Worauf zielt die russische Außenpolitik? Und wie müsste der Westen reagieren?

„In der Zeit von Stalin bis Putin hat sich der russische Imperialismus immer wieder das Ziel gesetzt, die Ukraine erneut zu erobern, Russland einzuverleiben und als Ausgangspunkt für weitere große Operationen gegenüber Polen, beziehungsweise den anderen Teilen Europas, zu nutzen.“ (Otto von Habsburg 2006)

Das vorangestellte Zitat des hellsichtigen Otto von Habsburg fasst treffend eine Analyse von Norbert Tofall aus dem Jahre 2016 zusammen, die wir nachfolgend – anlässlich der Bedrohung der Freiheit der Ukraine, die auch eine Bedrohung des freien Westens ist, – wegen ihrer ungebrochenen Aktualität dokumentieren. Die Zwischentitel wurden von der Redaktion des Austrian Institute hinzugefügt, der Text wurde nicht verändert. Mit freundlicher Genehmigung des Flossbach von Storch Research Institute, Köln, wo diese Studie am 28. Oktober 2016 als „Politischer Kommentar“ erschienen ist.

Die russische Außenpolitik ist der Versuch, ehemalige Sowjetrepubliken heim ins Russische Reich zu holen und den hegemonialen Einfluss auf ehemalige Staaten des Warschauer Paktes zurückzuerlangen. Die russische Führung versucht deshalb, die politische Durchsetzung westlicher Beistandsverpflichtungen für ost- und mitteleuropäische Staaten zu unterminieren. Es ist an der Zeit, dass der Westen zur Friedenssicherung neue Konzepte „erweiterter Abschreckung“ in Zeiten hybrider Kriegführung entwickelt und durchsetzt.

Wiederherstellung des „sowjetischen“ Russland mit dem Ziel einer eurasischen Hegemonie

„Das heutige Russland hat zwar nicht die Fähigkeit zu raumgreifenden Offensiven in den westlichen Teilen Europas, wohl aber dazu, in den baltischen Staaten und auch in Teilen Polens schnelle territoriale Gewinne zu erzielen. Die baltischen Staaten lassen sich mit den derzeitigen Kräften nicht verteidigen; sie wären – wie es „war games“ auf amerikanischer Seite nahelegen – in wenigen Tagen überrannt.“[1]

Dieses Urteil aus einer aktuellen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik gewinnt angesichts der russischen Annektierung der Krim, Russlands verdecktem Krieg im Os­ten der Ukraine, der russischen Intervention in Syrien auf Seiten des Diktators Assad, russi­schen Cyberattacken im US-Wahlkampf, der russischen Unterstützung von rechten und linken systemkritischen politischen Bewegungen in Europa und Russlands Verweis auf die eigenen nuklearen Vernichtungsmöglichkeiten eine besondere Relevanz. Ohne dieses faktische Verhalten Russlands könnte man durchaus die Ansicht vertreten, dass ein Er­oberungspotential erst dann zu einer tatsächlichen Gefahr für den Frieden wird, wenn auch ein Eroberungswille vorhanden ist. Angesichts des faktischen Verhaltens der poli­tischen Führung Russlands ist diese Sichtweise leider unrealistisch.

„Die Sowjetunion ist zusammengebrochen. Doch woraus bestand die Sowjetunion? Aus Russland. Sie hieß nur anders.“ (Wladimir Putin 2011)

