Für lange Zeit war Bolivien das Erfolgsbeispiel des sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Während Länder wie Venezuela und Nicaragua in einer großen soziopolitischen und wirtschaftlichen Krise steckten, boomte die bolivianische Wirtschaft und beeindruckte Ökonomen und Politiker aus aller Welt. Internationale Medien verglichen Evo Morales mit Politikern wie Bernie Sanders und berichteten über das erfolgreiche bolivianische Modell.
Morales’ Sieg bei den Wahlen im Jahr 2005 ist ein Meilenstein in der Geschichte Boliviens. Mit 56% der Stimmen wurde Morales der erste Präsident der Post-Diktatur Zeit, der mehr als die Hälfte der Stimmen holen konnte. Aber noch wichtiger: in einem Land, in dem sich die Hälfte der Bevölkerung als Ureinwohner identifiziert, war er der erste indigene Präsident. Mit seinem revolutionären, an die Ureinwohner gerichteten Ton gewann Morales, ein ehemaliger Coca-Bauer, die Stimmen jener Bevölkerungsgruppe, die bis dato fern von der Politik und Machtkuppel des Landes gehalten wurde.
Der landesweite Protest gegen Morales hat die internationale Öffentlichkeit überrascht
Auf den ersten Blick rücken die Statistiken das 14-jährige Mandat von Morales in ein gutes Licht: Die Ungleichheit (gemessen durch den GINI-Koeffizient) reduzierte sich von 56,7 Punkten im Jahr 2005 auf 42,2 im Jahr 2018, die Analphabetenrate halbierte sich zwischen 2006 und 2015 (von 14% auf ca. 7% der Bevölkerung), das Bruttoinlandsprodukt wuchs stetig – Bolivien gehörte damit zu einem der wachstumsstärksten Länder Südamerikas– und 2014 waren 48% der Parlamentarier Frauen, viele davon Indigene.
Für unzählige Menschen in Bolivien war das nahende Ende des Morales-Regimes ein erster Hoffnungsschimmer nach all den Jahren des Staatssozialismus.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die internationale Gemeinschaft überrascht, ja geradezu fassungslos war, als im Jahr 2019 geschätzte dreieinhalb Millionen Bolivianer – fast ein Drittel der Bevölkerung – auf den Straßen den Rücktritt von Morales forderten. Für unzählige Menschen in Bolivien hingegen war das nahende Ende des Morales-Regimes ein erster Hoffnungsschimmer nach all den Jahren des Staatssozialismus, geprägt durch die konstante Unterdrückung grundlegender Freiheitsrechte, die schrittweise Einführung einer autoritären Regierung, die Politisierung von Institutionen, Korruption und absurd hohe öffentliche Ausgaben. Eine tiefergehende Analyse dieser Jahre zeigt, dass die angeblichen Erfolge Morales’ brüchig und langfristig nicht von Bestand sein konnten.
Die Zusammensetzung der bolivianischen Bevölkerung ist sehr heterogen. Die Verfassung erkennt neben Mestizos und Weißen 38 verschiedene indigene Bevölkerungsgruppen an. Obwohl das allgemeine Wahlrecht infolge der „Revolución Boliviana“ im Jahr 1952 – der einzigen Revolution in Lateinamerika mit Unterstützung der USA – eingeführt wurde, blieb die Politik jahrzehntelang in den Händen einer kleinen, weißen Elite (selbst wenn gerade keine Diktatur das Land beherrschte). Die Rechte und Bedürfnisse der Ureinwohner wurden nicht selten ignoriert. Korruption und Merkantilismus gehörten zum alltäglichen politischen Geschäft, politische wie wirtschaftliche Entscheidungen wurden häufig unter Druck der US-Regierung getroffen.
