Die Ukraine verteidigt ihre Freiheit – und diejenige Russlands

Wieder Krieg in Europa! Nicht einer, der einfach „ausgebrochen“ ist, kein militärisches Geschehen, das sich durch allmähliche Eskalation zum Krieg „entwickelt“ hat. Nein. Ein Angriffskrieg, in dem ein für bislang zivilisiert gehaltener Staat einen anderen, viel kleineren, alle Regeln des Rechts brechend militärisch überfällt, um ihm seinen Willen aufzuzwingen. Ja mehr noch: um ihn als eigenständigen, souveränen Staat mit völkerrechtlich gesicherten Grenzen von der politischen Landkarte zu eliminieren.

Zur Erklärung dieses Krieges gibt es zahlreiche und unterschiedliche, sich diametral widersprechende Narrative. Eine Entscheidung, welchem wir zustimmen wollen, ist letztlich nur unter der Berücksichtigung von Prinzipien der politischen Moral möglich.

Vom Angreifer „besondere Militäroperation“ genannt und anfänglich, aufgrund verfehlter Einschätzung der Verhältnisse, als Blitzkrieg geplant, handelt es sich – aufgrund des unerwartet starken Verteidigungswillens des Angegriffenen, der Effizienz der noch im letzten Sommer von Präsident Selenskyj neu eingesetzten, in den USA ausgebildeten militärischen Führungsspitze sowie der zu Tage getretenen gravierenden Material- und Führungsmängel der russischen Militärmaschinerie – um einen zähen, brutalen und zerstörerischen Vernichtungsfeldzug mit bereits über drei Millionen Flüchtlingen. Sein Ausgang ist ungewiss, er wird aber mit Sicherheit, wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen, auf beiden Seiten ein materielles und seelisches Trümmerfeld hinterlassen.

Auf welcher Seite stehen wir?

Nachdem sich im Westen – insbesondere dem europäischen Westen – der erste Schock über das Erwachen aus einer Traumwelt, in der es angeblich nie wieder Krieg geben werde, gelegt hat und sich alle ausreichend die Augen gerieben haben, wächst nun das Bedürfnis zu verstehen – zu verstehen, wie all dies möglich geworden ist und wer nun welche Fehler beging. Obwohl wir noch gar nicht wissen, wie dieser ungleiche Krieg enden wird.

Zur Erklärung dieses Krieges gibt es zahlreiche und unterschiedliche, sich diametral widersprechende Narrative. Gewiss muss man differenziert und realistisch denken. Eine Entscheidung jedoch, welchem Narrativ wir zustimmen wollen, ist letztlich nur unter der Berücksichtigung von Prinzipien der politischen Moral möglich. Denn trotz der Tatsache, dass wir es überall auf der Welt mit Menschen, auch Politikern, zu tun haben, die nun einmal Fehler begehen, und dass Böse und Gute auf allen Seiten zu finden sind, ist eine solche Entscheidung grundsätzlicherer, letztlich sowohl politisch-moralischer wie auch rechtsethischer Natur. Wo gehören wir hin? Welche ist eigentlich die Welt, die wir verteidigen und an der teilzuhaben wir auch anderen Ländern wie eben zum Beispiel der Ukraine – aber letztlich auch Russland – ermöglichen wollen, weil wir sie vor allem aus ethischen Gründen für die bessere und dem Menschen gemäße halten?

Ist es die westliche Welt mit ihren, letztlich auf dem Humus der europäischen Tradition des Naturrechts und dem aufklärerisch-liberalen Protest gegen Despotie und Willkür gewachsenen Idealen von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, demokratischer Beteiligung und Kontrolle der Herrschenden, bürgerlich-politischer und wirtschaftlicher Freiheit sowie freiem und offenem wirtschaftlichem und kulturellem Austausch zwischen den Nachbarnationen? Auch wenn der Westen diesen Idealen nicht immer entsprochen hat und ihre Realisierung, wie alles Menschliche  immer unvollkommen bleibt, sind sie während der vergangenen beiden Jahrhunderte doch im Großen und Ganzen Wirklichkeit geworden und haben uns in historisch präzedenzloser Weise Freiheit und Wohlstand gebracht.

Oder stehen wir auf der Seite des östlich-eurasischen Modells, das auf autokratischer Herrschaft, nationalistischer Selbst-Mystifizierung beruht, – die es auch im Westen gegeben hat und vereinzelt immer noch gibt –, auf Gewalt und Unterdrückung der Freiheit und Missachtung des Willens seiner Bürger (bzw. Untertanen) ein Leben eigener Wahl zur führen? Das, zusammen mit der dazugehörigen Armut der breiten, vor allem nichtstädtischen Bevölkerung, ist, seit Jahrhunderten, das „Modell“, vor allem aber die Realität Russlands, dessen heutiger Führer Wladimir Putin aufgrund der Lüge, mit einer „besondere Militäroperation“, die nichts anderes als ein brutaler Angriffskrieg ist, das ukrainische Volk vor einer Nazi-Bedrohung retten zu müssen, eine friedliche Nachbarnation überfallen hat und in die Knie zu zwingen sucht.

Russische Desinformation und Propaganda: Die angebliche (Mit-) Schuld des Westens

Man hört jedoch viele Stimmen, die behaupten, Schuld an der russischen Aggression sei letztlich der Westen, der die legitimen Sicherheitsbedürfnisse Russlands nicht berücksichtigt und durch die NATO-Osterweiterung Russland provoziert und ihm Angst gemacht habe. Schuld seien die amerikanische Droh-Rhetorik und die militärische Aufrüstung der Ukraine seit 2014 mit Hilfe der USA – als ob diese nicht Folge der Annexionen von Krim und (faktisch) der zwei Donbass-Regionen gewesen wäre –, und natürlich auch die EU selbst, die der Ukraine Hoffnungen auf einen Beitritt gemacht habe.

Auch wenn westliche Politiker keine Heiligen sind: Wer solches im Ernst vertritt – und es sind leider nicht wenige –, ist Opfer der russischen Propaganda- und Desinformationsmaschinerie, zu der auch der russische, vom Kreml direkt finanzierte, aber in Europa bis vor kurzem vielgehörte Staatssender „Russia Today“, jetzt RT (in deutscher Sprache: RT DE), gehört. Der frühere KGB- und danach FSB-Mann Putin weiß brillant auf dieser Klaviatur zu spielen.

In vielen Köpfen hat sich die der russischen Propaganda entstammende Idee festgesetzt, Russland würde sich vor einer potenziell aggressiven NATO und dem Westen fürchten und man habe es versäumt, Russlands Sicherheitsbedenken Rechnung zu tragen.