Spätestens seit dem 17. Oktober 2011 betrachtet Wladimir Putin die postsowjetischen Staaten als weggebrochene Teile eines einzigen Staates: „Die Sowjetunion ist zusam­mengebrochen. Doch woraus bestand die Sowjetunion? Aus Russland. Sie hieß nur an­ders.“[2] Und bereits 1994 erklärte der damals noch weithin unbekannte Putin bei den 101. Bergedorfer Gesprächen der Körber Stiftung in St. Petersburg, „daß Rußland im Interesse der allgemeinen Sicherheit und des Friedens in Europa freiwillig riesige Territorien an die ehemaligen Republiken der Sowjetunion abgegeben hat; darunter auch solche Territorien, die historisch immer zu Rußland gehört haben. Ich denke dabei nicht nur an die Krim oder an Nordkasachstan, sondern beispielsweise auch an das Kaliningrader Gebiet. Die Folge ist, daß jetzt plötzlich 25 Millionen Russen im Ausland leben, und Rußland kann es sich einfach nicht leisten – allein schon im Interesse der Sicherheit in Europa;-, daß diese Menschen willkürlich ihrem Schicksal überlassen bleiben“ (Rechtschreibung und Zeichensetzung im Original).[3]

Putin äußerte dies im Zusammenhang mit Fragen von doppelten Staats­bürgerschaften und Min­derheitenschutz. Wie der Schutz von Minderheiten mit russischer Abstammung im Ausland dann in der Praxis abläuft, wurde vor dem Ein­marsch Russlands in Geor­gien (2008) und der Annektierung Südossetiens durch Russ­land mit der Ausgabe von russi­schen Pässen an die Bewohner Südossetiens vorexer­ziert.

„Nichtlineare“ oder „hybride“ Kriegsführung

Diese Vorgehensweise ist jedoch nur ein Strategieelement in den heutigen „neuen Krie­gen“[4]. Unter „neuen Kriegen“ werden Kriege ohne formale Kriegserklärung und ohne immer klare Fronten verstanden. Oft­mals handelt es sich um maskierte Stellvertreter­kriege. In diesen „neuen Kriegen“ wer­den über Wochen Auseinandersetzungen gleich­zeitig geschürt und verleugnet.[5]

Die Fachzeitschrift „Vzlgjad“ zitierte Anfang 2013 aus einer Rede des russischen Gene­ralstabschefs Walerij Gerassimow, die er auf einer Tagung der russischen Militäraka­demie im Januar 2013 gehalten hatte,[6] dass durch politischen und wirtschaftlichen Druck, massive Propaganda, das Aufstacheln von Protesten der einheimischen Bevölke­rung, durch verdeckte Militärmittel und Spezialeinheiten heute selbst ein „blühender Staat im Verlauf von Monaten in einen erbitterten Konflikt verwandelt werden und in Chaos, humanitäre Katastrophe und Bürgerkrieg versinken“ könne.[7] In Russland wird das „nicht­lineare Kriegsführung“ genannt, in der Nato „hybride Kriegsführung“.[8] Dar­über hinaus hat Putin am 4. Oktober 2011 seinen Plan zur Gründung einer Eurasischen Union verkündet, mit der eine mächtige supranationale Gemeinschaft als einer der Pole der heutigen Welt erschaffen werden soll.[9] Doch ohne die Ukraine bleibt Putins Eurasi­sche Union ein Papiertiger.

Die heutige russische Außenpolitik ist nicht die Reaktion einer Einkreisung von Russland durch feindliche Mächte, sondern der praktische Versuch der russischen Füh­rung, ehemalige Sowjetrepubliken heim ins Russische Reich zu holen und den he­gemo­nialen Einfluss auf ehemalige Staaten des Warschauer Paktes zurückzuerlangen.

Während viele westliche Staatsmänner dies bis zum Frühjahr 2014 ignorierten, warnte Otto von Habs­burg (1912 – 2011) in den letzten zehn Jahren seines Lebens ständig vor Putins Politik: „In der Zeit von Stalin bis Putin hat sich der russische Imperialismus immer wieder das Ziel gesetzt, die Ukraine erneut zu erobern, Russland einzuverleiben und als Ausgangspunkt für weitere große Operationen gegenüber Polen, beziehungs­weise den anderen Teilen Europas, zu nutzen.“[10]

Die heutige russische Außenpolitik ist deshalb nicht die Reaktion einer Einkreisung von Russland durch feindliche Mächte,[11] sondern der praktische Versuch der russischen Füh­rung, ehemalige Sowjetrepubliken heim ins Russische Reich zu holen und den he­gemo­nialen Einfluss auf ehemalige Staaten des Warschauer Paktes zurückzuerlangen.

