„Deutsch sein, heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun“
(Kurt Tucholsky).
Deutschland will den Europäischen Bundesstaat, sagt die neue Koalition in Berlin. Der ungerührte Beobachter aber sieht im deutschen Antrieb hinter EWG, EG und EU seit 1958 eine bewusst-unbewusste Selbstopferung des deutschen Staates, die von den lateinischen Mitgliedern ausgenutzt wurde und wird. Als vorläufiges Ende heute, noch ohne Bundesstaat, kann Deutschland von überschuldeten, reformunwilligen Mitgliedern überstimmt werden, garantiert aber deren unerhörten Schuldenberg.
Die sechzehn Jahre der Regierung Merkel/SPD haben Deutschland in eine pfadabhängige Garantenlage gebracht, die uneinbringliche Schulden reformunwilliger oder -unfähiger Staaten deckt.
Ungerührt muss politische Analyse sein, nicht mit „Freude, schöner Götterfunkten“ betrieben, und nicht, wie auch für Frankreich der Autor Aquilino Morelle diagnostiziert – mit „Europäismus als einer Religion“.
Deutschlands schrittweise Unterwerfung
Der erste Schritt der Unterwerfung begann schon 1958, weil Deutschland einem folgenreichen Schnörkel im Vertrag zustimmte – dass nämlich künftige Sozialregeln „im Sinne des Fortschritts“ zu erlassen seien. Im Klartext sollten die schon damals unsinnig hohen französischen Arbeits- und Sozialnormen auf die anderen EWG-Mitglieder übertragen werden, ohne dass Frankreich diese zurück buchstabieren musste.
Als dann die EWG-Institutionen eingerichtet waren, schritt der Gerichtshof schnell zur Sache. 1964 setzte er das Gemeinschaftsrecht über jenes der Mitgliedstaaten, 1970 dann über deren Verfassungen. Gleichzeitig begann die EU-Kommission an den geforderten einstimmigen Entscheiden zu rütteln. Protest kam nicht aus Deutschland, sondern Frankreichs Präsident de Gaulle boykottierte ab 1965 alle Sitzungen und Entscheide, bis 1966 das Reden von einer „europäischen Föderation“ fallen gelassen wurde und weiterhin ein Veto möglich blieb gegen alle Entscheide eines „in seinen nationalen Interessen betroffenen Landes“.
Die Euro-Turbos in Brüssel resignierten vorerst für zwanzig Jahre, Kommissionspräsident Jacques Delors forcierte seinen „Binnenmarkt 1992“ nur dank des Gerichtsentscheids von 1979 mit dem liberalen „Cassis-de-Dijon-Prinzip“. Demgemäß waren alle nationalen Produktvorschriften anerkannt, alles konnte exportiert werden, ein kontinentaler Freihandelsraum ohne weitere Regeln war entstanden. Nun reagierten aber die Föderatoren – 1986 beschlossen die Mitglieder das Mehrheitsprinzip für Fragen des Binnenmarkts, in der Einheitlichen Europäischen Akte. Das klang harmlos, aber damit legte die EU-Kommission nach. Nicht mehr voraussetzungsloser Freihandel sollte walten, sondern harmonisierte Regeln. Eine Welle hunderter detailliertester Richtlinien folgte.
„Binnenmarktnotwendige“ Regulierungen
Ein noch anhaltender Schachzug verschärft dies – die Kommission, immer gedeckt durch den Gerichtshof – bezeichnet seither alles als „binnenmarktnotwendig“. Ohne dass die Verträge das vorsahen, regelte man nun maximale Arbeitszeiten, Mitbestimmung, bezahlte Arbeitswege, Finanzdienste, das „Droit de suite“ für Kunstwerke. Im Moment hängig sind Vorstöße der Kommission, um die Kompetenzen für Steuersätze auf Unionsebene zu hissen.
Nicht nur sehen die Verträge solches nicht vor, sondern diese Kompetenzanmaßungen verletzen ausdrücklich den Art. 4 des Lissabonner Vertrags, welcher „alle der Union nicht übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten“ behält. Kommission und Gerichtshof haben die Verträge mannigfach verletzt und die „Kompetenzkompetenz“ nach Brüssel verlagert. Das aber bedeutet Staatlichkeit – die Kompetenz, die Kompetenzen selbst festzulegen.
Damit wurde Deutschland in diesen Fragen vergemeinschaftet, seine liberaleren Normen überstimmt. Proteste hörte man nur aus England.
