Es hat sich gezeigt: Die Wirtschaftswissenschaft beschäftigt sich mit den langfristigen, mittelbaren und allgemeinen Folgen. „Sie ist eine Wissenschaft, welche die Auswirkungen einer geplanten oder bestehenden Maßnahme nicht nur auf einige bestimmte Interessen und kurzfristig verfolgt, sondern auf die allgemeinen Interessen und langfristig.“
Wie in der Logik erkennt die Wirtschaftswissenschaft unvermeidbare Folgerungen
Als Wissenschaft von Auswirkungen erkennt die Wirtschaftswissenschaft so wie die Logik und die Mathematik unvermeidbare Folgerungen. Zum Beispiel lautet, wenn x = 5 ist, die Lösung für die algebraische Gleichung x + y = 12 klarerweise: y = 7. Tatsächlich sagt uns die Gleichung, dass y gleich 7 ist. „Sie macht diese Aussage zwar nicht direkt, sie schließt das Resultat folgerichtig ein, sie impliziert es.“
Das Problem im Ganzen zu sehen und nicht in Bruchstücken, das ist das Ziel der Wirtschaftswissenschaft.
Für die Wirtschaftswissenschaft gilt demnach wie in der Mathematik: „Die Antwort liegt bereits in der Darstellung des Problems.“ Auch bei komplizierteren Gleichungen muss ebenso wie bei einfacheren Gleichungen das Ergebnis erst richtig „herausgearbeitet“ werden. Auch wenn das Resultat in der Darstellung implizit enthalten ist, ruft es mitunter ungläubiges Staunen hervor. „[Die] Mathematik führt uns vor Augen, dass natürliche Folgerungen nicht immer auch offensichtliche Folgerungen sind.“
All das gilt auch für die Wirtschaftstheorie.
Der Wirtschaftswissenschafter muss wie ein Ingenieur die für ein Problem relevanten Fakten und maßgeblichen Folgerungen erkennen
Man kann die Wirtschaftstheorie auch mit dem Ingenieurwesen vergleichen: „Wenn ein Ingenieur ein Problem hat, muss er zunächst sämtliche Fakten bestimmen, die für dieses Problem von Belang sind.“ Beispielsweise muss er für den Bau einer Brücke die Entfernung zwischen den beiden zu verbindenden Punkten kennen, und ebenso ihre Topografie, die maximale Belastung, der die Brücke ausgesetzt sein wird, die Zug- und Druckkräfte, die auf die Materialien der Brücke wirken usw.
„Genauso muss der Wirtschaftstheoretiker bei einem praktischen Problem sowohl die wesentlichen Fakten im Zusammenhang mit diesem Problem wie auch die maßgeblichen Folgerungen kennen, die sich daraus ableiten lassen. Diese deduktive Seite ist bei wirtschaftlichen Fragen nicht weniger wichtig als die faktische.“
Oft erkennt man die notwendigen Folgerungen einer wirtschaftlichen Maßnahme nicht, weil man ihre Kehrseite ausblendet
„Nun erkennen aber nur wenige die notwendigen Folgerungen, die sich aus ihren ständigen wirtschaftlichen Aussagen ergeben.“ Dabei blenden sie die Kehrseite ihrer Aussage aus, auch wenn diese implizit schon in ihr enthalten ist. Beispiele gibt es zuhauf:
„Wenn sie erklären, der Weg zu wirtschaftlicher Gesundung bestehe darin, die Kredite auszuweiten, ist das so, als würden sie sagen, der Weg zu wirtschaftlicher Gesundung sei der, mehr Schulden zu machen. Denn das sind unterschiedliche Bezeichnungen für den gleichen Sachverhalt, nur von verschiedenen Seiten gesehen.“ Wer zur Mehrung des Wohlstands die Landwirtschaftspreise erhöht, verteuert gleichzeitig die Nahrungsmittelt für die Arbeiter in den Städten. Wer staatliche Subventionen fordert, verlangt – sofern alles andere gleichbleibt – gleichzeitig eine Erhöhung der Steuern. Wer eine Erhöhung der Exporte fordert, macht damit gleichzeitig auch die Erhöhung der Importe zum Hauptziel. Ebenso bedeutet eine Anhebung der Löhne gleichzeitig eine Erhöhung der Produktionskosten.
Jede dieser Maßnahmen hat, wie eine Münze, eine Kehrseite, die weniger attraktiv aussieht. Deshalb müssen sie nicht immer falsch sein. Unter bestimmten Bedingungen können sie sich als sinnvoll erweisen. Nur sollten wir darauf achten, „dass in jedem Fall beide Seiten der Medaille berücksichtigt, dass sämtliche Folgen einer Anregung geprüft worden sind. Und eben das wird selten getan.“
Werden die Auswirkungen auf alle Gruppen untersucht, entsprechen die Ergebnisse oft dem gesunden Menschenverstand
Noch etwas anderes wurde deutlich: „Wenn wir die lang- und kurzfristigen Auswirkungen verschiedener Anregungen nicht nur auf bestimmte, sondern auf alle Gruppen studieren, entsprechen die Ergebnisse, zu denen wir kommen, oft dem, was der gesunde Menschenverstand uns sagt.“ Niemals wird man dann zum Schluss kommen, Zerstörung sei Gewinn, ein nutzloses öffentliches Projekt etwas anderes als Verschwendung, eine Maschine, die mehr Wohlstand schafft, gefährlich, Behinderung der freien Produktion gut für den Wohlstand, oder Verschwendungssucht ein Weg zu mehr Reichtum.