Unterminierung der Glaubwürdigkeit westlicher Abschreckung

Dieser Versuch kann mittel- und langfristig nur gelingen, wenn Russland verhindert, dass die heute souveränen mittel- und osteuropäischen Staaten in einem glaubwürdigen mi­litäri­schen Konzept der „erweiterten Abschreckung“ des Westens eingebunden blei­ben oder zukünftig eingebunden werden. Nicht nur das Baltikum kann sich selbst nicht wirksam verteidigen und ist auf „erweiterte Abschreckung“ angewiesen, die sich aus dem glaubwürdigen militärischen Beistand der westlichen NATO-Bündnispartner ergibt. Deshalb nutzt die russische Führung jede Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit der „erweiterten Abschreckung“ zu unterminieren.

Das russische Regime unter Putin unterstützt in den USA direkt und indirekt Donald Trump. Dieser hat die Beistandsbereitschaft der USA für NATO-Partnerländer öffent­lich in Frage gestellt, was einer Infragestellung der „erweiterten Abschreckung“ gleich­kommt. Darüber hinaus unterstützt das russische Regime unter Putin überall in Eu­ropa sowohl rechte als auch linke systemkritische Populisten. Diese haben das Potential zur politischen und gesell­schaftlichen Destabilisierung qua Polarisierung und wenden sich gegen Globalisierung und internationale Zusammen­arbeit. Die politische Durchsetzung militärischer Kon­zepte „erweiterter Abschre­ckung“ wird so zusehends erschwert.

Die zukünftige Einbindung der Ukraine in ein Konzept der „erweiterten Abschreckung“ hat Putin durch die Annektierung der Krim und seinen verdeckten Krieg im Osten der Ukraine bereits verhindert. Putins Versöhnung mit Erdogan in den letzten Wochen [Anm.: 2016] zielt auf eine Spaltung der NATO. Und an einem Frieden in Syrien hat Putin genauso wenig Interesse wie an der Lösung des Ukrainekonflikts. Der Syrienkonflikt hat seit der militä­rischen Intervention Russlands erhöhte Flüchtlingsströme hervorgebracht, welche Eu­ropa und die EU politisch enorm unter Druck setzen.

Europa ist aufgrund der Flüchtlingskrise, welche nur durch wirksame Kontrolle der Binnengrenzen in der EU oder der EU-Außengrenzen zu bewältigen sein wird, und auf­grund der unbewältigten Eurokrise in denkbar schlechter Verfassung.

Europa ist aufgrund der Flüchtlingskrise, welche nur durch wirksame Kontrolle der Binnengrenzen in der EU oder der EU-Außengrenzen zu bewältigen sein wird, und auf­grund der unbewältigten Eurokrise in denkbar schlechter Verfassung. Der Euro hat sich als ökonomisch höchst ungeeignetes Mittel herausgestellt, das friedliche Zusammen­wachsen der Völker Europas zu fördern. Nie war der Streit innerhalb der EU und insbe­sondere zwischen den Euroländern grösser als in der immer noch nicht bewältigten Eu­rokrise. Und die Flüchtlingskrise hat nicht nur einen Keil zwischen den Visegrad-Staa­ten und anderen EU-Staaten getrie­ben. Der Austritt Großbritanniens aus der EU ist die weitreichendste Folge beider Kri­sen, welche sich zu einer europäischen Verfassungs­krise gesteigert haben. Und in den USA dürfte die politische und gesellschaftliche Pola­risierung unabhän­gig vom Ausgang der Präsidentenwahlen weiter wachsen.

