Der „Wealth Effect“: Krisenpolitik als Besitzstandsgarantie für die Wohlhabenden

Warum haben grundsätzlich liberal-bürgerliche Parteien im Westen seit 15 Jahren jedes Maß verloren und Riesensummen direkt und indirekt über die Haushalte ausgeschüttet? Warum spielten die maßlosen Verschuldungen darnach keine Rolle? Diese Regierungen bedienten damit den „wealth effect. Denn seit 50 Jahren sind die Mittelschichten gesättigt, oft reich geworden, und sie verlangen, die Politik solle das alles umfassend schützen.

Die Politologie des „Public Choice“ geht bei allen Akteuren von ihrem Eigeninteresse aus. Mit den Ansprüchen, ihre Vermögenswerte jederzeit und voll vom Staat garantiert zu sehen, tritt die Mittelschicht nun als extrem starke und polternde Wählergruppe mit Eigeninteresse auf.

Das ist die These der Ökonomen Jeffrey Chwieroth und Andrew Walker in ihrem Buch „The Wealth Effect. How the Great Expectations of the Middle Class have changed the Politics of Banking Crises”. Sie zeigen wie die Angst des Mittelstands um seine Konten, Aktien, Hypothekarzinsen auf den Häusern die Politiker veranlasste, nach 2008 die Großbanken mit noch nie gesehenen Rettungspaketen durchzuhalten. Die seit Jahrzehnten aufgelaufene Finanzialisierung im Portefeuille des Mittelstands, sein Gebrauch von Hebeln in der Hausfinanzierung, mit Krediten, Kreditkartenschulden war von den Regierungen offen oder implizit garantiert worden, beispielsweise mit dem Gerede „too big to fail“ – die Politiker konnten nicht mehr zurück, es hieß zahlen, Banken übernehmen, Guthaben garantieren.

Regierungsmilliarden für die Wohlhabenden

Das aber war erst das Vorspiel. Nach 2020 stiegen die Energiepreise, die Inflationsraten, drohten Verluste aus Covid, und jetzt garantierten die Politiker Deutschlands, Englands, Frankreichs, Italiens, der USA die Vermögen und Einkommen des Mittelstands. Es ging nicht mehr um „die Armen“, sondern die deutschen Politiker warfen um die 8 Prozent des Inlandprodukts auf, um den Haushalten die „Inflationsprämie“, die Überbrückungshilfen I-IV, Wohngeld und Energiezulagen auszurichten. Die englische Tory-Regierung verschleuderte 23 Prozent des Inlandprodukts, die USA unter Trump und Biden je ca. 8 Prozent, also 16 Prozent insgesamt (tief geschätzt). Die vorsichtigere Schweizer Regierung stiftete an Covid-Hilfen gut 2 Prozent des BIP, sonst nichts, aber als die Crédit-Suisse schwankte, waren ihr 100 Milliarden (10 Prozent des BIP) als Garantiepaket für die mittleren und oberen Schichten nicht zu schade (auch wenn sie schließlich unbenutzt blieben). Die Kleinanleger waren durch die Einlagen-Versicherung eh geschützt.

Das alles folgte buchstabengetreu dem Skript der zwei Autoren, weit über die Bankenkrise hinaus. Die Regierungsmilliarden retteten ab 2020  dem Mittelstand die Konten, die Aktien, die guten Stellen, die Hauswerte, die tiefen Zinsen auf Hypotheken, die Pensionskapitalien, Kreditkarten, Kredite des Gewerbes. Die Sponsoren waren die Regierungen der Tories, Macrons, Conte/Melonis, Merkels, Trumps und Bidens, keine Sozialisten.

Vermögensgarantie als Überschuldungsfalle

Die Folge kennt man (wenn man ehrlich ist) – der ganze Westen ist überschuldet, die  Zinsen sind unbezahlbar und werden überall als neue Defizite auf die alten Schulden aufgeschlagen. Ein auswegloses Pyramidensystem stemmt vorderhand noch die Staatsfinanzen. Wenn die Notenbanken nicht ausdrücklich seit März 2020 erklärt hätten, alle diese neuen Staatsschulden aufzukauen und mit neuem Geld zu „finanzieren“, wäre der Offenbarungseid längst eingetreten. So aber stehen nicht nur die Politiker unter vollem Zwang, alle weiteren Lagen des Mittelstandes auszufinanzieren, sondern auch die Notenbanken werden in aller Zukunft mit der Geldpresse wieder bereit stehen müssen, diese  „Verpflichtungen“ zu decken. Denn abbauen können die Politiker nun diese Vermögensgarantien des Mittelstands nicht mehr.

