellt wurden, ging bei deutschen Behörden ein. Die allermeisten Bezüger bleiben dauerhaft auf Transferzahlungen angewiesen. Derweil verließen in den letzten zehn Jahren rund 500 000 Hochqualifizierte das Land, um einer Abgabenlast zu entgehen, die nach dem Willen von Grünen, SPD und Linkspartei für die sogenannten Besserverdiener noch weiter steigen soll. Auch so wird eine soziale Schieflage erzeugt. Doch davon liest man auch bei klagenden Forschern und Autoren wie Julia Friedrichs kein Wort.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in einer geringfügig gekpürzten Fassung unter dem Titel „Die deutsche Gerechtigkeitsdebatte hat System“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. April 2021, S. 19, sowie online auf nzz.ch. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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