Vom Staatskapitalismus zur „Neoliberalen Ära“
Nach der Revolution erlebte Bolivien eine erste Periode des Staatskapitalismus. Diese Zeit, charakterisiert durch die Misswirtschaft des Staates, endete abrupt 33 Jahre später mit einer der höchsten Inflationsraten der Geschichte. Zwischen Mai 1985 und August 1985 erreichte die jährliche Inflationsrate 60.000%. Nach einem Regierungswechsel wurde die Hyperinflation in nur zehn Tagen gestoppt, ein neuer Wirtschaftskurs folgte in den anschließenden Jahren. Das politische System und die Wirtschaftsstruktur durchliefen tiefgreifende Veränderungen: Nach dem Scheitern des Staatskapitalismus wurde rasch klar, dass Bolivien seine Wirtschaft einer immer globalisierteren Welt öffnen musste. Staatliche Konzerne wurden teil- oder sogar ganz privatisiert. Der wichtigste unter diesen, YPFB, ein Erdöl- und Erdgasunternehmen, generiert bis heute einen Großteil der staatlichen Einnahmen. Darüber hinaus sollten Güterpreise, Zinssätze und Wechselkurse nicht mehr von bürokratischen Institutionen festgesetzt werden, sondern sich frei nach Wirtschaftssignalen richten. Die Rolle des Staates in der Wirtschaft wurde beschränkt und Bolivien wurde wieder attraktiv für ausländische Investitionen. Die Blütezeit dieser heute als „Neoliberale Ära“ bekannten Periode dauerte bis 2002. Die damaligen Entscheidungen begünstigten die wirtschaftliche Entwicklung, jedoch schaffte es die politische Elite nicht, die damit einhergehenden sozialen und politischen Spannungen zu vermindern. Der wachsende Widerstand der indigenen Bevölkerung setzte das politische System neuerlich unter Druck, die Altparteien verloren an Glaubwürdigkeit.
Nach der sogenannten Guerra del Gas, die mit 60 Toten endete, trat Präsident Sánchez de Lozada 2003 zurück und flüchtete in die USA. Sein Vizepräsident Carlos Mesa übernahm die Nachfolge, jedoch fanden die Konflikte noch immer kein Ende. Um die Demonstranten zu beruhigen, beschloss Mesa im Jahr 2005 ebenfalls zurückzutreten. Mit ihm traten auch alle seine verfassungsmäßigen Stellvertreter zurück, wodurch Rodríguez Veltzé, der Oberste Richter des Gerichtshofes, als vorläufiger Präsident amtieren musste. Dieser berief Neuwahlen für Dezember 2005 ein.
Morales' Wahlkampf war durch antiamerikanische und antikapitalistische Positionen charakterisiert.
Evo Morales, der bereits gewählter Abgeordneter war, spielte eine führende Rolle während der Proteste und kündigte an, für den Präsidentenposten zu kandidieren. Sein Wahlkampf war durch antiamerikanische und antikapitalistische Positionen charakterisiert. Er versprach die sofortige Beendigung der Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Antidrogenbehörde „Drug Enforcement Administration“ (DEA), sowie die Verstaatlichung von bedeutenden Konzernen und die Einbeziehung der indigenen Bevölkerung.
Das allmähliche Ende des privaten Unternehmertums
Im Dezember 2005 gewann Morales die Wahlen mit überwältigendem Erfolg. Eine seiner ersten Aktionen war die Verstaatlichung der Öl- und Erdgasgesellschaft YPFB, wie er es im Wahlkampf versprochen hatte. Dieser folgte die Verstaatlichung dreizehn weiterer Konzerne. Nach fast zwanzig Jahren kehrte die Wirtschaft Boliviens zurück zu einem System des keynesianischen Staatssozialismus, ähnlich der Zeit zwischen 1952 und 1985. Dank der strategischen Verstaatlichung von Bergbau-, Erdgas- und Erdölunternehmen sowie den gleichzeitig steigenden Preisen dieser Rohstoffe auf dem Weltmarkt, verfügte der bolivianische Staat plötzlich über höhere Einnahmen als in den Jahren zuvor.
