Mit Hilfe „brandneuer“ Studien und ausgefeilter Argumentationsstrategien verteidigen Politiker, Interessensvertreter, Lobbyisten und Bürokraten gerne angeblich „unbedingt erforderliche“ Maßnahmen. Teils stellen sie so den Status quo – ob Privilegien, Protektionismus, Zwangsgebühren und anderes – als „alternativlos“ dar, teils rechtfertigen sie so auch radikale wirtschaftspolitische Entscheidungen. Man denke nur an derzeitige Versuche, die ultralockere Geldpolitik in Schutz zu nehmen, an Beschwichtigungen bezüglich der in neue Rekordhöhen schießenden Staatsschulden, an die mit dringlichen Worten eingemahnten Staatsprogramme zur vermeintlichen Ankurbelung der Wirtschaft oder an ebenso heftige, wie erfolgreiche Forderungen nach Mietpreisbremsen. Freilich: So neu ist das alles nicht. Nichts beweist das besser, als ein Blick in Henry Hazlitts (1894-1993) „Economics in One Lesson“ (auf Deutsch mit dem eher unzutreffenden Titel „Die 24 wichtigsten Regeln der Wirtschaft“ publiziert).
Der gute Ökonom schaut nicht nur auf die kurzfristigen Wirkungen einer wirtschaftspolitischen Maßnahme.
In dem 1946 erstmals erschienenen, mittlerweile zum Klassiker avancierten und immer wieder neu aufgelegten Werk tritt der Journalist – er war Kolumnist der New York Times – und Autor zahlreicher wirtschaftstheoretischer Bücher unbeeindruckt von der veröffentlichten Meinung gängigen wirtschaftspolitischen Trends entgegen. Seine Widerlegungen sind eine wahre Fundgrube. Dabei wird in „Economics in One Lesson“ die immer gleiche eine und einzige Lektion auf alle möglichen Bereiche der Wirtschaft – 24 sind es insgesamt – angewendet. Sie lautet: Der gute Ökonom schaut nicht nur auf die kurzfristigen Wirkungen einer wirtschaftspolitischen Maßnahme, er beurteilt sie auch nicht nur hinsichtlich eines einzigen Industriezweigs oder einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe; vielmehr schaut er auf deren langfristige Folgen für die Gesamtwirtschaft. Das Ergebnis der Anwendung dieser einen „Regel“ ist erstaunlich, ihre Weisheit beachtlich – die Verantwortungslosigkeit der Politiker, die sie missachten, um die nächsten Wahlen zu gewinnen, wird dadurch nur umso deutlicher.
Das Austrian Institute hat den Klassiker erstmals auf Deutsch vollständig in einer eigens dafür erstellten Kurzfassung online zugänglich gemacht. Die Lektüre lohnt sich für jeden, der die Irrtümer hinter – häufigen – wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen besser verstehen und sich gegen ihre Begründungen wappnen will. Hazlitts Ausführungen sind von zuweilen fast verstörender Aktualität, wie ein paar wenige Beispiele zeigen.
Künstlich niedrige Zinsen führen zwingend zu wirtschaftlichen Verzerrungen
Bereits Hazlitt kannte die Argumente für eine ultralockere Geldpolitik, wie wir sie zurzeit gerade erleben. Im Kapitel „Angriff auf das Sparen“ spricht er von einer „geradezu krankhaften Angst vor ‚übermäßig hohen‘ Zinsen“. Sämtliche Regierungen betreiben die Politik des „billigen Geldes“, weil sie fürchten, mit hohen Zinssätzen könnte es unrentabel werden, „Geld für Investitionen in Fabriken und Maschinen zu leihen“. Eindringlich warnte Hazlitt vor einem künstlich unter seinem Marktpreis gehaltenen Zins, wie ihn zurzeit die Zentralbanken weltweit mit ihrer Null- bzw. Negativzinspolitik eingeführt haben.
Die künstliche Zinssenkung verlangsamt den Produktivitätsanstieg und das „Wirtschaftswachstum“, die zu fördern die „Progressiven“ vorgeben.
