Völkermord in der Ukraine? Die Angst einer westlich orientierten Nation vor ihrer Auslöschung

Der ukrainische Präsident Selenskyj wirft Russland einen „Genozid“, einen Völkermord an der Ukraine vor – und dies nicht erst im Zusammenhang mit dem Massaker von Butscha. Unterdessen mehren sich die Nachrichten von Massengräbern mit tausenden von zivilen Opfern. Doch belehrten Straf- und Völkerrechtler die Öffentlichkeit während der vergangenen Wochen darüber, dass die rechtliche Definition eines Genozids präzis und eng ist. Selbst einige tausend ukrainische Zivilisten, die von dem russischen Aggressor erschossen wurden, würden für eine solche Anklage nicht ausreichen. Allerdings mehren sich nun die Stimmen auch in westlichen Staaten, die von einem beginnenden Völkermord in der Ukraine sprechen

Die Angst, die Präsident Selenskyj und die Ukrainer umtreibt, ist nicht die physische Vernichtung der ukrainischen Ethnie, sondern die Vernichtung der Ukraine als Volk mit einer eigenen, von der russischen verschiedenen nationalen Identität und Kultur.

War Selenskyjs Vorwurf nach dem Massaker von Butscha eine maßlose Übertreibung oder einfach Stimmungsmache in der Absicht, mehr westliche Unterstützung zu erhalten? Nein, denn es gibt eine näher liegende Erklärung, die sich aus der Geschichte der Beziehung zwischen Russland und der Ukraine wie auch dem klar geäußerten Kriegsziel Putins einer „Entnazifizierung“ der Ukraine ergibt. Die Angst, die Präsident Selenskyj und die Ukrainer umtreibt, ist nicht die physische Vernichtung der ukrainischen Ethnie, sondern die Vernichtung der Ukraine als Volk mit einer eigenen, von der russischen verschiedenen nationalen Identität und Kultur, dem es nach jahrhundertelanger Bevormundung und Beherrschung endlich gelang, gegen den Willen des „großen Bruders“ Russland zu eigener nationalen Staatlichkeit zu finden.

Es ist die Angst vor der Auslöschung einer seit dem Mittelalter nach Westen orientierten Nation, der die in Russland dominierende eurasische Tradition der Autokratie fremd ist. Und es ist die Angst eines Volkes mit einer sich durch die Jahrhunderte hin durchhaltenden Identität, das sich aus den freiheitlich-egalitären Traditionen des Kosakentums und westlicher Bildungsinhalte speist.

Ethnische und nationale Differenzierung der „ungleichen Brüder“

Nachlesen kann man diese faszinierende und verschlungene Geschichte in dem 2017 im Münchner C.H. Beck Verlag veröffentlichten Buch „Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ des Schweizer Osteuropaexperten und emeritierten Geschichtsprofessors der Wiener Universität Andreas Kappeler. Es ist diese Jahr schon in 2. bis 4. Auflage erschienen – unverändert und ebenso unverändert aktuell. Das Buch zeigt: Russen – genauer „Russländer“ – und Ukrainer bilden zwei verschiedene Nationen mit verschiedenen Kulturen, auch wenn die Wiege beider die „Kiewer Rus’“ ist, ein im Jahre 988 zum orthodoxen Glauben konvertierter Herrschaftsverband. Er wurde von normannischen Warägern begründet, die als ursprüngliche Führungsschicht schon bald in der ostslawischen Stammbevölkerung aufgingen.

Doch im Laufe ihrer zweihundertjährigen Beherrschung durch die Mongolen „wurde die nordöstliche Rus’ vom übrigen Europa isoliert“. Die westliche und südwestliche Rus’ hingegen kamen während 300 bzw. 450 Jahren unter die Herrschaft des Großfürstentums Litauen bzw. des Königreichs Polen. Diese „Trennung auf unterschiedliche Staaten und Kulturräume“ – so Kappeler – „verstärkte die ethnische Differenzierung und schuf die Grundlage zur Formierung einer russischen und ukrainischen Nation.“