Vertrautheit mit der Wirtschaftstheorie führt letztlich zum gesunden Menschenverstand. „Was vernünftig ist, wenn es um die Führung einer Familie geht, kann kaum unsinnig sein, wenn es um die eines großen Königreichs geht“, erklärte bereits Adam Smith.
Der US-amerikanische Soziologe William Graham Sumner (1840 – 1910) erinnert in seinem gleichnamigen Aufsatz an den „Forgotten Man“: A und B betrachten das Leiden von X und besprechen, was C für X tun soll: „Was ich vorhabe, ist C aufzuwerten … Ich nenne ihn den vergessenen Mann … Er ist derjenige, an den nie gedacht wird. Er ist das Opfer der Reformer, Gesellschaftstheoretiker und Philanthropen“.
Der Irrtum, mit dem sich dieses Buch befasst, tritt systematisch auf und ist eine Folge der Arbeitsteilung
Der Fehler, immer nur die unmittelbaren Auswirkungen einer Maßnahme auf eine bestimmte Gruppe zu sehen, nicht aber ihre mittelbaren Auswirkungen auf alle Gruppen, kommt systematisch vor. „Er ist tatsächlich beinahe zwangsläufig die Folge der Arbeitsteilung.“
Ohne Arbeitsteilung – also in einer primitiven Gemeinschaft oder unter Siedlern – „arbeitet der Mann nur für sich selbst oder seine Familie. Was er verbraucht, ist identisch mit dem, was er erzeugt. Zwischen dem Ergebnis seiner Arbeit und der Befriedigung seiner Bedürfnisse besteht ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang. Aber sobald nur in kleinen Teilen eine durchdachte Arbeitsteilung einsetzt, beginnt dieser direkte und unmittelbare Zusammenhang abzubröckeln. Ich erzeuge nicht mehr alles selbst, was ich verbrauche, sondern vielleicht nur noch ein Produkt. Von den Erträgen, die ich dadurch erziele, dass ich dieses eine Gut herstelle oder diese eine Dienstleistung erbringe, kaufe ich alles Übrige.“
Nun hat jeder Akteur seine Eigeninteressen. Jeder wünscht, dass die Preise von allem, was er kauft, niedrig sind, während die Preise für das, was er verkauft, möglichst hoch sind. So wünscht er, dass die anderen Produkte reichlich vorhanden, die eigenen von ihm angebotenen Produkte aber besonders knapp sind. Ein Weizenbauer, dem es ohne Skrupel nur um seinen eigenen materiellen Vorteil geht, hofft daher, „dass alle anderen Weizenbauer so wenig wie möglich ernten.“ Nur so erlangt der eigene Ernteertrag den höchstmöglichen Preis.
Solange die Bedingungen des freien Wettbewerbs aufrechterhalten werden, arbeiten wir nicht nur im Eigeninteresse, sondern gleichzeitig im Interesse der Gesamtheit
„Wo Wettbewerb herrscht, ist jeder Produzent gezwungen, seine ganze Kraft einzusetzen, damit sein Boden einen möglichst hohen Ertrag abwirft. So werden die auf das eigene Interesse gerichteten Kräfte, die im Guten oder Schlechten stärker als die des Altruismus sind, im Sinne einer größtmöglichen Produktionsmenge genutzt. Aber falls es den Weizenanbauern oder irgendwelchen anderen Produzenten gelingt, sich zusammenzuschließen, um den Wettbewerb auszuschalten, und wenn der Staat ein solches Vorgehen duldet oder gar begünstigt, ändert sich die Situation.“
So können die Weizenproduzenten beispielsweise durchsetzen, dass ihre Regierung – oder eine Weltorganisation – alle Produzenten zu zwingen, die Anbaufläche für Weizen anteilsmäßig zu verkleinern. Durch die so entstehende Knappheit führen sie einen Preisanstieg herbei, der – falls der Rückgang der Ertragsmenge nicht proportional größer ist – den Weizenanbauer besser dastehen lässt. „Alle anderen Bürger dagegen stehen schlechter da, weil … jeder mehr von dem, was er produziert, hergeben muss, um weniger von dem zu erhalten, was die Weizenproduzenten herstellen. Das Land als Ganzes ist also um eben so viel ärmer. Es ist um die Menge Weizen ärmer, die nicht angebaut worden ist.“
In einem arbeitsteiligen System ist Fortschritt, der zumindest vorübergehend bestimmten Personen nicht schadet, kaum denkbar
Gewinner und Verlierer gibt es grundsätzlich bei sämtlichen Veränderungen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Wegen günstiger Wetterbedingungen kann die Orangenernte besonders gut ausfallen – zum Vorteil der Konsumenten, da Orangen nun billiger werden, möglicherweise aber zum Schaden für den Anbauer von Orangen (sofern die unter solchen Umständen geerntete Menge Orangen nicht größer als gewöhnlich ist).