Obwohl die Desinformationen bezüglich angeblich früherer „Versprechen“ des Westens, die NATO nicht Richtung Osten zu erweitern, schon längst widerlegt sind – Michail Gorbatschow selbst hat sie, nachdem er sie lange Zeit selbst verbreitet hatte, schließlich 2014 dementiert –, scheint die russische Propaganda bei westlichen Journalisten, Politikern und Intellektuellen Spuren hinterlassen zu haben: In vielen Köpfen hat sich die der russischen Propaganda entstammende Idee festgesetzt, Russland würde sich tatsächlich vor einer potenziell aggressiven NATO und dem Westen fürchten und man habe es versäumt, nach dem Zusammenbruch durch Einbindung und vertragliche Absicherung Russlands diesen Sicherheitsbedenken Rechnung zu tragen – ja man habe durch die Osterweiterung der NATO diesem Sicherheitsbedürfnis sogar direkt entgegen gehandelt.

Doch das Gegenteil ist der Fall, wie der Schweizer „Weltwoche“-Journalist Urs Gehriger seinem eigenen Chef, Roger Köppel dezidiert entgegenhalten musste. Letzterer verbreitet seit Monaten – schriftlich und auf seinem Podcast „Weltwoche Daily“, sogar mit der Diffamierung der ukrainischen Regierung als „ethno-nationalistisch“ – das russische Narrativ, ja ließ sich sogar von RT DE interviewen, lobte dabei Putin als „Stabilisator Russlands“, verharmloste im Januar 2022 den russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze und verhöhnte die westliche Medien und den amerikanischen Präsidenten als „Putin-Dämonisierer“. Schließlich ließ Köppel sogar Mitarbeiter von RT DE in seiner Zeitung  Putins Standpunkt verteidigen und bezeichnete den russischen Propagandasender RT DE als „Russlands Fernsehen gegen die Einfalt“ und „erfrischenden Kontrapunkt“. Die „Neue Zürcher Zeitung“ nannte ihn deswegen „Sprachrohr Putins“.

In seinem Artikel Sorry, Roger Köppel, du liegst falsch zeigte Urs Gehriger seinem Chef, mit welcher Entschlossenheit der Westen seit 1990 versucht hatte, „Russland als neuen Partner zu respektieren und es in ein friedliches Europa einzubinden“. Er erinnerte unter anderem an Folgendes:

  • Die Pariser Grundakte und die Charta von Paris von 1990, aufgrund der Russland zum substanziellen Mitträger einer neuen auf Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit gründenden Friedensordnung gemacht wurde.
  • Das Budapester Memorandum von 1994, in dem die Ukraine, Weißrussland und Kasachstan auf die Atomwaffen, die seit Sowjetzeit auf ihrem Territorium stationiert waren, verzichteten und sie der Obhut Russlands übergaben. „Die Ukraine verfügte zu diesem Zeitpunkt über das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt. Als Gegenleistung sicherte Russland – sowie die USA und Großbritannien – den drei Staaten verbindlich zu, deren Souveränität und «die existierenden Grenzen» zu respektieren.“
  • Zur gleichen Zeit die Aufnahme Russlands in die „Partnerschaft für den Frieden“, „mit vertraglichen Zugeständnissen gegenüber Moskau. Oberstes Ziel war es, gegenseitiges Misstrauen und Bedrohung zu überwinden und einen gemeinsamen Sicherheits- und Stabilitätsraum zu schaffen.“
  • Die Nato-Russland-Grundakte 1997, in der der „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit“ verankert wie auch die „Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker“ vertraglich festgelegt wurden.
  • Die Versuche, Russland wirtschaftlich und politisch einzubinden: Aufnahme in den Europarat 1996; Erweiterung der G-7 durch Russland zur G-8, obwohl Russland im Vergleich zu den anderen Mitgliedern ein „wirtschaftliches Leichtgewicht“ war. Und im Jahre 2011 wurde Russland in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen.

Hinzuzufügen wäre die Europäische Sicherheitscharta („Dokument von Istanbul“), das Schlussdokument der OSZE-Gipfelkonferenz von 1999, in dem die Teilnehmerstaaten, zu denen auch Russland und die Ukraine gehören, das einem jeden Staat „innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern“, dies allerdings „nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten“ (Nr. 8). Zu erwähnen ist auch das „Partnerschafts- und Kooperationsabkommen“ (PKA) zwischen der EU und Russland (und anderen ehemaligen Ostblockstaaten, darunter auch die Ukraine).

Natürlich gibt es Stimmen, die – wie etwa der Yale-Historiker und Spezialist für die Geschichte des Kalten Krieges John Lewis Gaddis – Ende der 1990er Jahre meinten, man hätte die NATO nach 1989 abschaffen sollen, sie sei ein gegen den Warschau-Pakt gerichtetes Bündnis gewesen, das durch dessen Auflösung funktionslos geworden sei. Nun lässt aber gerade die Geschichte nach 1990 erahnen, was hätte geschehen können, wäre die NATO tatsächlich ersatzlos aufgelöst worden. Ein Ersatz durch Einbindung aller ehemaligen Ostblockstaaten inklusive Russlands in die „Partnerschaft für den Frieden“ hätte in der Tat, und es wäre erfreulich gewesen, die NATO überflüssig machen können – das war der Plan. Nach allen Erfahrungen war dies bloßes Wunschdenken und wäre hochgefährlich gewesen. So sahen es natürlich zuallererst die ehemaligen osteuropäischen Vasallen Moskaus, und der amerikanische Präsident Clinton folgte ihrer Sichtweise – entgegen der Meinung des Pentagons.

Sicherheit im westlichen Sinne und „Sicherheit“ auf Russisch

Denn Russland begann, wie noch zur Sprache kommen wird, schon früh gegen diese Abkommen und Verträge zu verstoßen, und das sicher nicht, weil es sich von der NATO bedroht fühlte. Und hier liegt das Grundproblem: Während für den Westen Sicherheit auf dem Recht und auf Vertragstreue beruht, ist für ein autokratisches und eben nicht rechtsstaatliches Herrschaftssystem wie Russland „Sicherheit“ jeweils das, was seinen Interessen dient.

Genau das ist die Klaviatur, auf der Putin spielt: Stehen das Recht oder vertragliche Bindungen diesen Interessen im Weg, dann heißt es, die russischen „Sicherheitsinteressen“ würden nicht respektiert. Nur deshalb wird die NATO bzw. deren Osterweiterung von Russland als Gefahr für seine „Sicherheit“ wahrgenommen. Dahinter versteckt sich in Wirklichkeit ein semantischer Trick: Russland meint mit den von ihm verwendeten Worten letztlich etwas anderes als der Westen darunter versteht.