Im Osten folgte im 14. Jh. der Aufstieg Moskaus. In Konkurrenz zum Großfürstentum Kiew entstand das Großfürstentum Moskau.1547 wurde Ivan IV. (der „Schreckliche“) zum ersten Zaren gekrönt, legitimiert von der Orthodoxen Kirche „als unbeschränkter, nur Gott verantwortlicher Herrscher“. Die russländische Autokratie, inspiriert durch die mongolische, aber auch die byzantinisch-orthodoxe Tradition, die Russen und Ukrainern gemeinsam ist, festigte sich und expandierte allmählich zu einem multiethnischen Imperium, dessen Bürger nicht Russen (russkie), sondern Russländer (rossijane) hießen. Erst Putin begann wieder von „Russen“ zu sprechen und behauptet deshalb – historisch falsch –, überall, wo Russen leben, sei Russland.

Ukrainische Westorientierung und Allianz mit den Zaren

Im Gegensatz zu dem aus dem Moskauer Großfürstentum hervorgegangenen Russland gelang es den nach Westen hin orientieren Ukrainern aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu Polen-Litauen nie, eine eigene Staatlichkeit auszubilden. Das hinderte sie nicht daran, die Grundlagen für eine eigenständige nationale Identität heranzubilden und diese von ihrem Umfeld auch als solche anerkennen zu lassen. Ihre Kultur öffnete sich nach Westen. Es entstand eine eigene „ruthenische“ Literatursprache und ein ukrainisches Bildungswesen mit Kiew als blühendem Zentrum. Im Kiewer Mohyla-Collegium, einer gemäß Kappeler „glänzenden Bildungsstätte, die westliche Rationalität mit orthodoxer Spiritualität verband“, war noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Unterrichtsprache vorwiegend Latein.

Den ukrainischen Kosaken gelang es im 17. Jahrhundert, „den größten Teil der Ukraine von der Herrschaft Polens zu befreien“. Sie schufen das „Hetmanat“, einen ukrainischen Staatsverband „nach dem egalitären Muster der Kosakenheere“. Die Bauern wurden befreit und „zu freien Kosaken erklärt“. Im Kampf gegen das katholische Polen suchte man nun Unterstützung beim Zaren.

Mit der Vereinbarung von Perejeslav (1654) verband sich fortan die ukrainische mit der russländischen Geschichte. Es war eine „ungeliebte Allianz“, die von Moskau „mit dem Schutz der Orthodoxie und nicht etwa mit territorialen Ansprüchen auf das Erbe des Kiewer Rus’“ legitimiert wurde. Das sollte sich bald ändern, als die Moskauer Zaren sich als „Autokraten der ganzen Großen und Kleinen Rus’“ zu bezeichnen begannen und die Ukraine in ihr Herrschaftsgebiet einverleibten. Damit begann die dornenvolle und verschlungene Beziehungsgeschichte zwischen den aus der gemeinsam Wiege des „Kiewer Rus’“ stammenden, aber sehr ungleichen Brüder.

„Großrussen“ und „Kleinrussen“: Der große und der kleine Bruder

Zunehmend verächtlich als „Kleinrussen“ bezeichnet, wurden die Ukrainer als zwar liebenswertes und musikalisches, aber ungebildetes, Bauernvolk betrachtet. Auf jegliche Unabhängigkeitsbestrebung des „kleinen Bruders“ reagierte der „große“ abweisend und wenn nötig mit grausamer Härte. Klischees und divergierende nationale Narrative bildeten und verfestigten sich.  Dabei hatte die terminologische Unterscheidung zwischen „Groß-“ und „Kleinrussen“ einen ganz anderen Ursprung und nichts mit der Größe oder Bedeutung der beiden russischen Territorien zu tun. Sie bezeichnete allein die „Größe“ der geographischen Entfernung der beiden Teile der mittelalterlichen Rus‘ zum Sitz des orthodoxen Patriarchen in Konstantinopel.