Zwischen 2006 und 2016 wies der bolivianische Staat Einnahmen in Höhe von ca. 33 Milliarden US-Dollar durch den Export von Erdgas auf. Zwischen 2006 und 2013 verfügte der Staat über einen durchschnittlichen jährlichen Überschuss von 1.7%. Diese Überschüsse wurden in staatliche Unternehmen investiert. 2017 gehörten 36 Unternehmen – viele davon neu gegründet – der staatlichen Hand. Die öffentlichen Investitionen versechsfachten sich über fünfzehn Jahre, im Haushalt 2019 wurden ungefähr elf Milliarden US-Dollar für Instandhaltung staatlicher Unternehmen bereitgestellt, davon 415 Millionen US-Dollar nur um Gehälter zu bezahlen. Aber die Probleme der ineffizienten Bürokratie und Misswirtschaft ließen nicht lange auf sich warten, Unternehmen wie Quipus – das Laptops und Handys „Made in Bolivia“ produziert – konnten selbstverständlich nicht mit der internationalen Konkurrenz mithalten. Jedoch lies der Staat solche Unternehmen weiterproduzieren. Allein in dieser Zeit wurden acht staatliche Unternehmer insolvent, im Jahr 2019 wiesen die (noch) lebenden Unternehmen Einnahmen in Höhe von 7 Milliarden US-Dollar auf, demgegenüber standen Ausgaben in der Höhe von 7,8 Milliarden US-Dollar. Diese Zombie-Unternehmen brachten weitere Probleme für die Wirtschaft mit sich: Da sie keine Profite nachweisen mussten, bestand eine Wettbewerbsverzerrung gegenüber privaten Unternehmen, die ihre Dienstleistungen und Produkte nicht langfristig unter dem Produktionswert anbieten konnten. Dank des nichtexistenten Wettbewerbs meldeten mehrere private Unternehmer, besonders im Sektor der Milch- und Papierprodukte, wie auch verschiedene Fluggesellschaften Insolvenz an.
Nachdem die Rohstoffpreise im Jahr 2013 sanken, konnte die bolivianische Wirtschaft die Realität nicht länger verdrängen: Jahre misslungener Diversifizierung der Wirtschaft und der Abschreckung privater Investoren hatten Wirkung gezeigt. Um die BIP-Wachstumsrate – als politische Maßnahme – trotz wachsendem Haushaltsdefizit konstant zu halten, beschloss die Regierung, sich noch stärker zu verschulden. Seit 2006 hat sich die Auslandsverschuldung fast vervierfacht, 2019 lag sie auf einer Höhe von 11 Milliarden US-Dollar, ein historischer Höhepunkt. Zwischen 2006 und 2014 nahm die Inlandsverschuldung des Banco Central de Bolivia (BCB) um 1,102% zu, 2019 lag sie bereits bei 4,8 Milliarden US-Dollar. Die Währungsreserven der Zentralbank lagen 2015 bei 15 Milliarden US-Dollar, drei Jahre später waren sie auf 9 Milliarden geschrumpft. Der künstliche Boom verschwand, die durchschnittlichen Haushaltsdefizite der vergangenen drei Jahre überschreiten die konstanten Überschüsse der acht vorhergehenden Jahre. Dieses System verpflichtet den Staat, sich jedes Jahr neu zu verschulden, um die Wirtschaft am Laufen zu halten.
Doch das sind nicht die einzigen Fehler der Wirtschaftspolitik dieser Jahre: Durch die hohen bürokratischen Hürden und relativ hohen Steuern können sich viele Kleinst- und Kleinunternehmer nicht gesetzesgemäß registrieren. Selbst der Regierung zufolge arbeiten 77 von 100 Bolivianern im sogenannten informellen Sektor, ohne Sozialabgaben zu zahlen, d.h. ohne Anspruch auf Entschädigungen oder Abfindungen. Laut dem Index of Economic Freedom der amerikanischen Heritage Foundation gehört die bolivianische Wirtschaft infolge staatlicher Repression zu einer der unfreiesten der Welt. Im Ranking der Wirtschaftsfreiheit belegt sie Platz 175 von 180 Staaten, nur besser positioniert als Kuba und Venezuela in Lateinamerika. Unternehmer zu sein, zahlt sich hier nicht aus.
Das Scheitern des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“
Die staatliche Kontrolle beschränkte sich nicht nur auf die Wirtschaft. Um die Kritik an seiner Regierung einzudämmen, beschnitt Morales zunehmend die Freiheitsrechte der Bolivianer. Der World Press Freedom Index setze Bolivien 2019 auf die Position 113 bezüglich Pressefreiheit und staatliche Zensur. Seit 2011 weist der Human Freedom Index des Cato Institute und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit eine fallende Tendenz der Freiheitsrechte für Bolivien (Position 97 von 162 analysierten Ländern) auf. Politiker der Opposition wurden systematisch verfolgt, viele mussten aus dem Land fliehen, andere landeten im Gefängnis. Die politische Spannung spaltete das Land, die produktiveren und reicheren Departamentos im Osten des Landes wurden zu Bastionen der Opposition. Die Departamentos im Westen, unterentwickelt und mit einer indigenen Mehrheit, wurden zum Klientel von Morales’ Partei. Die völkischen Parolen von Morales hinterließen tiefe Risse in der bolivianischen Gesellschaft, Diskriminierung zwischen Bürgern vom Westen und Osten gehören zum Alltag.