Die durch Schaden klug gewordenen ehemaligen Warschau-Pakt-Staaten durchschauten die russische Doppelzüngigkeit, die dann unter Putin wieder zum System werden sollte.

Das wiederum ist Ausdruck eines tiefliegenden und unüberbrückbaren Wertkonflikts: Dem Konflikt zwischen einer auf Freiheit und Recht gegründeten Zivilisation, für die das Recht und die Herrschaft des Gesetzes – unabhängig davon, wer aktuell regiert – eine Sicherheitsgarantie ist, und, auf der anderen Seite, eine Zivilisation, die auf Despotismus, Gewalt und der Herrschaft von Autokraten mit persönlichem Charisma beruht – um mit Max Weber zu sprechen, handelt es sich also mehr oder weniger um den Unterschied zwischen „legaler“ und „charismatischer Herrschaft“. Auf dieser Ebene sind letztlich keine Kompromisse möglich, nur die diplomatische Koexistenz gesichert durch Waffen und ein entsprechender Wettbewerb der Systeme ist hier eine auf Dauer angelegte Option. Insofern war die Zeit des Kalten Krieges, auch wenn wir sie nicht zurückwünschen, eine für den Westen „erfolgreiche“ Zeit, denn er hat diesen Wettbewerb schließlich für sich entschieden.

Die von den durch Schaden klug gewordenen ehemaligen Warschau-Pakt-Staaten durchschaute russische Doppelzüngigkeit, die dann unter Putin wieder zum System werden sollte, führte zum durchaus rationalen Wunsch dieser Staaten – Litauen, Estland, Lettland, Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Bulgarien, aber auch Rumänien – unter das Schutzschild der NATO zu gelangen. Damit wurden keine Sicherheitsinteressen Russlands verletzt, wohl aber kam man damit dem Sicherheitsbedürfnis der ehemals von der russisch dominierten Sowjetunion unterdrückten osteuropäischen Staaten entgegen. Und es zeigt, dass die NATO mitnichten überflüssig geworden war.

NATO-Osterweiterung – aber mit Zugeständnissen

Auslöser für das Misstrauen gegenüber dem „neuen“ Russland waren die russische Militäraktion in Abchasien (1992/93) und der Erste Tschetschenienkrieg (1994-96), in denen Russland sehr aggressiv auftrat. Die NATO zögerte lange, nahm dann aber 1997 Polen, Ungarn und Tschechien in das Bündnis auf, 2004 – also nach dem bereits unter Putin geführten, noch viel grausameren und von Russland gewonnenen Zweiten Tschetschenienkrieg von 1999, der die ehemalige Sowjetrepublik nach enormen Zerstörungen wieder Russland unterwarf – folgten Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen. Der damalige Ministerpräsident Putin war durch seinen Krieg in Tschetschenien in Russland zu solcher Popularität gelangt, dass er schließlich zum Präsidenten gewählt wurde, ein Amt, das, so ließ sich schon damals erahnen, er so leicht nicht mehr aus den Händen geben und immer mehr zu einer persönlichen Autokratie ausbauen würde. Wie es dann auch gekommen ist.

Allerdings auferlegte sich die NATO aus Rücksicht auf Russland bei ihrer Erweiterung nach Osten Beschränkungen und machte Zugeständnisse: Verzicht auf Stationierung von Atomwaffen und starke Begrenzung der Stationierung von Truppen (auch wenn man sich das Recht vorbehielt, ihre Zahl falls nötig aufzustocken). Das Vertragswerk wurde durch den Nato-Russland-Rat institutionell abgesichert. Allerdings zogen schon bald Wolken am Himmel der Eintracht auf, als nämlich die NATO bemerkte, dass die bei den regelmäßigen Treffen des NATO-Russland-Rates anwesenden russischen Diplomaten verdeckte Geheimdienstmitarbeiter waren, was zu Konflikten und Ausweisungen führte und Vertrauen zerstörte.

Aufgrund von Putins Zerstörung des privaten Unternehmertums, die mit seiner persönlichen Bereicherung einherging, geriet das Land in eine wirtschaftliche Abwärtsspirale, in der es bis heute gefangen bleibt.

Der neue Präsident Putin band die korrupten Oligarchen in sein Herrschaftssystem ein und ließ die Unwilligen wie den unternehmerisch überaus erfolgreichen und die liberalen politischen Kräfte unterstützenden Chef des Yukos-Konzerns Michail Chodorkowski für zehn Jahre ins Gefängnis werfen. Allerdings war wohl Putin selbst schon früher mit einigen Oligarchen eng verbunden. Wie Chodorkowski 2017 in einem Interview mit „Profil“ über sein Verhältnis zu Putin einräumte, wusste man zwar, „dass es Leute um ihn herum gab, die Geld stahlen. Doch wir dachten, Putin benutzte die Korruption bloß, um seine Macht abzusichern. Ich ahnte nicht, dass er selbst zu den Dieben gehörte. Das wurde mir erst klar, als ich die Panama Papers studierte.“ Inzwischen hatte Putin mithilfe von Strohmännern ein gewaltiges persönliches Vermögen aufgebaut, das allein ihn dazu motiviert, die Macht nicht mehr abzugeben.

Wie auch immer es abgelaufen ist: Gemeinsam mit den Oligarchen, denen er wohl an Korruptheit in nichts nachstand, „stabilisierte“ Putin Russland, allerdings auf Kosten der Freiheit seiner Bürger und – wie sich bald zeigen sollte – auch der wirtschaftlichen Freiheit und damit der Prosperität: Aufgrund von Putins Zerstörung des privaten Unternehmertums, die mit seiner persönlichen Bereicherung einherging, geriet das Land in eine wirtschaftliche Abwärtsspirale, in der es bis heute gefangen bleibt – die Sanktionen könnten der russischen Wirtschaft nun den Todesstoß verleihen. Das Ergebnis ist ein autokratisches Regime, das sämtlichen Prinzipien der Europäischen Friedensordnung, zu denen sich Russland einst verpflichtet hatte, missachtet. Krass bereits 2014, seit dem 24. Februar 2022 jedoch in totaler Konfrontation zu ihr und mit allen Konsequenzen.