Während der Prozess der russischen Nations- und Staatsbildung nach autokratischem Muster stetig voranschritt und sich ein russländisch-multiethnisches Imperium ausbildete, das mit der Eroberung der nördlich des Schwarzen Meeres liegenden und heute zur Ukraine gehörenden Gebiete und der Annexion der Krim (1783) unter Katharina der Großen ihren Höhepunkt erreichte, verpasste die Ukraine weiterhin die Ausbildung einer eigenen Staatlichkeit. Karriere konnten die Angehörigen ihrer Oberschicht nur in Russland machen, und das hieß auch, russisch zu sprechen. Das gemeine Volk – die Bauern – wurden nun zum Prototyp des Ukrainers. Das einst als eigene Literatursprache blühende Ukrainische galt nun als dialektale Form des Russischen.

Vom Erwachen des Nationalbewusstseins zur „Ukrainischen Volksrepublik“

In Erinnerung an die ukrainische Vergangenheit als westlich geprägte Kulturnation erwachte – nicht zufällig – im 19. Jahrhundert auch ein neues ukrainisches Nationalbewusstsein. Dies führte inmitten der Wirren der russischen Revolution 1917 zur Ausrufung der „Ukrainischen Volksrepublik“ (UNR) als Teil einer russländischen Föderation. 1918 folgte die Proklamation der Unabhängigkeit von Sowjetrussland und 1919 die Vereinigung mit der Westukrainischen Volksrepublik, die sich auf dem auf dem Gebiet des ehemals zur habsburgischen Doppelmonarchie gehörenden Galizien gebildet hatte.

Ebenfalls 1919 wurde die rote Armee aus Kiew vertrieben, doch die UNR bemühte sich vergeblich um Anerkennung durch die Pariser Friedenskonferenz. Sie besaß auch nur wenig Rückhalt in der mehrheitlich russischen städtischen Bevölkerung. Im gleichen Jahr marschierten die Sowjetkommunisten erneut in Kiew ein und bemächtigten sich der Ukraine, die Regierung der UNR ging ins Exil; schließlich bildete Stalin die „Ukrainische Sowjetrepublik“ im Völkerverbund der Sowjetunion.

In den politisch relativ liberalen 1920er Jahren begann eine systematische Ukrainisierung, die zu einer kulturellen Blüte in der Ukraine führte. Das Ukrainische wurde als obligatorische Schulsprache eingeführt und generell gegenüber dem Russischen privilegiert. Das Ukrainische wurde Amtssprache. „Das Ziel bestand darin, russifizierte Ukrainer zu re-ukrainisieren … Das Ukrainische wurde aus einer nur als Dialekt betrachteten bäuerlichen Umgangssprache zur offiziellen Sprache der Republik“, obwohl in der Praxis das Russische eine wichtige Stellung beibehielt.

Zwangskollektivierung, Hungersnot und stalinistischer Terror

Doch setzte Stalin ab 1928, als die forcierte Industrialisierung und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft begann, „neue Prioritäten“. Angebliche nationalistische Tendenzen in der Ukraine wurde vom „großen Bruder“ plötzlich mit Misstrauen begegnet. Im Donbas wurde das erste Zentrum sowjetischer Industrie geschaffen. Immer mehr Bauern wanderten in die Industriestädte, wo sie sich sprachlich russifizierten. Kulaken – reiche Bauern – wurden im Laufe der Zwangskollektivierung als „Klassenfeinde“ zu Hunderttausenden nach Sibirien deportiert oder ermordet.

Im kollektiven Gedächtnis blieb aber vor allem die große, von Stalin mit brutalen Mitteln herbeigeführte Hungersnot (Holodomor). Das von den Bauern geerntete Getreide wurde systematisch und gewaltsam requiriert und ins Ausland verkauft, mit dem Erlös finanzierte Stalin die Industrialisierung. 3,5 Millionen Ukrainer verhungerten, vor allem Bauern, insgesamt betrug die Zahl der Opfer der Hungersnot in der Sowjetunion 6 bis 7 Millionen. 1938, mitten in den großen Säuberungen, bestimmte Stalin den aus dem sich stark industrialisierenden Donbass stammenden Russen Nikita Chruschtschow zum Chef der Ukrainischen kommunistischen Partei. Die Ukraine wurde im Namen der sowjetischen „Völkerfreundschaft“ von der russisch beherrschten Sowjetunion aufgesogen. „Das Bewusstsein, als Nation Opfer des Sowjetkommunismus zu sein, ist heute ein wichtiges Element des ukrainischen Nationalbewusstseins.“