Das Regime unter Putin wird diese Lage des Westens weiterhin für sich zu nutzen wis­sen, um über diese Kanäle Uneinigkeit zwischen und in den NATO-Staaten zu schüren. Denn die NATO und die USA stellen nach der neuen russischen Militärdoktrin vom 25. Dezember 2014 eine militärische Gefahr für Russland dar: erstens durch mögliche Er­weiterungen der NATO durch neue Mitglieder sowie durch Maßnahmen zur Rückversi­cherung der Verbündeten an der Grenze zu Russland und zweitens über den Aufbau ei­nes Raketenabwehrsystems auf der nuklear-strategischen Ebene, über nichtnukleare stra­tegische Waffen und über Fähigkei­ten zum Cyberwarfare.[12]

In den westlichen Gesellschaften – vornehmlich in den westeu­ropäischen – muss wieder die Bereitschaft wachsen, die eigene freiheitli­che Gesellschaftsordnung militärisch zu verteidigen.

Eine adäquate Reaktion des Westens setzt angesichts dieser feindlichen Gefahrenein­schätzung nicht nur die Auflösung der derzeitigen Polarisierungen in den westlichen Gesellschaften voraus. In den westlichen Gesellschaften – vornehmlich in den westeu­ropäischen – muss darüber hinaus wieder die Bereitschaft wachsen, die eigene freiheitli­che Gesellschaftsordnung militärisch zu verteidigen. Ein glaub­würdiges und wirksames Konzept einer „erweiterten Abschreckung“ zur gesamteuro­päischen und nordatlanti­schen Friedenssicherung beruht auf innerwestlichen Voraussetzungen, welche in den westlichen Gesellschaften seit längerem weitgehend selbst verleugnet werden.

Das Regime Putin hat hingegen schon länger erkannt, dass die „Diktatur des Relativis­mus“ sowohl die freiheitlichen Grundlagen des Westens als auch den Willen zur Vertei­digung der freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung unterminiert hat. Aus die­sem Grund unter­stützt das Regime Putin alle Bewegungen von rechts oder links, die ihre Kritik an Zu­ständen in den westlichen Gesellschaften zur Systemkritik steigern. Durch Systemfra­gen polarisierte Gesellschaften relativieren mehr und mehr die eigenen Wertgrundlagen von Recht und Freiheit, destabilisieren sich dadurch schrittweise und verlieren die Kraft, die eigene Gesellschaftsordnung und die ihrer Verbündeten zu ver­teidigen. Das Regime Putin hat erkannt, dass es fraglich ist, ob die westlichen Gesell­schaften zur Zeit die Kraft und Fähigkeit besitzen, sich den anstehenden militä­risch strategischen Fragen zu stellen.

Die Illusion eines waffenlosen Friedens – und die Zahnlosigkeit von Wirtschaftssanktionen

Große Teile der westeuropäischen Gesellschaften sind heute in einer Illusion gefangen, die sich als „Frieden schaffen ohne Waffen“ bezeichnen lässt. Diese Illusion wurde bei vielen Menschen durch den Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 gesteigert, obwohl der Zusammenbruch des real­-existierenden Sozialismus und des Warschauer Paktes nicht zuletzt auf der Durchset­zung des NATO-Doppelbeschlusses beruhte und damit auf der Stationierung von nuklearen Waffen und einem Wettrüsten, welche die sozialistischen Zentral­verwaltungswirt­schaften end­gültig zum Zusammenbruch führte.

Die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses hatte dazu geführt, dass der Sowjet­union und ihren Satelliten die Möglichkeit genommen wurde, den Druck zur Lösung ihrer eigenen sozio-ökonomischen Probleme durch territoriale Expansion bei für die sowjetische Führung vertret­baren Kosten zu vermindern. „Vertretbar“ meint in diesem Zusammenhang die Kosten, die aus einer konventionellen militärischen Auseinander­setzung folgen; „un­vertretbar“ meint die Kosten einer nuklearen Auseinandersetzung, weil diese zur Selbstvernichtung führen würde.