Putins imperialer Traum einer „Wiedervereinigung“ Russlands

Immer mehr wurde während des letzten Jahrzehnts klar: Der Herr im Kreml wollte sich mit dem Verlust der ehemaligen Sowjetrepubliken nicht abfinden und erschien damit auch eine zunehmende Gefahr für die ehemaligen Warschau-Pakt-Staaten. Auf diesem Hintergrund erweist sich Putins Klage über angeblich verletzte russische Sicherheitsinteressen und einer aggressiven, Russland angstmachenden Politik der NATO als lediglich vorgeschobene Ausrede, um vor allem vor der eigenen Bevölkerung sein Tun zu legitimieren.

Diese Ziele, wie auch Putins imperiale Ideologie, das Narrativ eines Russland zu dem auch Belarus und die Ukraine gehören, sind reichlich dokumentiert. Sie zeugen von der Kontinuität der russischen Außenpolitik seit der Zarenzeit. Bereits im Jahre 1994 äußerte Putin beim 101. Bergedorfer Gesprächskreis der Körber-Stiftung in St. Petersburg – Putin war damals erster Vizebürgermeister dieser Stadt –, Russland habe „im Interesse der allgemeinen Sicherheit und des Friedens in Europa freiwillig riesige Territorien an die ehemaligen Republiken der Sowjetunion abgegeben hat; darunter auch solche Territorien, die historisch immer zu Russland gehört haben“ und man könne es sich jetzt „einfach nicht leisten – allein schon im Interesse der Sicherheit in Europa –, dass diese Menschen willkürlich ihrem Schicksal überlassen bleiben“ (Protokoll S. 38).

Man beachte, was Putin schon damals unter „Sicherheit Europas“ verstand: Die Menschen „in den Territorien, die historisch immer zu Russland gehört haben“, nicht „willkürlich ihrem Schicksal zu überlassen“!

Der ebenfalls an dieser Tagung anwesende damalige erste stellvertretende russische Verteidigungsminister Andrej A. Kokoschin – er wurde 2003 Professor an der staatlichen Lomonossow-Universität Moskau und Dekan der dortigen Fakultät für Weltpolitik – bekräftigte Putins Punkt. Es lohnt sich, folgenden Auszug aus einem seiner Diskussionsbeiträge auf der Tagung von 1994 zu lesen:

„Herr Putin hat zu Recht gesagt, der Westen müsse sich diesen Prozessen gegenüber aufgeschlossener zeigen. Russland hat in der Tat auf viele Territorien freiwillig Verzicht geleistet, der durch nichts kompensiert wurde. Deshalb kann das Pendel der öffentlichen Meinung zur anderen Seite ausschlagen. Das darf man nicht als Wiedergeburt irgendwelcher Großmachtsideen deuten. Es gibt nun einmal technologische Verkettungen, die mit rein wirtschaftlicher Terminologie nicht zu erfassen sind. Sie verbinden Russland mit Weißrussland und der Ukraine, aber es bestehen auch Bindungen an Litauen und Lettland, die jetzt weitgehend zerstört sind. Ob sie wiederhergestellt werden oder nicht, ist eine andere Frage. Hier gibt es keine soziale Vorgabe. Dies ist jedenfalls ein wichtiger Faktor, der die gegenwärtigen Prozesse der Reintegration beeinflusst. (…)
Russland wird nicht versuchen, jemanden mit Gewalt zurückzuholen; aber die Russen werden darauf achten, dass die Menschenrechte in den angrenzenden Ländern geachtet werden. Was die Reintegration betrifft, so gibt es weniger in Russland als vielmehr in den umliegenden Ländern, darunter auch in der Ukraine, den Wunsch zur Wiedervereinigung mit Russland. Diese Bestrebungen können eine Richtung nehmen, die der Entwicklung in Deutschland entspricht, als alle Prognosen von Analytikern und Politikern durch die Macht der Massenbewegung auf den Kopf gestellt wurden.“ (Protokoll S. 42)

1994 mag das noch harmlos geklungen haben, es gab ja tatsächlich – psychologisch oft auch verständliche – Diskriminierungen von Russen außerhalb Russlands, etwa in den vormals von den Sowjets teilweise russifizierten baltischen Ländern. Doch ist hier auch eine versteckte Drohung zu hören, wenn in diesem Zusammenhang unverhohlen von einem „Wunsch zur Wiedervereinigung mit Russland“ – ähnlich wie in Deutschland gesprochen wird! Man höre und staune: Hier wird der Mythos eines „geteilten Russland“ zelebriert!

„Die Sowjetunion ist zusammengebrochen. Doch woraus bestand die Sowjetunion? Aus Russland. Sie hieß nur anders.“ (Wladimir Putin 2011)

Bekannter als das Vorhergehende ist die Aussage Putins in einem Interview vom 17. Oktober 2011 mit drei russischen Fernsehsendern, mit der Putin Klartext sprach: „Die Sowjetunion ist zusammengebrochen. Doch woraus bestand die Sowjetunion? Aus Russland. Sie hieß nur anders.“ Geradezu harmlos klingt daneben ein anderes bekanntes Statement Putins: Der Zusammenbruch der Sowjetunion sei „eine nationale Tragödie riesigen Ausmaßes“ gewesen.

Klar ist, weshalb Putin von einer „nationalen Tragödie“ sprach: Er sah in dem Zusammenbruch der Sowjetunion und deren Auseinanderfallen in einzelne, unabhängige und souveräne Teilrepubliken eine Ungerechtigkeit. Und zwar gegenüber Russland – deshalb eine „nationale Tragödie“. Denn die Sowjetunion – das war ja eigentlich Russland! Dieses Denken war schon immer hochgefährlich, weil es nicht nur die historische Wahrheit auf den Kopf stellte, sondern einem direkten Angriff auf die rechtlichen Grundlagen der europäischen Friedensordnung gleichkam.

Solche immer wieder vernehmbaren Äußerungen, die heute zusammen mit der Bedrohung aus dem Westen der russischen Bevölkerung durch die staatlichen Medien unablässig eingetrichtert werden, schreckten naturgemäß vor allem die baltischen Staaten. Mit Besorgnis erfüllen musste dies aber auch die westlich orientierten Kräfte in der ukrainischen Bevölkerung, ja selbst die Russischstämmigen mit russischer Muttersprache, – zu denen ja auch der jetzige Präsident Wolodymyr Selenskyj gehört –, die sich schon seit einiger Zeit mit deutlicher, infolge der russischen Invasion nun wohl überwältigender Mehrheit definitiv von Russland abwenden.