Zusammenbruch der Sowjetunion und Streben nach Westen

Erst am 1. Dezember 1991 sollte die Ukraine wieder zur Unabhängigkeit gelangen, mit dem traditionellen Dreizack im Wappen: dem Staatssymbol der UNR von 1917! Seither strebt die Ukraine unablässig nach Westen, wo sie aus historischen und kulturellen Gründen auch hingehört. Ihrer egalitär-freiheitlichen Tradition gemäß will sie sich demokratisch und rechtsstaatlich organisieren. Im November 2013 lag der Assoziierungsvertrag mit der EU zur Unterzeichnung auf dem Tisch. Er bot die Hoffnung, trotz aller Hindernisse – institutioneller und wirtschaftlicher Rückständigkeit, verbreiteter Korruption und Divergenzen mit der vor allem im Osten starken russischen Minderheit – endlich unumkehrbar den Weg nach Westen einschlagen zu können und die Umklammerung des „großen Bruders“ definitiv abzuschütteln.

Auf die durch die Weigerung des damaligen Präsidenten Janukowitsch, den Assoziierungsvertrag mit der EU zu unterzeichnen, ausgelösten Massenproteste – dem „Euro-Majdan“ – vom November 2013 bis zum Februar 2014, sowie der Flucht und Absetzung Janukowitschs, antwortete Russlands Präsident Putin mit der Annexion der Krim, die Chruschtschow 1954 – dem Jahr des 300-jährigen Jubiläums der Vereinbarung von Perejaslav – der Ukrainischen Sowjetrepublik eingegliedert hatte, wie auch mit dem systematischen Aufbau prorussischer bewaffneter Milizen im Donbass, die gemeinsam mit regulären russischen Truppen gegen die ukrainischen Streitkräfte kämpften. Es war der Beginn des russisch-ukrainischen Krieges, das Verhängnis begann seinen Lauf zu nehmen. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erreichte es seinen vorläufigen Höhepunkt.

Gemäß Andreas Kappeler galt es bereits 2014 „um jeden Preis zu verhinderten, dass sich die Ukraine als ein den europäischen Werten verpflichteter demokratischer Staat etablierte und stabilisierte“. Putin schob russische „Sicherheitsinteressen“ vor, in Wirklichkeit ging es ihm damals wie heute um die Verhinderung einer das Moskauer Herrschaftsmodell unterminierenden freiheitlichen, demokratischen und ökonomisch reüssierenden Ukraine vor Russlands Haustüre! Zu diesem Zweck will Putin in bester russisch-imperialer Tradition die „Einheit des historischen Russland“ wiederherstellen, wie er das 2014 erklärte. Die Ukraine als dem Westen zugewandte Demokratie muss verschwinden. Denn, so Kappeler, in „keinem anderen postsowjetischen Staat mit Ausnahme des Baltikums wurde eine parlamentarische Demokratie mit korrekten Wahlen, die zu Machtwechseln führten, und weitgehend freien Medien etabliert.“ Das ist in der Tat Gift für „russische Sicherheit“ in der Lesart Putins.

Russisch-ukrainischer Krieg und „Entnazifizierung“

All dies erleben die Ukrainer heute als das russische Programm, die Ukraine, ihre nationale und kulturelle Identität zu vernichten. Deshalb empfinden sie den jetzigen Krieg zu Recht als Versuch eines „Genozids“. Feine juristische Unterscheidungen sind in solcher Not nicht gefragt. Die Absichten Russlands liegen klar zu Tage. „Entnazifizierung“ heißt: Alles Westliche, Liberale, alles, was sich Putins – auf den russischen Faschisten Iwan Iljin (1883-1954) zurückgehenden – Konzeption entgegensetzt, muss aus der Ukraine verschwinden. Denn „nazistisch“ ist für Putin alles Westliche, weil es sich, wie die aus dem Westen anrückende Naziarmee von 1941, gegen die Existenz und Seele Russlands richtet.