Hazlitts Haupteinwand ist hier, wie auch sonst: Man sieht nur die unmittelbaren Konsequenzen der Maßnahme auf eine bestimmte Gruppe, klammert aber die langfristigen Folgen für die Volkswirtschaft als Ganzes aus. Man ist hier nur auf ein Ansteigen der Nachfrage nach Kapital fixiert, übersieht aber die Auswirkungen auf das Kapitalangebot. Die Wirkung künstlich niedriger Zinsen ist „letztlich die gleiche, wie wenn irgendein anderer Preis unter seinem Marktpreis gehalten wird. Die Nachfrage steigt, und das Angebot geht zurück. Die Nachfrage nach Kapital nimmt zu, und das Angebot an Kapital nimmt ab.“ Denn der „Zins ist lediglich ein eigener Name für den Preis geliehenen Kapitals.“ Wenn sich der Zins am freien Markt bildet, gleichen sich Kapitalangebot und -nachfrage aus, ebenso, wie sich „Warenangebot und ‑nachfrage über den Preis ausgleichen“. Künstlich niedrige Zinsen hingegen ermuntern zu erhöhter Kreditaufnahme und stark spekulativen Geschäften, gleichzeitig hemmen sie auf der Angebotsseite „die normale Genügsamkeit, das Sparen und Investieren“. Die künstliche Zinssenkung verringert somit die Ansammlung von Kapital. „Sie verlangsamt den Produktivitätsanstieg und das ‚Wirtschaftswachstum‘, die zu fördern die ‚Progressiven‘ vorgeben.“
Der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi verteidigte die Nullzinspolitik im Jahr 2016 vor deutschen Bundestagsabgeordneten damit, dass sie zu einer Erholung und zur Entstehung von Arbeitsplätzen beitrüge. Hazlitt hätte er damit nicht überzeugt.
Die Geldmengenausweitung (Inflation) begünstigt nur ein paar wenige, hat aber verheerende Folgen für die Gesellschaft
Die permanente Geldausweitung (Inflation) als notwendige Folge zu niedriger Zinsen ist Hazlitt zufolge erzwungen, um die Illusion von in größerer Menge vorhandenem Kapital aufrechtzuerhalten: „Der Zinssatz lässt sich künstlich nur durch ständig neue Geldspritzen und Bankkredite niedrig halten, die an die Stelle der realen Ersparnisse treten. Das kann die Illusion hervorrufen, es sei mehr Kapital vorhanden, so wie das Hinzufügen von Wasser den Eindruck erwecken kann, es sei mehr Milch da.“
Zurzeit diskutieren Ökonomen kontrovers, ob oder ab wann wir aufgrund der geldpolitischen Maßnahmen im Zuge der Corona-Krise in eine verstärkte Preisinflation schlittern werden. Tatsächlich lässt sich dies nicht im Voraus bestimmen, wie Hazlitt im Kapitel über Inflation unterstreicht: Es ist „nicht möglich, den Geldwert zu überwachen, wenn Inflation herrscht. Denn die Ursache ist … nie rein mechanisch.“ Der Geldwert hängt von der subjektiven Bewertung der Person, die Geld besitzt, ab. Neben der Geldmenge ist hierfür auch die Qualität des Geldes ausschlaggebend.
Hazlitt warnte aber vor zahlreichen verheerenden Folgen einer permanenten Geldmengenausweitung, die bis heute gerne ausgeklammert werden: Einzelne Gruppen profitieren zulasten anderer, das Produktionsgefüge wird verzerrt, man kann so eine Inflation nicht mehr sanft einbremsen; sie täuscht mehr Wohlstand vor, als vorhanden ist, und sie bewahrt auch nicht – wie heute gleichfalls oft behauptet – vor wirtschaftlichem Stillstand, ebenso wenig schafft sie „Vollbeschäftigung“. Dieser Irrglaube basiert auf der alten Verwechslung von Geld und realem Reichtum, er vergisst, dass echte Kaufkraft in anderen Gütern – also in dem, „was wir herstellen und verbrauchen“ – besteht. Deshalb glaubt man, es werde durch neues Geld auch neue „Kaufkraft“ geschaffen, deren Auswirkungen „immer weitere Kreise ziehen und sich selbst multiplizieren“. Im Endeffekt destabilisiert die Politik des billigen Geldes viel mehr, als jene „Maßnahmen, gegen die sie gedacht ist oder die sie verhindern soll.“
Staatsschulden kommen uns auf jeden Fall teuer
Dass Schuldenmachen auf Kosten des Sparens kein gutes Rezept für Wachstum und Wohlstand ist, unterstreicht Hazlitt ebenfalls mehrfach. Den Einwand der gegenwärtig gehypten Modern Monetary Theory, die Staatsschulden für unproblematisch erklärt, kannte er bereits. Hazlitt erwähnt jene Wirtschaftsbücher, denen zufolge Arbeitslosigkeit die Folge „ungenügender privater Kaufkraft“ sei, weshalb die Regierung den „Ausfall“ durch neue Ausgaben wettmachen müsse: „Sie erzählen uns, dass der Staat unentwegt Geld ausgeben kann, ohne auch nur einen Pfennig Steuern erheben zu müssen, dass er immer neue Schulden anhäufen kann, ohne sie je zurückzahlen zu müssen, weil ‚wir uns das ja selbst schulden‘.“
Alles, was wir außer den unentgeltlichen Gaben der Natur bekommen, müssen wir in irgendeiner Form bezahlen.