Die traditionell klare Westorientierung der nach dem Zweiten Weltkrieg zur Beute der Sowjetunion gewordenen baltischen Staaten wie auch der angesichts der Aggressivität Moskaus zunehmende Wunsch der Ukraine, sich als freiheitlich-liberaler Rechtsstaat und Demokratie nicht nur ideell, sondern auch sicherheitspolitisch nach Westen zu orientieren und unter den Schutzschirm der NATO zu gelangen, ist deshalb mehr als verständlich. Der Westen hat im Unterschied zu den osteuropäischen Staaten die irredentistischen Töne und damit auch die Vorstellung Putins von „Sicherheit“ und „Gerechtigkeit“ nur nicht deutlich genug wahrgenommen.

Was auch immer in den nächsten Monaten geschehen mag: die Ukraine wird aufgrund der Aggression vom 24. Februar für Russland für immer verloren sein.

Doch wird Putins Krieg gegen die Ukraine diesen Wunsch nicht nur bekräftigen. Denn was auch immer in den nächsten Monaten geschehen mag: die Ukraine wird aufgrund der Aggression vom 24. Februar für Russland für immer verloren sein – auch die dortige russische Bevölkerung, die sich zunehmend und seit Kriegsbeginn definitiv als ukrainisch fühlt, wendet sich von Russland ab. Eine russische Dauerbesetzung der Ukraine – sofern Russland militärisch dazu überhaupt fähig sein wird – wird weder von der Bevölkerung noch vom Westen toleriert werden und zum wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands und damit auch von Putins Herrschaft führen, falls dies – und man kann es nur hoffen – nicht schon vorher geschieht, und zwar infolge einer militärischen Niederlage oder innerer Opposition.

Der große Fehler: Verweigerter NATO-Beitritt der Ukraine

Wir wissen heute: Das alles hätte nicht sein müssen. Aber der Westen verweigerte im Jahre 2008 der Ukraine die Aufnahme in die NATO – genauer: Die Russlandfreunde Frankreich (unter Präsident Sarkozy) und Deutschland (unter Kanzlerin Angela Merkel und ihrem damaligen Außenminister und heutigen Bundespräsidenten Steinmeier) legten ihr Veto gegen eine Aufnahme der Ukraine ein. Ironisch könnte man fast sagen: Wieder einmal war es Deutschland, das Mitschuld an einem Krieg in Europa trägt, und dies paradoxerweise im Verbund mit Frankreich! Der europäische Russlandfreund Deutschland – Frankreich war da klüger und unabhängiger – , ließ sich durch Verführung Propaganda und Schalmeienklänge Moskaus in die russische Abhängigkeit treiben und ist deshalb jetzt eine der hauptsächlichsten Finanzierungsquellen Russlands für diesen neuen innereuropäischen Krieg.

Man erinnere sich an die Standing Ovation für Putins – in perfektem Deutsch gehaltene – Rede vor dem Bundestag im Jahre 2001; den Opportunismus von Merkels „Energiewende“, nur um die Wahlen nicht gegen die Grünen zu verlieren; die wirtschaftliche Bequemlichkeit dank kostengünstigem Erdgas aus Russland, und dies mit Nord Stream 2 erst noch auf Kosten der Ukraine, die man als bisheriges Transitland dadurch eines Sicherheitspfandes gegenüber Russland zu berauben bereit war! Eigentlich wäre jetzt von Deutschland zu erwarten, dass es die nötigen Opfer bringt, um so schnell wie möglich auf russisches Erdgas verzichten zu können. Die sich daraus ergebenden, preistreibenden und wohlstandsmindernden Versorgungsengpässe müsste man, wie der österreichische Ökonom Gabriel Felbermayr, Direktor des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung (WIFO) in Wien, im BTO-Podcast vom 6. März 2022 vorgeschlagen hat, zur Verhinderung politischer Verwerfungen, durch ein gesamteuropäisches Verteilsystem abfedern. Das wäre in der Tat deutsche und europäische Solidarität mit der Ukraine.

Eine westlich orientierte, demokratische, freiheitliche, rechtsstaatliche und wirtschaftlich erfolgreiche Ukraine vor seiner Haustür ist für Putin ein Schreckgespenst. Sie wäre eine direkte Gefahr für seine Machtbasis, würde diese erodieren und ihrer Legitimität berauben.

Si vis pacem para bellum – willst Du Frieden, dann bereite den Krieg vor – diese alte, seit jeher erfolgreich praktizierte Weisheit, wurde nicht nur von Deutschland, sondern von ganz Europa sträflich missachtet. Klimaschutz mag wichtig sein, auch Gleichstellungspolitik aller Art, warum nicht? Und viele andere Dinge. Aber die Politik vergaß ob aller Geschäftigkeit und infolge des ständigen Ausbaus des Sozialstaates zur Hängematte und Gießkanne den Elefanten im Raum: das unter „imperialem Phantomschmerz“ (Herfried Münkler) leidende aber weiterhin imperialen und hegemonialen Träumen nicht nur nachtrauernden, sondern diese zunehmend aktiv und aggressiv verfolgende Russland.

Das war ein kapitaler Fehler des Westens, der aber nichts mit einer angeblichen Schuld – oder Mitschuld – am jetzigen Krieg zu tun hat, weil angeblich die Sicherheitsinteressen Russlands missachtet wurden. Im Gegenteil: Mitschuld, wenn schon eine solche gesucht werden muss, hat der Westen, weil er im Jahre 2008 die Sicherheitsinteressen der Ukraine nicht beachtete und sich weigerte, das Land – trotz seiner inneren Instabilität und Korruption – in die NATO aufzunehmen. Schuld tragen also vor allem nicht die nun wieder einmal im Dauer-Bashing stehende USA, sondern Frankreich und Deutschland. Das muss einmal klar gesagt werden.

Hätte eine Aufnahme der Ukraine in die NATO 2008 zum Krieg geführt? Eigentlich ist das undenkbar. Putin wäre ein schmerzhafter Nasenstüber versetzt worden, er hätte aufgeheult. Aber einen Krieg hätte er – damals – nicht gewagt, und danach wäre es zu spät gewesen. Zudem hätte sich die Ukraine unter dem Schutzschirm der NATO wohl vorteilhafter entwickelt, obwohl man das natürlich nicht wissen kann – hypothetische Historie ist reine Spekulation. Bleiben wir also bei den Fakten.