Die Eurokrise – Vollendung der Vergemeinschaftung und Deutschland als Zahlstelle
Vollends vergemeinschaftet wurde Deutschland als Zahlstelle seit der Eurokrise. Schon der Euro wurde von einem geheimen Komitee unter Delors – gegen mannigfache Proteste des Bundesbankchefs Karl-Otto Pöhl ausgearbeitet. Der Historiker Harold James hat diese Scharade detailliert dargestellt. Die Deutschen gedachten daraus eine Währung so hart wie ihre D-Mark zu machen, dank der engen Maastricht-Kriterien. Wer zu viel Defizite und Schulden machte, sollte eine „interne Abwertung“ vollziehen müssen, Ausgaben kürzen, Schulden rückzahlen.
Doch keines der südeuropäischen Länder und auch nicht Frankreich scherten sich darum – und als in der Eurokrise 2009 die Schuldenexzesse bekannt wurden und die Zinsen darauf gegen 10% stiegen, signalisierte Kanzlerin Merkel die unbegrenzte Zahlungsbereitschaft Deutschlands mit „Scheitert der Euro, scheitert Europa“. Sie akzeptierte eine Geiselhaft Deutschlands als Zahlmeister, weil sie die falschen inneren Mechanismen des Euro nicht ändern wollte.
Denn wie Hans-Werner Sinn darlegte, liefen die Defizite des Südens ganz einfach in nicht einklagbaren Guthaben Deutschlands und Hollands auf (Target-2-Salden). In den USA müssen solche Verrechnungsschulden der regionalen Zentralbanken verzinst und Ende Jahr rückbezahlt werden. Das war Pfusch oder eine Falle, doch die deutschen Vertreter sahen das nicht. Ebensolche Pfuscharbeit war es, die Währung der 14 ehemaligen westafrikanischen Kolonien Frankreichs eins-zu-eins in den Euro-Währungsraum einzugliedern. Damit wurde ihre Exportfähigkeit zerstört, Frankreich hingegen schuf sich einen Hinterhof von 150 Millionen Menschen für seine Exporte, die Jungen müssen übers Meer auswandern. Auch das hat in Deutschland noch niemand beklagt.
Vertragsbrüche Schritt für Schritt und EU-Schuldenorgie
Die Euro-Schuldenkrise hat Deutschland nun aber nicht nur hinsichtlich der „Rechts“-Vorschriften zum Binnenmarkt, Arbeitsmarkt und Sozialraum dem übrigen Europa unterworfen, sondern das Land im Eiltempo zum Garantie-Staat der EU gemacht. Der erste Schritt war der Bruch von Art. 125 des Maastrichter Vertrages, wonach Hilfen an Mitgliedsländer verboten sind. Die enormen Hilfspakete wurden durchgewunken, vermittelt durch den – heute so genannten – ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus), der in der Covid-Krise zweitens plötzlich auch eine Banklizenz erhielt und nun Geld schöpfen kann. Dass es so kommen würde, wurde bei seiner Gründung 2012 aufs Heftigste und öffentlich von der gesamten Bundesregierung bestritten.
Den dritten Schritt machte Mario Draghi, EZB-Chef, der mit seinem berühmten „whatever it takes“ den unbeschränkten Aufkauf der Staatsschulden, und damit die Zinssenkung auf null und darunter, ankündigte. Der vierte Schritt sind die 750 Milliarden neuer Schulden zum Nach-Covid-Aufbau, welche von den EU-Mitgliedern kollektiv aufgenommen und an den Süden verteilt werden sollen. Der fünfte Schritt ist das beschlossene Budgetprogramm der EU, in den nächsten zehn Jahren tausend Milliarden Schulden zu machen. Auch solche Schulden der EU sind ihr durch den Art. 310 ff. des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) klar verboten.
Der sechste – künftige – Schritt leitet sich konsequent daraus ab: nun will die EU erstmals Steuerkompetenzen erhalten, um diese Schulden bis 2058 (!) zu bedienen – endlich als Staat mit eigenen Steuern. Dies ist mit dem anrollenden Schuldenberg als Zugzwang schon eingeleitet, und zwar ganz ohne deutsche Vorbehalte.
Von der kollektiven Schuldübernahme zum drohenden Souveränitätsverlust
Die Garantien, Haftungen Deutschlands aus ESM, Investitionsbank EIB, Covid-Krediten, Target-Salden, EZB-Aufkäufen und künftigen EU-Budgetschulden machen des Landes Anteile an nunmehr total ca. 3.000 Milliarden Euro aus. Hinzu kommen über 3.100 Milliarden durch die EZB aufgekaufte Staatsschulden, von mehrheitlich hoch verschuldeten Mitgliedern. Diese Garantien Deutschlands sind in wechselnden Formen haftendes Kapital bei der EZB (21,4%), im ESM von 26,8% (mit Blockierstimme), aber bei den allgemeinen EU-Schulden haftet Deutschland „zur gesamten Hand“ für die 1.750 Milliarden EU-Schulden – der Letzte, der zahlen kann, zahlt alles.