Das sind verhängnisvolle Verharmlosungen: „Alles, was wir außer den unentgeltlichen Gaben der Natur bekommen, müssen wir in irgendeiner Form bezahlen.“ Das gilt auch für den Staat. Deshalb werden sämtliche Staatsausgaben aus dem Steueraufkommen bezahlt, wobei die Inflation „lediglich eine Sonderform der Besteuerung, und zwar eine besonders heimtückische“ ist. Für Hazlitt stünde heute fest: Die gegenwärtige Verschuldung kommt uns bereits teuer und wird es in noch stärkerem Ausmaß tun.
Wenn Staaten ihre Exporte selbst finanzieren, schaden sie ihrer Volkswirtschaft
Deutschland rühmt sich gerne seines Exportüberschusses, wenn da nicht der störende Hinweis auf die Target-2-Salden wäre. Der Einwand lautet: Das Land finanziert diesen Überschuss mit Krediten an das Ausland selbst, ohne Garantie, diese je wieder zurückgezahlt zu bekommen. Doch nicht wenige Entscheidungsträger halten sogar solche Zuschüsse an das Ausland zur Finanzierung des eigenen Exports für sinnvoll. Das zeigte etwa zuletzt die Debatte um weitreichende Transfers und Kredite an Italien über den Wiederaufbaufonds der EU. Es gehe ja um den europäischen Binnenmarkt, so lautete das Argument, und Länder wie Deutschland und Österreich hätten aufgrund ihrer Exporte an Italien ein Eigeninteresse daran, diese Exporte mit Hilfe von Zuschüssen weiterhin zu finanzieren. Dieses Argument ist uralt. Hazlitt fasste es folgendermaßen zusammen: „Selbst wenn die Hälfte der Darlehen (oder alle) sich als Fehlschlag erweist und nicht zurückgezahlt wird, hat das Geberland doch gut daran getan, sie zu gewähren, weil sie seine Ausfuhren kräftig steigen lassen werden.“
In Wahrheit sind nicht zurückgezahlte Staatskredite ebenso schädlich, wie nicht zurückgezahlte Privatkredite. Der einzige Unterschied: Personen, die ausschließlich oder überwiegend von Exportgeschäften leben, können tatsächlich zumindest für gewisse Zeit Gewinne machen. Doch die Volkswirtschaft als Ganzes verliert. Nur wird der Verlust auf die restliche Bevölkerung aufgeteilt und ist dadurch schwerer zu verfolgen als bei Privatkrediten. Die Menschen müssen ihn indirekt tragen, letztlich über höhere Steuern. Mit nicht rückgezahlten Staatskrediten verschenkt ein Land seine Waren. „Und kein Land wird dadurch reicher, dass es Waren verschenkt. Es kann nur ärmer werden.“
Staatskredite haben andere Wirkungen als Privatkredite
Überhaupt warnt das Buch vor der Idee, Staatskredite als Weichensteller einzusetzen, denn Staatskredite werden nach anderen Kriterien vergeben als Privatkredite. Würde der Staatskredit nach denselben Kriterien vergeben, wäre er überflüssig. „Warum sollte er [der Staat] genau das tun, was schon private Betriebe machen?“ Dass der Staat nach anderen Maßstäben vorgeht als private Kreditgeber ergibt sich von selbst: „Der einzige Grund, warum er sich in das Kreditgeschäft einschaltet, liegt darin, den Personen Darlehen zu verschaffen, die von privaten Geldgebern keinen Kredit bekommen würden.“ Diese sind dabei auch die einzigen Profiteure, nicht aber die Allgemeinheit und schon gar nicht, um ein historisches Beispiel zu nennen, erfolgreiche Landwirte, die bereits Kredite bekommen. Schon zu Hazlitts Zeiten wurde die Vergabe der Staatskredite an Landwirte im Kongress damit begründet, dass „die Kredite, die von den privaten Hypothekenbanken, Versicherungsgesellschaften oder den Provinzbanken eingeräumt werden, nie ‚ausreichend’ sind“.
Die Liste an Beispielen lässt sich problemlos fortsetzen. So ist auch dem leidigen Thema der Mietpreisbremse ein Kapitel gewidmet. Es zeigt anschaulich, weshalb diese trotz ihrer schreienden Ungerechtigkeit nur schwer wegzubekommen ist.
Mehr als siebzig Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen ist Hazlitts Klassiker aktueller denn je. Die Lektüre zahlt sich immer wieder aus. Sie schult den Blick und bewahrt davor, den Verführungen falscher wirtschafspolitischer Versprechungen zu erliegen.