Zu den Fakten gehört jedenfalls: Eine westlich orientierte und deshalb demokratische, freiheitliche, rechtsstaatliche und wirtschaftlich erfolgreiche Ukraine vor seiner Haustür – auch wenn selbst ohne russische Invasion dazu noch ein weiter Weg zurückzulegen war – ist für Putin ein Schreckgespenst. Sie wäre eine direkte Gefahr für seine Machtbasis, würde diese erodieren und ihrer Legitimität berauben. Deshalb musste er die ukrainische Regierung als nazistisch diffamieren, um so ihren Sturz zu legitimieren. Doch die Ukraine will nach Westen, das ist nicht, wie die russische Propaganda behauptet, eine Strategie des Westens, um Russlands Interessen zu verletzen. Allerdings bedroht es in der Tat Putins Interessen – nämlich seinen Machterhalt. Aber nur wer der russischen Propaganda Glauben schenkt, kann hier von einer „Mitschuld“ eines Westens sprechen, der angeblich die russischen Sicherheitsinteressen nicht respektierte oder gar Russland nach 1989, so wie die Siegermächte des Ersten Weltkriegs Deutschland im Versailler Frieden, demütigte.

Das alles ist Unsinn. Richtig ist: Putin will auf keinen Fall eine nach Westen orientierte, liberale, demokratische und rechtsstaatliche Ukraine vor seiner Haustür, sondern eine solche, die „heim ins Reich“ kommt. Dafür ist er nun, nachdem er sich verschätzt hat und meinte, die Ukrainer würden die Russen mit offenen Armen als ihre Befreier empfangen, offenbar bereit, das Leben unzähliger Angehörigen des ukrainischen „Brudervolkes“, deren Städte und bisher erreichten Wohlstand zu zerstören.

Putins Geschichtslektion, vorgetäuschte Kriegsgründe und Russlands wirkliche „Sicherheitsinteressen“

Heute können wir klarer erkennen – hätten es aber auch schon früher wissen können –, dass die Ängste der Ukraine vor dem Russland Putins berechtigt waren. Sein auf der Website des Kremls auch in ukrainischer (!) und englischer Sprache veröffentlichter Artikel vom 12. Juli 2021 mit dem Titel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ klärt darüber auf, was schon seit langem in Putins Kopf vorgeht, und kann verständlich machen, dass seine offiziell dann vorgebrachten Kriegsgründe – Sicherheitsbedenken, Befreiung der Ukraine von den Nazis und Bewahrung der Donbass-Bevölkerung vor einem Völkermord – nur vorgeschoben waren, um den eigentlichen Kriegsgrund zu verschleiern: „Die Ukraine gehört uns“ – sie sei, wie auch Belarus, ein historischer Teil Russlands, Kiew sei gar nicht „ukrainisch“, sondern russisch, denn seit dem 10. Jahrhundert – dem Kiewer „Rus“ – sei es die Wiege der russischen Kultur. Ein unabhängiger ukrainischer Staat sei ein Kunstprodukt, geschaffen von Lenin als Teilrepublik der Sowjetunion, die ja eigentlich Russland war. Ja, Ukrainer und Russen seien „Teile eines einzigen Volkes“, wie es in Putins Artikel heißt.

Alles, was der Idee, die Bewohner des heutigen Russland und der heutigen Ukraine seien „Teile eines einzigen Volkes“, widerspricht, tangiert die „Sicherheitsinteressen“ Russlands und ist für Putin deshalb eine Bedrohung.

Da eine NATO, deren Gebiet unmittelbar an die Grenze des dann endlich wiedervereinigten Russland stoßen würde, von dieser dann wohl wieder zum „Sicherheitsproblem“ erklärt werden könnte, müsste aus russischer Sicht eine Pufferzone sichergestellt werden. Also solche betrachtete Russland in der Geschichte immer die östlichen Teile Polens, nun käme wohl auch noch das Baltikum dazu. Klar gesehen hatte das Otto von Habsburg, der 2006 schrieb: „In der Zeit von Stalin bis Putin hat sich der russische Imperialismus immer wieder das Ziel gesetzt, die Ukraine erneut zu erobern, Russland einzuverleiben und als Ausgangspunkt für weitere große Operationen gegenüber Polen, beziehungsweise den anderen Teilen Europas, zu nutzen.“

Kurz: Alles, was diesem Narrativ, diesem Mythos, diesem Ideal eines Großrussland wie schon zur Zeit der Zaren, während der die Bewohner der Ukraine „Kleinrussen“ genannt wurden – ursprünglich allerdings nur, wie der Osteuropaexperte und Professor der Universität Wien, Andreas Kappeler, in seinem Buch Ungleiche Brüder erklärt, weil die Distanz nach Konstantinopel, dem Sitz des orthodoxen Patriarchen „kleiner“ als von Moskau aus war –, alles, was der Idee, die Bewohner des heutigen Russland und der heutigen Ukraine seien „Teile eines einzigen Volkes“, widerspricht, tangiert die „Sicherheitsinteressen“ Russlands und wird von Putin deshalb zur Bedrohung erklärt.

Würde der Westen so verstandene russische Sicherheitsinteressen respektieren und nun gar aufgrund von Kriegsdrohungen Russland die Ukraine überlassen, würde das einer Verletzung sämtlicher vertraglichen Bindungen gleichgekommen, auf denen die europäische Friedensordnung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beruht. Es bedeutete das Ende von Vertragstreue, Rechtsstaatlichkeit und Geltung des Völkerrechts in Europa. Der Westen konnte deshalb auf die Forderungen Russlands nach einer Neutralitäts- und Blockfreiheitsgarantie für die Ukraine unmöglich eingehen. Es wäre genau der Fehler gewesen, der bereits einmal in verhängnisvoller Weise gemacht wurde: 1938 in München.

Hatten George Kennan und Henry Kissinger nicht doch Recht?

Wer immer noch – etwa mit Berufung auf George Kennan oder Henry Kissinger – die These verbreitet, der Westen habe mit der NATO-Osterweiterung die Sicherheitsinteressen Russlands nicht berücksichtigt, der macht sich – zum jetzigen Zeitpunkt – zum Sprachrohr Moskaus. Intellektuelles Einknicken vor der russischen bzw. sowjetischen Propaganda und Desinformation ist auch in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen, nicht nur vor dem Zweiten Weltkrieg, auch zu Zeiten des Kalten Krieges, in der die sowjetische Desinformationsmaschinerie auf vollen Touren lief. Wladimir Putin stammt aus diesem Apparat. Er weiß, wie es läuft – und wie man den Westen verunsichert und auseinanderdividiert.