Durch die Stationierung von mit atomaren Sprengköpfen bestückten sowjetischen SS-20-Mittelstre­ckenraketen war Mitte der 1970er Jahre die „erweiterte Abschreckung“ der Nato und damit das strategische Sicherheitsgleichgewicht in Europa in Gefahr geraten. Es galt als unsicher, ob die USA einen Angriff des Warschauer Paktes mit atomaren Mittelstre­ckenraketen auf Westeuropa durch atomare Interkontinentalraketen beantworten wür­den. Auf maßgebliche Initiative des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (SPD) be­schloss die NATO am 12. Dezember 1979 in Brüssel die Stationierung von atomaren Mit­telstreckenraketen in Europa (Pershing II und Cruise Missile), um das strategische Si­cherheitsgleichgewicht in Europa wiederherzustellen.

Gleichzeitig wurden dem War­schauer Pakt unter Führung der Sowjetunion Verhandlungen zur Abrüstung ihrer SS-20 Raketen angeboten, woraus sich der Name Doppelbeschluss ableitet. Sollten diese Ver­handlungen scheitern, würde die NATO atomare Mittelstreckenraketen in Europa statio­nieren. Die Verhandlungen scheiterten. Die Pershing II und Cruise Missile wurden sta­tioniert. Der militärisch-industrielle Komplex des real-existierenden Sozialismus geriet an seine Grenzen. Der Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus und des Warschauer Paktes konnte selbst durch Glasnost und Perestroika nicht aufgehalten wer­den.

Der Friede seit 1989/90 und davor beruhte nicht auf Waffenlosigkeit. Der Friede wurde durch Waffen geschaffen und erhalten, weil sich der Westen traute, einem Erobe­rungspotential des „Ostens“ konsequent entgegenzutreten.

Der Friede seit 1989/90 und davor beruhte also nicht auf Waffenlosigkeit. Der Friede wurde durch Waffen geschaffen und erhalten, weil sich der Westen traute, einem Erobe­rungspotential des „Ostens“ konsequent entgegenzutreten und strategische Sicherheits­lücken zu schließen.

Und die heutigen strategischen Sicherheitslücken werden sicherlich nicht durch Wirt­schaftssanktionen geschlossen werden. In der Ukraine-Krise haben die massiven Sank­tionen gegen Russland zwar zu enormen wirtschaftlichen Schäden sowohl in Russland als auch in Europa und den USA ge­führt. Die Sanktionen haben aber bislang keine Ver­änderung der russi­schen Politik be­wirkt. Russland ist durch die Sanktionen nicht auf die Grundlage der Schlussakte von Helsinki zurückgekehrt, sondern richtet sich auf ein Jahrzehnt von Sanktio­nen ein. Russland hat seine Politik gegenüber der Ukraine nicht ge­ändert. Das militäri­sche Abenteuer eines verdeckten Krieges im Osten und Süden der Ukraine wurde trotz zeitweiligen Waffenstillstands nicht abgebrochen. Die Krim wurde nicht zurückgege­ben. Russland wird sich auch von mögli­chen Sankti­onen wegen seiner Art der Kriegführung in Syrien nicht zu einer anderen Syrienpolitik bewegen lassen.[13]

Ein einseitiges „Frieden schaffen ohne Waffen“ führt leider nicht zum Frieden, sondern erhöht die Gefahr neuer Kriege. Wer „Frieden für unsere Zeit“ ernsthaft will, muss sich auf Konzepte militärischer Abschreckung und strategischer Sicherheitsgleichgewichte einlassen.

Aufbau neuer Abschreckungspotentiale?