Im Jahr 2009 wurde Morales mit 64 % der Stimmen wiedergewählt. 2014 kandidierte er für ein drittes Mandat, obwohl die Verfassung eine Amtszeitbeschränkung auf zwei Legislaturperioden vorsieht. Jedoch war 2009 eine neue Verfassung verabschiedet worden und nun argumentierte Morales, er hätte nur eine Amtszeit unter der neuen Verfassung hinter sich und wäre daher berechtigt, ein drittes Mal zu kandidieren. Die Wahlen gewann er mit 61% der Stimmen. Nach drei Amtszeiten entschied Morales 2016 ein Verfassungsreferendum einzuberufen, und versuchte so, die Amtszeitbeschränkung aufzuheben. Zu Morales’ Überraschung wurde der Änderungsvorschlag vom Wahlvolk abgelehnt – sechs der neun Departamentos stimmten dagegen. Damit verlor Morales das erste Mal eine landesweite Wahl. Da er aber alle staatlichen Institutionen unter seiner Kontrolle hatte, entschied der Oberste Gerichtshof im Jahr 2017, die Amtszeitbeschränkung abzuschaffen. Das Gericht berief sich dabei auf die amerikanische Menschenrechtskonvention, sodass Morales 2019 ein viertes Mal kandidieren konnte.
Statuen von Morales und dem ehemaligen venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez wurden vernichtet.
Die Jahre nach dem Referendum wurden von Korruptionsskandalen überschattet. Auch die Verschlechterung der Wirtschaft schwächte Morales‘ Einfluss. Die Wahlen im Oktober 2019 wurden zum Skandal: Die oberste Wahlprüfungskommission hörte mit der Publikation der Wahlergebnisse auf, als erst 80% der Stimmen ausgezählt waren und sich offensichtlich eine Stichwahl zwischen Morales und dem ehemaligen Präsidenten Mesa abzeichnete. Zwei Tage später teilte der Gerichtshof dann das Endergebnis mit: Morales habe doch in der ersten Runde gesiegt. Das Volk klagte über mehrere Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung und warf Morales Wahlbetrug vor. Die Bolivianer liefen auf die Straßen, das Land war wochenlang wie paralysiert. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die in der Vergangenheit eine Pro-Morales-Position eingenommen hatte, entschied sich ein Audit durchzuführen, während Millionen von Menschen in allen neun Departamentos protestierten. Die OAS veröffentlichte den Audit, und bestätigte damit, dass die Stimmenzählung viele Unklarheiten aufwies und ein Wahlbetrug sehr wahrscheinlich war. Das digitale Magazin „Republik“ veröffentlichte einen ausführlichen Artikel über die Ereignisse nach der Wahl. Die Polizei, die zuvor die Demonstranten mit Gewalt unterdrückt hatte, weigerte sich nun, dies weiterhin zu tun. Der Rücktrittsforderung gab Morales am 10. November schließlich nach und floh sofort nach Mexiko. Nach neunzehntägigen Protesten feierten die Bolivianer Morales’ Rücktritt. Statuen von Morales und dem ehemaligen venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez, der ebenfalls sozialistischen Ideen gehuldigt hatte, wurden vernichtet.
Eine Übergangsregierung von Experten und Oppositionspolitikern übernahm die Macht und bereitet seither Neuwahlen vor. Nach 14 Jahren der wachsenden Unterdrückung erkannte eine junge Generation, die keinen anderen Präsidenten als Morales erlebt hatte, das Elend des Sozialismus und entschied sich für eine freiere Zukunft zu kämpfen. Ob die Wahlen eine Richtungsänderung mit sich bringen werden, ist abzuwarten. Eines aber ist klar: die Generation Evo hat genug vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts.
Im Rahmen seines Bildungsangebotes und als Investition in die Zukunft unterstützt und fördert das Austrian Institute besonders talentierte Jungautoren und -autorinnen, wie den Verfasser dieses Artikels, indem es ihnen die Möglichkeit zu publizieren gibt. Wie bei allen anderen Beiträgen achten wir dabei immer auf stilistische wie auch inhaltliche Qualität.