Doch das heutige Russland ist nicht mehr die ideologisch auf die kommunistische „Weltrevolution“ ausgerichtete und lange einmal den USA militärisch ebenbürtige Sowjetunion der Zeit George Kennans und Henry Kissingers. Russland ist ökonomisch ein Zwergstaat mit – trotz seiner 144 Millionen Einwohner, seines gewaltigen Reichtums an Rohstoffen, seiner Größe und geopolitisch privilegierten Lage – einer Wirtschaftsleistung in der Dimension des einwohnermäßig dreimal und flächenmäßig etwa vierunddreißigmal kleineren Spaniens! Und Russlands autokratischer Staatspräsident ist ein gewalttätiger, aber durchaus strategisch denkender Träumer, der Russlands Vergangenheit als Dominator einer Union von heute selbständigen Sowjetrepubliken und Hegemon des durch den Warschau-Pakt an dieses frühere Russland gefesselten Ostblockländer nachtrauert.

Henry Kissingers Politikempfehlungen war in der Vergangenheit in den seltensten Fällen Erfolg beschieden. Das wird auch dieses Mal so sein.

Immerhin, und das ist Kissinger zugute zu halten – wird aber von denen, die sich heute auf ihn berufen, nie erwähnt, – hatte er in seinem Artikel von 2014 unter den vier Prinzipien, auf denen seiner Ansicht nach ein Modus Vivendi zwischen Russland und der Ukraine zu etablieren sei, neben der Forderung „Ukraine should not join NATO“, drei weitere Punkte genannt: „Ukraine should have the right to choose freely its economic and political associations, including with Europe“ und „Ukraine should be free to create any government compatible with the expressed will of its people“ sowie schließlich: es sei „incompatible with the rules of the existing world order for Russia to annex Crimea“. Deshalb sollte der Ukraine die Souveränität über die Halbinsel zurückgegeben werden und dort, zur Stärkung der Autonomie der Krim, freie Wahlen stattfinden, damit der Status der russischen Schwarzmeerflotte in Sebastopol eindeutig geklärt bliebe.

Henry Kissingers Politikempfehlungen war in der Vergangenheit in den seltensten Fällen Erfolg beschieden. Das wird auch dieses Mal so sein. Nicht nur eine erneute ukrainische Souveränität über die Krim wird Putin niemals freiwillig konzedieren, auch die beiden ersten Prinzipien sind wohl unüberwindliche Knackpunkte. Denn genau das will Russland auf keinen Fall. Die Hinwendung einer liberal-demokratischen und rechtsstaatlichen Ukraine nach Westen und gar zur EU ist für Putins Herrschaft ungleich gefährlicher als deren Mitgliedschaft in einer, so der französische Präsident Macron, „hirntoten“ NATO, von der, wie Putin genau weiß, keine Bedrohung Russlands ausgeht. Doch eine der EU zugewandte, wirtschaftlich erfolgreiche und für alle Volksschichten Wohlstand schaffende Ukraine vor der eigenen Haustür würde alle Versprechen Putins an sein eigenes Volk Lügen strafen und seine Machtbasis zur Erosion bringen. Die NATO würde allein jeglichem Versuch im Wege stehen, diesen Weg der Ukraine nach Westen zu verhindern – so wie Russland das im Moment versucht.

Wie den Krieg beenden? Gefahren und Chancen

Natürlich ist wegen der nur schwer einschätzbaren Drohung Putins mit dem Einsatz von Atomwaffen eine direkte Involvierung des Westens, der NATO – aber auch der USA allein – in diesen Krieg zu vermeiden. Es wäre nach bisheriger allgemeiner Einschätzung der Beginn des Dritten Weltkriegs – auch wenn der Konsens zu bröckeln beginnt. Jedenfalls wäre es nicht nur feige, sondern auch kurzsichtig, die Ukraine allein und damit zur leichten Beute Russlands werden zu lassen. Letztlich ist es die Entscheidung des ukrainischen Volkes und dessen gewählter Regierung, ob sie sich wehren und ihre Unabhängigkeit mit Waffen, die ihnen der Westen liefert, verteidigen wollen, auch auf Kosten von Menschenleben und großer Zerstörungen. Das moralische Recht dazu haben sie zweifellos und der Westen sollte, nur weil ihre wohlstandsgesättigte Bevölkerung – wir alle – Mühe haben, das nachzuvollziehen, ihr dieses Recht nicht verweigern.

Und diese Entscheidung, sich selbst unter großen Opfern zu verteidigen, haben die Ukrainer allem Anschein nach getroffen – man sehe, wie sie sich unter der Führung ihres mutigen Präsidenten dem Aggressor entgegenstellen. Sie ist die Entscheidung, Ideen und für eine Nation unverzichtbare geistige und moralisch relevante Güter wie Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Selbstachtung, Widerstand gegen Gewalt und Ungerechtigkeit höher zu werten als materielle Güter, ja selbst das eigene Leben. Wie gesagt: Niemand darf eine solche Entscheidungen anderen aufzwingen oder sie dazu drängen. Aber ein Volk darf sie sich selbst auferlegen – und das tun offenbar die Ukrainer, wir sehen es jeden Tag. Und wir sollten sie dafür bewundern, ja, ihnen dankbar sein! Denn damit verteidigen sie letztlich Europa.

Ein Volk kann in seinem Verteidigungskampf an das Ende seiner Kräfte und Möglichkeiten kommen und dann darf selbst ein demokratisch gewählter Präsident es nicht zwingen, weitere Opfer auf sich zu nehmen.

Freilich: Es kann ein Punkt kommen – und falls er kommt, muss die Gelegenheit beim Schopf ergriffen werden – an dem die Stunde der Diplomatie schlägt und, oft schmerzhafte, Kompromisse zur Vermeidung weiterer Zerstörungen und von Blutvergießen eingegangen werden müssen. Präsident Selenskyj weiß das und hat die Bereitschaft dafür signalisiert. Denn auch die hohen geistigen Güter müssen gegen andere, weniger hohe, aber dafür fundamentalere – Leben, Gesundheit u.a. – abgewogen werden. Ein Volk kann in seinem Verteidigungskampf an das Ende seiner Kräfte und Möglichkeiten kommen und dann darf selbst ein demokratisch gewählter Präsident es nicht zwingen, weitere Opfer auf sich zu nehmen.