„Das heutige Russland hat zwar nicht die Fähigkeit zu raumgreifenden Offensiven in den westlichen Teilen Europas, wohl aber dazu, in den baltischen Staaten und auch in Teilen Polens schnelle territoriale Gewinne zu erzielen. Die baltischen Staaten lassen sich mit den derzeitigen Kräften nicht verteidigen; sie wären – wie es „war games“ auf amerikanischer Seite nahelegen – in wenigen Tagen überrannt.“[14]

In Anbetracht dieses militärischen Eroberungspotentials Russlands und der daraus fol­genden strategischen Sicherheitslücke kann das friedenssichernde Ziel der NATO und der USA nur darin bestehen, Russland von vornherein von „raumgreifen­den Offensi­ven“ und der Realisie­rung von „schnellen territorialen Gewinnen“ im Osten Polens und im Baltikum abzu­schrecken. Die NATO und die USA sehen sich in dieser Lage vor die Wahl zweier strategischer Optionen zur Abschreckung gestellt.

Erstens könnten kon­ventionelle multinationale NATO-Trup­pen und Waffen im erheblichen Umfang im Baltikum und in Polen dauerhaft stationiert werden, die weit über die im Juli 2016 auf dem Warschauer NATO-Gipfel beschlossenen multinationalen Bataillone auf Rotati­onsbasis hinausgehen. Zwei­tens könnten die NATO und die USA mit nuklearer Ver­geltung im Falle eines kon­ven­tionellen Angriffs auf das Baltikum und Polen drohen oder den konventionellen mi­litä­rischen Konflikt geographisch ausweiten,[15] was die Dro­hung mit einem flächendecken­den Krieg in Mittel- und Osteuropa bedeuten würde.

Die erste Option wäre nicht nur eine Verletzung der NATO-Russland-Grundakte von 1997. Die Stationierung konventioneller multinationaler NATO-Truppen im Baltikum und in Polen, welche weit über den Umfang der bereits beschlossenen multinationalen Bataillone auf Rotationsbasis hinausgehen, führt zur realen Bedrohung von Sankt Pe­tersburg und Königsberg und dürfte deshalb die Kriegsgefahr erhöhen. Ziel ist jedoch die Friedenssi­cherung.

Die zweite Option ist in den westlichen Gesellschaften nur sehr schwer oder gar nicht durch­setzbar. Zudem führt sie zu einer ähnlichen strategischen Sicherheitslücke wie in den 1970er Jahren. Ist es sicher, dass die anderen NATO-Länder auf einen kon­ventio­nellen Angriff Russlands auf das Baltikum und Polen mit nuklearer Vergeltung oder einem flächende­ckenden konventionellen Krieg in Mittel- und Osteuropa antwor­ten werden?[16] Nein! Aber wie könnte diese Sicherheitslücke – zumindest theoretisch – schnell geschlossen werden? Und diese Lücke muss aus Gründen der Friedenssicherung schnell geschlossen werden.

Schließung der strategischen Sicherheitslücke wie Ende der 1970er und Anfang der 198oer Jahren?

Dar­über hinaus stellt sich die Frage, durch welche Form der Abschreckung Russland von „hybrider Kriegführung“ in den baltischen Staaten abgehalten werden könnte. Zurzeit be­steht durchaus die Gefahr, dass sich Putin ermutigt fühlt, die fünfundzwanzigpro­zen­tige russi­sche Minderheit in Estland, die neunundzwanzigprozentige russische Min­der­heit in Lettland oder die russische Minderheit in Litauen zur Destabilisierung des Balti­kums zu instrumentalisieren.

Da sich Russland durch die massive dauerhafte Stationierung konventioneller NATO-Truppen zurecht bedroht sehen könnte und die nukleare Vergeltungsdrohung von Seiten westlicher NATO-Länder unsicher und damit wenig glaubwürdig ist, könnten ähnlich wie in den 1970er Jahren auf dem Territorium der be­drohten Staaten Nuklearwaffen stationiert werden, um so die aufgebrochene strategische Sicherheitslücke zu schließen. Eine derartige Stationierung würde die Kündigung der NATO-Russland-Grundakte von 1997 voraussetzen, hätte jedoch den Vorteil für Russ­land, dass keine eroberungsfähigen konventionellen Truppenverbände russisches Territo­rium bedrohen würden. Mit Atomwaffen lässt sich kein Land erobern. Mit Atomwaffen lässt sich „nur“ von Angriffen auf das eigene Territorium abschrecken.