„Entnazifizierung“ heißt deshalb im Klartext: Es darf keine eigenständige Ukraine und keine eigenständige, mit der russischen in Kontrast stehende, westlich orientierte ukrainische Kultur und Nation geben, und schon gar nicht darf es unmittelbar vor Russlands Haustür einen unabhängigen Staat geben, der diese verkörpert.

Auch wenn eine solche Programmatik im juristisch-technischen Sinn nicht als diejenige eines Genozids bezeichnet werden kann, so wird sie aus ukrainischer Sicht dennoch als Auslöschung eines Volkes, einer Nation, samt deren Kultur erlebt. Wer solches unter dem programmatischen Titel einer „Entnazifizierung“ betreibt und deshalb ein Land mit einer Armee von 150 000 Mann überfällt, von dem ist keine Gnade zu erwarten. Liquidationen und Deportationen, schließlich Umerziehung der Massen werden der von Putin geforderten Entmilitarisierung unweigerlich folgen – und genau solche Forderungen werden gegenwärtig auch in russischen Staatsmedien wie der Agentur RIA Novosti erhoben. Dort wurde vor kurzem eine Anleitung zur Entnazifizierung veröffentlicht, sie ist immer noch online, eine englische Übersetzung ist ebenfalls zugänglich. Die Quintessenz dieses „Handbuchs“ lautet: Ein Ukrainer, der kein Russe sein will, ist ein Nazi und deshalb Objekt der „Entnazifizierung“.

Vorwurf des Völkermordes: „nicht abwegig“

Für die Offiziere und Soldaten der russischen Streitkräfte war es eine herbe Überraschung, denn die heimische Indoktrinierung hatte sie auf das Gegenteil vorbereitet: Die ukrainische Bevölkerung empfing sie am 24. Februar 2022 nicht mit Jubel als Befreier, sondern mit der massenhaften Fabrikation von Molotowcocktails und fügte ihr in der Schlacht um Kiew eine demütigende Niederlage zu. In dieser Perspektive werden die massakrierten Zivilisten von Butscha und anderer Orte nun zum Warnzeichen. In der nun begonnen Schlacht um den Donbass geht es für die Ukraine als Volk, Nation und Kultur um Existenz oder Nichtexistenz. Denn in den Augen der Russen ist nun jeder Widerstand leistende Ukrainer Objekt der „Entnazifizierung“.

Die Ukrainer wissen, was ihnen bevorsteht, sollten sie zur entmilitarisierten Beute von Putins Russland werden. Für sie ist das ein „Genozid“: der Mord an ihrem Volk. Wie der international renommierte Experte für Straf- und Völkerrecht Stefan Trechsel vor kurzem im Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ meinte, ist „der Vorwurf des Völkermords nicht abwegig und muss untersucht werden“, denn „Putin will die Ukraine als staatliche Entität vernichten.“ Allerdings, so ist hinzuzufügen. nicht nur als staatliche Entität, sondern auch hinsichtlich ihrer nationalen und kulturellen Identität.

Langsam wächst deshalb auch die Zahl der Stimmen, die im Falle der russischen Absichten gegenüber der Ukraine von einem Genozid sprechen. Selbst US-Präsident Biden hat das Wort in den Mund genommen, was allerdings Völkerrechtler und internationale Strafrechtsexperten wenig beeindrucken wird. Dennoch: Langsam wird das Spiel Moskaus besser verstanden. Was als „Sicherheitsinteressen“ ausgegeben wurde – wie viele sind auf dieses russische Newspeak hereingefallen! –, wird nun in seinem wahren Inhalt deutlich: Es geht um die Auslöschung der Ukraine als eigenständige, dem Westen, seinen Ideen und Werten zugehörige Nation. Der „kleine Bruder“ muss „heim ins Reich“. Genau das und nichts anderes heißt heute „Sicherheit“ in Putins Mund, weil anders die hegemoniale Macht Russlands über Osteuropa und Putins eigene Macht in diesem Imperium in Gefahr ist.

 

Literatur:

Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Verlag C.H.Beck, München 2017 (2.-4. Aufl. 2022)

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