Allerdings weiß zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand, ob die Russen vor ihrer eigenen militärischen Erschöpfung oder einer drohenden, schmachvollen Niederlage zu einem Kompromiss bereit sind; einem Kompromiss wie etwa die Neutralisierung der Ukraine – allerdings, und das ist entscheidend, ohne deren Entmilitarisierung und ohne die Installierung einer Regierung von Russlands Gnaden. Leider ist genau dies – Entmilitarisierung und Installierung einer Russland genehmen Marionettenregierung – das erklärte Ziel der „besonderen Militäroperation“ Russlands. Und im Moment spricht leider viel dafür, dass Putin seine Militärstrategie, nachdem durch den mutigen Kampf der Ukrainer ein blitzartiger russischer Handstreich verhindert worden ist, auf das Konzept „Grosny und Aleppo“ umgestellt hat. In der tschetschenischen Hauptstadt Grosny und dem syrischen Aleppo kann jedermann sehen, wie weit Putin zu gehen imstande ist. So bleibt fraglich, ob eine Kompromisslösung überhaupt je möglich sein wird. Denn eine ukrainische Kapitulation, sich also selbst zu einem Satellitenstaat Moskaus zu degradieren, dem wird kein Ukrainer zustimmen wollen.

Die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf nicht zu unterstützen, wäre ungerecht und auch „realpolitisch“ kurzsichtig. Denn ein von Putin beherrschtes Russland wird an den Grenzen einer entmilitarisierten und von Russland politisch wie auch militärisch kontrollierten Ukraine nicht unbedingt Halt machen.

Die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf nicht zu unterstützen, wäre ungerecht und – wie gesagt – auch „realpolitisch“ kurzsichtig. Denn gerade aufgrund seines „Sicherheitsbedürfnisses“ wird ein von Putin beherrschtes Russland an den Grenzen einer entmilitarisierten und von Russland politisch wie auch militärisch kontrollierten Ukraine keineswegs unbedingt Halt machen. „L‘appétit vient en mangeant – „der Appetit kommt beim Essen“ – sagt das französische Sprichwort treffend. Deshalb ist so weit wie möglich zu verhindern, Russlands Appetit auf noch mehr anzuregen. Erst damit werden sicherheitspolitischen Interessen gebührend berücksichtigt – nämlich diejenigen der freien, osteuropäischen Staaten, deren Sicherheitsinteressen letztlich die des gesamten Westens sind.

Und das wirft die Frage auf, ob der Ukrainekrieg vielleicht doch internationalisiert, ob also die NATO bzw. die USA in irgendeiner direkten Weise eingreifen wird, weil man davon ausgeht, dass nicht nur eine völlige Zerstörung der Ukraine droht, sondern infolge der daraus resultierenden, extrem instabilen Situation, auch die europäische Sicherheit selbst gefährdert sein könnte. Dass die USA im Moment Druck auf China ausüben und von ihm die Garantie verlangen, von einer Unterstützung Russlands abzusehen, könnte Vorbote eines Planes der NATO sein, unter amerikanischer Führung in den Krieg einzugreifen.

Damit würde Präsident Biden vor den Augen der Geschichte auch seinen schweren Fehler wiedergutmachen, mit Waffenlieferungen an die Ukraine viel zu lange zugewartet zu haben. Und, falls sich China stillhält, würde eine Disziplinierung Russlands und womöglich die weitgehende Zerstörung seiner Armee dann auch nicht zu einem neuen Weltkrieg führen, sondern zu einer neuen Chance für eine friedlichere Welt – sofern Putin nicht durchdreht und eine Atombombe zündet. Niemand kann abschätzen, ober er nicht auch dazu fähig wäre, und wenn ja, ob in Russland selbst ihn dann jemand daran hindern würde.

Auch an die Bevölkerung Russlands denken

Aber auch dem russischen Volk muss eine Zukunftsperspektive offengehalten werden. Wie der russische Soziologe Lew Gudkow im Gespräch mit der Moskau-Korrespondentin des ORF ausführte, unterstützt zwar im Moment die große Mehrheit der Russen – vor allem die weniger gebildete ländliche Bevölkerung – Putin und dessen jetzigen Krieg; doch sind sie Opfer einer Staatspropaganda, die sie nicht zu durchschauen und gegen die sie sich kaum zu wehren vermögen. Das könne sich aber in wenigen Monaten ändern. Auch die russischen Armeeangehörigen, viele jung und unerfahren, sind Opfer von Putins Krieg. Bereits sind Tausende von ihnen gefallen und eine hohe Zahl verletzt – auch das ist eine Tragödie.

Zudem: Weniger beachtet als die Flüchtlingsströme aus der Ukraine sind jene viel kleineren und ganz anders motivierten Ströme von Flüchtigen aus Russland Richtung Europa: Zentausende haben in den vergangenen Wochen Russland den Rücken gekehrt, zum Teil wollen sie das für immer, Menschen, die im Westen studieren oder arbeiten, die besten Köpfe. Viele von ihnen entschließen sich zur Ausreise mit dem „Allegro-Express“, dem nun voll ausgebuchten Hochgeschwindigkeitszug von St. Petersburg nach Helsinki, bevor es zu spät ist und die Grenzen nach alter Sowjetmanier geschlossen werden. Darunter viele in Russland arbeitende Finnen, Russen haben oft kein Visum und nur eine, in Europa nicht anerkannte, Sputnik-Impfung. Hier besteht Handlungsbedarf.

Es sind Menschen, die keine Zukunft mehr in Russland sehen, die Angst haben vor dem bevorstehenden Staatsterror, der alle dem offiziellen Staats-Narrativ widersprechenden Meinungen mit Gewalt unterdrücken will. Menschen auch, die aus moralischen, aus Gewissensgründen ihrem Land den Rücken kehren. Und es könnten immer mehr werden, sobald sie das Ausmaß der Katastrophe für ihr Land erkennen, in die ihr Präsident sie hineinmanövriert hat – solange man überhaupt noch gefahrlos auswandern kann.

Deshalb: Je eher die russische Offensive und damit auch die Herrschaft Putins durch den ukrainischen Widerstand an ihr Ende gelangt, desto besser auch für Russland und seine Bevölkerung. Die Ukraine kämpft deshalb nicht nur für ihre eigene Unabhängigkeit und Freiheit, sondern auch für eine Zukunft Russlands in Freiheit und unter der Herrschaft des Rechts. Wie dieser Prozess verlaufen, wo und wann er enden wird, kann niemand wissen. Aber nur wenn der Westen seinen Idealen und Prinzipien treu bleibt, wird in Europa der Frieden und die Rechtsgemeinschaft gewahrt werden. Und nur so wird es auch Hoffnung für ein Russland geben können, das in Freiheit und im Frieden mit seinen Nachbarn lebt und an deren Wohlstand teilhat.

 

Dieser Artikel wurde am 20. März 2022 abgeschlossen und entspricht dem Informationsstand zu dieser Zeit. Die letzten Zugriffe auf alle Links erfolgten am selben Tag.

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