Russland hätte sich sicherlich nicht getraut, 2014 die Krim zu annektie­ren, wenn die Ukraine noch Atomwaffen besessen hätte. Der Friede zwischen Russland und der Ukraine hätte vermutlich gehalten. Heute scheint die Ukraine verloren zu sein.

Inwiefern sich Russland von Atomwaffen im Baltikum und in Polen von „hybrider Kriegführung“ abschrecken lassen wird, bleibt dabei offen. Das Risiko, dass im Verlauf „hybrider Kriegführung“ eine Eskalation hin zur nuklearen Kriegführung entstehen könnte, dürfte die russische Führung indes zu anderen Kosten-Risiko-Abwägun­gen be­wegen. Russland hätte sich sicherlich nicht getraut, 2014 die Krim zu annektie­ren, wenn die Ukraine noch Atomwaffen besessen hätte. Der Friede zwischen Russland und der Ukraine hätte vermutlich gehalten. Heute scheint die Ukraine verloren zu sein.

Die in der Theorie naheliegende nukleare Abschreckungsoption zur schnellen und wirk­samen Schließung aufgebrochener Sicherheitslücken dürfte in der Praxis jedoch auf mindestens zwei Widerstände stoßen. Zum einen ist die nukleare Abschreckungsoption aufgrund des bereits oben ausgeführten geringen Verteidigungswillens Westeuropas und der höchst polarisierten gesellschaftlichen Lage in den westlichen Gesellschaften nur schwer und vermutlich gar nicht politisch durchsetzbar. Zum anderen dürften die USA nicht bereit sein, Atomwaffen in die Hände des Baltikums und Polens zu legen und diese dem Kommando baltischer und polnischer Regierungen zu unterstellen. Wäre aber die US-Regierung bereit, Nuklearwaffen unter eigenem Kommando dort zu stationieren und glaubhaft zu machen, dass diese Waffen im Notfall auch eingesetzt würden? Die Syrien-Politik der Obama-Administration lässt daran zweifeln.

Neue Konzepte „erweiterter Abschreckung“ zur Friedenssicherung in Europa schaffen

Die im Juli 2016 auf dem Warschauer NATO-Gipfel beschlossenen rotierenden multi­nationalen Bataillone konventioneller Streitkräfte für das Baltikum und Ost-Polen sind im Vergleich zur vorherigen Lage ein großer Fortschritt, auch wenn sie die aufgebro­chene Sicherheitslücke nur sehr begrenzt schließen können. Auf jeden Fall sollte der Anteil US-amerikanischer Soldaten in diesen multinationalen Bataillonen möglichst hoch sein, weil nur so die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die USA im Falle eines An­griffs auf diese Bataillone umgehend Eskalationsstufen starten werden. „Hybride Kriegführung“ Russlands im Baltikum können diese multinationalen Bataillone zwar nicht verhindern, aber sie können das damit für Russland verbundene Risiko erhöhen.

Es ist an der Zeit, dass der Westen zur Friedenssicherung in Europa neue Kon­zepte „erweiterter Abschreckung“ entwickelt und die aufgebrochenen Sicherheitslücken schließt. Da Russland wiederholt auf seine atomare Vernichtungsfähigkeit hingewiesen hat, kann der Westen die nukleare Abschreckungsoption auf Dauer eigentlich nicht ignorieren. Einseitiges „Frieden schaffen ohne Waffen“ führt leider nicht zum Frieden, sondern erhöht die Gefahr neuer Kriege. Wir brauchen aber Frieden für unsere Zeit.

Anmerkungen

[1]    Peter Rudolf: Amerikanische Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung, SWP-Studie, Berlin, September 2016, S. 20 – 21.