Des Wahnsinns Rückseite ist die „Mitgarantie“ dieser Summen durch die begünstigten und überschuldeten Mitgliedsländer in wechselnden Pflichten und ihren Kapitalanateilen bis zusammen von ca. 50 Prozent ihrerseits in ESM, EZB, EIB. Letztlich haben jedoch diese austarierten Garantien aufgrund der Stimmenverhältnisse keine Bedeutung, weil eine Kreditkrise der Union von Deutschland als solventem Mitglied voll auszubaden sein wird. Außerdem wurden alle Pflichtkriterien der Schuldnerländer aufgeweicht, teils wegbedungen.
Gegen diese kollektive Schuldenübernahme und diese Geldschöpfung, ja gegen die mehrfachen Vertragsbrüche wandten sich einige wenige deutsche Kritiker an das Bundesverfassungsgericht, das sich zuerst mehrmals, etwas feige, leicht kritisch gegen die Praktiken der EZB gebärdete, den Ball dann aber einfach an den Bundestag weiterreichte – er solle die deutschen Verpflichtungen einschränken. Der Bundestag aber winkte die von der Regierung Merkel bedingungslos signalisierten Stützungen immer durch, als ihr verpflichtete „Kanzlermehrheit“… Es lief gemäß dem Spruch Karl Valentins, „Mögen hätt’ ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut“. Aber als endlich das Verfassungsgericht im Mai 2020 die EU/EZB-Praktiken als „ultra vires“, als nicht durch die Verträge gestützt einstufte, reagierte Brüssel: Mit einer Klage gegen Deutschland. Seither ducken sich die verantwortlichen Lenker eines stolzen Landes, das 962 als „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ souverän gegründet wurde. Wenn Deutschlands Organe heute nicht sofort aufstehen, ist diese Souveränität verspielt.
Deutsche Selbst-Entrechtung und Überleben der EU durch Gelddrucken
Denn einerseits machen die nun garantierten Summen zugunsten der Schuldnerländer Deutschland pfadabhängig, was nur mit dem Brecheisen noch geändert werden kann. Denn das „Brecheisen“ würde heißen, die fauligen Verhältnisse – Reformunwilligkeit des Südens und Frankreichs, ihre Riesenschulden – anzugehen, um den Preis des Euro-Austritts im Norden oder Süden. Diese Austritte sind dereinst wahrscheinlich, weil die Schieflagen im Süden, die Garantien im Norden das Parteiengefüge überall zerstören und die Ränder des Parteienspektrums befördern werden.
Andererseits hat Deutschland seiner laufenden Entrechtung durch die Stimmenquoten der EU-Institutionen zugestimmt. In allen Gremien haben heute die Schuldnerländer die Mehrheit der Stimmen oder, bei qualifiziertem Mehr, eine Blockademöglichkeit. Deutschland-Holland-Finnland können überstimmt und vor den Schuldenkarren gespannt werden. Die Briten, schon mal nicht im Euro, sagten auch für den Rest des Überstimmt-Werdens bye-bye. Die verbleibende EU, vor allem der engere Euroraum können nur noch durch Gelddrucken überleben. Die Schulden fällig zu stellen, geht nicht mehr.
Zusammengefasst – die sechzehn Jahre der Regierung Merkel/SPD haben Deutschland in eine pfadabhängige Garantenlage gebracht, die uneinbringliche Schulden reformunwilliger oder -unfähiger Staaten deckt. Länger noch, seit 1958 haben deutsche Politiker eigentlich nie Staatsraison geübt, also nationale Interessen oben angesetzt. Das „Büßerhemd“ nach 1945 war dafür zuallererst schuld, ebenfalls aber auch das Interesse an einem Freihandelsraum für deutsche Exporte. Ein Freihandelsraum aber war und ist durchaus „europagenügend“. Dann aber kam das Europafieber auf, eine idealistische Politik wie immer wieder im deutschen Reiche, im Guten oder Schlechten, Idealismus statt Realismus. Staatsraison ist in Deutschland verpönt, die frägt, was bringt’s, was kostet’s. Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland pflegen diese Staatsraison und finden die ihre perfekt bedient in der vergemeinschafteten EU mit Deutschland als Zahlmeister.