Die einzelnen Fälle sprechen für sich. Schon Präsident Macron machte die Erfahrung, dass die Vermögenswerte des Mittelstands unantastbar geworden sind. Als er im Herbst 2018 die Dieselwagen stärker besteuerte und die Dieselnormen verschärfte, entwertete er mit Federstrichen das einzelne, verwertbare Gut vieler unterer und mittlerer Haushalte – die Dieselwagen wurden unverkäuflich. Der Aufruhr der „gilets jaunes“ dauerte Monate.

Seither hat Macron nur wenig zuwege gebracht, das Rentenalter erhöhte er mit dem „Durchregierungsartikel“ 49,3 ohne Parlament – man könnte ihn auch „Diktaturartikel“ nennen. Dann verlor er die Wahlen und versucht jetzt, bis 2029 (!) das Budget auf Maastricht-Kurs zu bringen. Die Tories in Britannien bauten gleich vor, mit den erwähnten Riesensubventionen an die Haushalte. So musste in jenen Wintern niemand mehr als 4 000 Pfund Heizkosten gewärtigen. Oder die Renten wurden im „triple lock“ auf eine maximale, jährliche Erhöhung angesetzt (entweder plus 2,5 Prozent, oder um die Lohnzunahme, oder um die Inflationsrate, was immer höher ausfällt).

In den USA ging’s über massive Steuerrabatte, Zuschüsse direkt an die Haushalte, den Erlass der Studienschulden. Italien zahlte mit dem „Superbonus“ gegen 200 Milliarden Euro an Hausreparaturen, wobei 10 Prozent der Kosten zusätzlich bar in die Hand verabreicht wurden. Man sieht – diese Stützungen wurden weitestgehend an den Mittelstand ausgeschüttet, nicht an die Ärmsten der Armen.

Der Liberalismus hat in der neuen Mittelschicht keine Freunde mehr.

Die Politologie des „Public Choice“ geht bei allen Akteuren von ihrem Eigeninteresse aus. Mit den Ansprüchen, ihre Vermögenswerte jederzeit und voll vom Staat garantiert zu sehen, tritt die Mittelschicht nun als extrem starke und polternde Wählergruppe mit Eigeninteresse auf – doch wegen ihrer Zahlenstärke und den beachtlichen Dimensionen dieser Vermögenswerte auch als höchst kostspielige  Klientel. Es wird zu Sozialismus in der Mittelschicht, muss man paraphrasieren.

Das ist nun bereits passiert – und die beiden Autoren erwarten, dass in Zukunft dies sehr ruinös werden wird, und dass die Geldschöpfung laufend eingesetzt werden muss. Dennoch wird das ganze System unsicherer, krisenanfälliger – irgendwann fehlt der letzte noch unverschuldete Garant. „Great expectations thus appear destined to produce great disappointments“. Das politische Leben werde noch polarisierter, die Ungleichheiten nähmen zu.

Vor allem aber konnte man, in der realen Politik des ganzen Westens bereits sehen, wie sich die Programmatik und Politik der Liberalen und der linken wie rechten Populisten verwischen, sich decken. Der Liberalismus hat in der neuen Mittelschicht keine Freunde mehr. Die Liberalen haben sich ihr gefügt, sich verleugnet. Der Westen tritt in die letzte Schleife ein, zum Ruin, dann kommt Milei mit der Kettensäge. Oder immer neue Varianten des Art. 49,3 als Demokratur.

Jeffrey M. Chwieroth, Andrew Walker:
The Wealth Effect. How the Great Expectations of the Middle Class have changed the Politics of Banking Crises.
Cambridge University Press, Cambridge 2019

ISBN-10 ‏ : ‎ 131660778X
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-1316607787

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