[2]    So Putin in einem Interview mit drei großen russischen TV-Sendern, zitiert nach Wladislaw Inosemzew und Ekaterina Kusnezowa: „Putins unnützes Spielzeug. Moskaus Eurasische Union ist Ausdruck geopoli­tischen Wunschdenkens“, in: Internationale Politik, 1, Januar/Februar 2012, S. 78 – 87, hier S. 80.

[3]    Protokoll des 101. Bergedorfer Gesprächskreises der Körber-Stiftung, S. 38. (Zugriff 2. Februar 2022).

[4]    Allgemein zu „neuen Kriegen“ siehe Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbeck (Rowohlt) 2002.

[5]    Vgl. Michael Roick: Lebt Putin in einer „anderen Welt“? Ein Versuch, die russische Außenpolitik zu verstehen, Potsdam (Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit) 2014, S. 8 (Zugriff 2. Februar 2022).

[6]    Für diesen Hinweis danke ich Herrn Dr. Christian Wipperfürth von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Fälschlicherweise wurde in westlichen Medien berichtet und seitdem immer wieder zitiert, dass Walerij Gerassimow einen Aufsatz im Fachblatt „Militärisch-Industrieller Kurier“ geschrieben hätte.

[7]    Ebd., S. 8; Roick zitiert hier den Artikel „Die Welt in Scherben“ aus der Süddeutschen Zeitung vom 19. Juli 2014. Auf diese und weitere Zitate beruft sich auch Thomas Gutschker: „Putins Schlachtplan“, in: Frank­furter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7. September 2014.

[8]    Vgl. Thomas Gutschker: „Putins Schlachtplan“ a. a. O.

[9]    Vgl. Wladislaw Inosemzew und Ekaterina Kusnezowa: „Putins unnützes Spielzeug. Moskaus Eurasi­sche Union ist Ausdruck geopoli­tischen Wunschdenkens“, a. a. O., S. 82.

[10]   Otto von Habsburg: Unsere Welt ist klein geworden. Die Globalisierung der Politik, Wien (Amalthea) 2006, S. 115. Siehe auch Bianka Pietrow-Ennker und Benno Ennker: „Ein Reich mit Mission“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Mai 2014, Nr. 109, Seite 6: „Das Vorgehen Moskaus in der Ukraine-Krise folgt Traditionen und Mustern imperialer Politik, die von russischen Herrschern von Iwan dem Schrecklichen bis zu Stalin vorgezeichnet wurden.“

[11]   Die Einkreisungstheorie hat insbesondere Peter Scholl-Latour öffentlichkeitswirksam verbreitet, siehe: Peter Scholl-Latour: Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam, Berlin (Ullstein) 2006.

[12]   Siehe Peter Rudolf: Amerikanische Russland-Politik… a.a.O., S. 12 sowie Margarte Klein: Russlands neue Militärdoktrin. Nato, USA und „farbige Revolutionen“ im Fokus, SWP-Aktuell 12, Februar 2015.

[13]    Siehe auch Norbert F. Tofall: Ziele und Wirksamkeit von Wirtschaftssanktionen. Eine Betrachtung hinsichtlich des Russland-Ukraine-Konflikts, Flossbach von Storch Research Institute, Makroanalyse 2/2015 (Zugriff 2. Februar 2022).

[14]   Peter Rudolf: Amerikanische Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung, SWP-Studie, Berlin, September 2016, S. 20 – 21.

[15]   Vgl. Peter Rudolf: Amerikanische Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung… a.a.O., S. 21 f.

[16]   Die Frage, ob die NATO-Staaten aufgrund ihrer zusammengeschrumpften Militärverbände ausstattungsgemäß überhaupt in der Lage sind, glaubwürdig mit einem flächendeckenden Krieg in Mittel- und Osteuropa zu drohen, sollte zudem nicht vernachlässigt werden.

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