Es gibt unzählige weitere Beispiele: „Eine neue Erntemaschine für Baumwolle senkt zwar vielleicht die Preise für Baumwollunterwäsche und ‑hemden für alle und steigert vielleicht auch den Wohlstand allgemein, bedeutet aber gleichzeitig, dass weniger Baumwollpflücker beschäftigt werden. … Die weitere Entwicklung der Kernenergie kann der Menschheit zwar ungeheure Segnungen bescheren, wird aber doch von den Besitzern der Bergwerke und Ölfelder mit Besorgnis verfolgt.“
Es sind nicht nur technische Verbesserungen, sondern ebenso gesellschaftliche, die einigen Personengruppen schaden. Nachlassendes Interesse am Glücksspiel oder mehr Abstinenz vom Trinken würden unzählige Wirte bzw. Casinos zur Aufgabe ihres Geschäfts zwingen. „Wenn es keine Verbrecher mehr gäbe, bräuchten wir nicht mehr so viele Anwälte, Richter und Feuerwehrleute, keine Gefängniswärter, Schmiede und sogar keine Polizisten mehr“.
Man kann festhalten: „In einem arbeitsteiligen System ist, kurz gesagt, kaum die größere Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses denkbar, die nicht wenigstens vorübergehend einige der Personen trifft, die investiert oder sich mühsam ein bestimmtes Wissen angeeignet haben, um eben dieses Bedürfnis zu befriedigen.“
Einzig bei gleichmäßig verteiltem Fortschritt fiele der Interessenskonflikt zwischen Gruppen nicht ins Gewicht – doch den gibt es nicht
Der Fortschritt müsste gleichmäßig verteilt sein, was aber noch nie in der Geschichte eingetreten ist: In dem Maße, in dem in einem Jahr beispielsweise die Weltweizenernte zunähme, müsste sich nicht nur der Ernteertrag des Weizenanbauers um das gleiche Verhältnis vergrößern, es müssten auch der Anbau aller anderen Landwirtschaftsprodukte und ebenso die Produktion aller Industriegüter entsprechend steigen. Mit anderen Worten: Es müssten die Preise aller anderen Güter in dem genau gleichen Verhältnis fallen, wie der des Weizens. Dann würde der Weizenanbauer in dem Maße besser dastehen, wie sein Ernteertrag zugenommen hat. Denn selbst wenn die Gesamtsumme aus dem größeren Ernteertrag aufgrund des gesunkenen Weizenpreises niedriger wäre, könnte er alles andere billiger kaufen und hätte keinen Grund zur Klage.
„Aber wirtschaftliches Wachstum ist noch nie auf so gleichförmige Art entstanden und wird es wahrscheinlich auch nie tun. Fortschritte gibt es heute in dieser Branche und morgen in jener.“
Tragödien Einzelner und die Lehre vom „Reichtum durch Knappheit“ verstellen den Blick auf das Ganze
Es gilt daher: „was für die Welt ein Gewinn ist, [ist] für mich und den Wirtschaftszweig, dem ich angehöre, eine Tragödie.“ Doch der Gewinn für alle – zum Beispiel mehr und billigeren Kaffee – geht in der öffentlichen Wahrnehmung leicht unter. „Gesehen wird nur, dass einige Kaffeeanbauer bei dem gesunkenen Preis nicht mehr ihren Lebensunterhalt bestreiten können.“
Zum Verständnis des Problems ist zweifellos unerlässlich, auch die missliche Lage der Verlierer zu sehen und herauszufinden, „ob man nicht einige der Gewinne dieses Spezialisierungsprozesses dazu verwenden kann, für die Opfer eine produktive Beschäftigung an anderer Stelle zu finden. Aber die Lösung kann nie darin bestehen, willkürlich das Angebot zu drosseln, Erfindungen oder Entdeckungen zu verhindern oder Menschen darin zu unterstützen, dass sie weiter eine Arbeit tun, die ihren Wert verloren hat.“ Genau das tun z.B. Schutzzölle oder die Zerstörung von Maschinen, gestützt auf „die unsinnige Lehre vom Reichtum durch Knappheit“.
Im privaten Bereich kann diese Lehre für eine isoliert lebende Gruppe gültig sein, für den öffentlichen Bereich ist sie immer falsch. Sobald man sich nicht mehr nur auf eine Gruppe konzentriert, sondern „die Interessen aller, der Verbraucher wie der Produzenten, berücksichtigt“, entpuppt sich diese Lehre als Täuschung. „Das Problem im Ganzen zu sehen und nicht in Bruchstücken, das ist das Ziel der Wirtschaftswissenschaft.“
Die hier gebotene, exklusiv für die AUSTRIAN ESSENTIALS erstellte Kurzfassung von „Die 24 wichtigsten Regeln der Wirtschaft“ erscheint mit Erlaubnis des FinanzBuch Verlags, bei dem auch die deutsche Fassung der 1978 erschienenen aktualisierten Neuauflage des Klassikers erhältlich ist.