Verspielt Großbritannien seine liberalen Trumpfkarten?

Großbritanniens Wirtschaft boomt nicht so richtig. Aber nicht, weil der Brexit ihr geschadet hat, sondern weil die Politiker seither viele liberale Trumpfkarten verspielt haben.

Das liberale britische Modell bürgerlicher Freiheit, der Herrschaft des Rechts und des Willens zum Freihandel hat bisher gehalten. Es muss sich aber nicht nur vor den EU-Regeln, sondern auch vor dem kontinentalen Ungeist dahinter hüten.

„Wir haben unsere Souveränität zurückgeholt. Wir haben das EU-Regelkorsett verlassen“, so freuten sich die Tory-Stimmen 2016 nach dem Austritt. Doch diese ehemals liberale Partei verfiel einem klebrigen Keynesianismus, sozialistisch anmutenden Staatswohltaten an die Wähler und stellte die versprochenen Reformen den internen Flügelkämpfen hintan.

Keynesianische Politik der Ankurbelung

Der Keynesianismus ist die zweite Natur der Briten, man weiß nicht recht, ob nur diese Nation einen Keynes hervorbringen konnte, oder ob dieser Ökonom wieder einmal zu erfolgreich war, sodass die Politiker seines Landes „die Sklaven längst verstorbener Ökonomen“ wurden, wie er selbst voraussagte.

Jedenfalls wird das Staatsbudget kaum von jemandem als bloße Buchhaltung von Ein und Aus der Staatskasse gesehen, sondern „funktionalisiert“. Gemäß Politikern, Wissenschaftlern und Medien soll es in fast täglichen Ausweitungen die Wirtschaft stimulieren, die Beschäftigung anheben, den Außenhandel antreiben. Besonders seit dem Brexit sollten das Budget und die Bank of England jeder Abschwächung vorbeugen, es herrschte eine Zeitlang die Hysterie vor sinkenden Preisen (unerklärlich, das wäre doch schön), vor wegfallenden Exporten. Die Bank of England pumpte den Geldkreislauf auf, sie finanzierte noch großzügiger als anderswo den Staatshaushalt durch Ankauf seiner Schulden. Die Zinsen für Hypotheken sanken praktisch auf null, ein Bauboom folgte und die Hauspreise explodierten.

Den Höhepunkt keynesianischer Ankurbelung bot die kurzlebige Regierung der Liz Truss letzten Herbst – enorme Konsumsubventionen sollten einerseits die Kaufkraft der Haushalte aufpeppen, und Steuersenkungen andererseits der Wirtschaft und den oberen Klassen viel Ausgabenspielraum schenken. Diesmal rebellierten die Finanzmärkte, die sonst nicht genug solcher funktionalisierter Budgets fordern können – das Pfund, die Wertpapiere fielen ins Leere, die Regierung stürzte. Der Widersinn eines überinterpretierten Keynes war sogar in London offensichtlich.

Subventionierter Konsum und verpasster Bürokratie-Abbau

Die Konsumsubventionen und hohe Staatszuschüsse bildeten seit dem Brexit den zweiten Irrweg der einst konservativen Tories. Boris Johnson stopfte Milliarden in den National Health Service. Er deckelte die Pflegekosten auf Lebenszeit für alle. Er begann mit den Haushaltszuschüssen wegen Inflation und Energiepreisen. Diese werden heute in einer Kombination von Höchstpreisgarantie an Energiekosten mit direkten allgemeinen Zuschüssen an die Haushalte für alle Energiearten zusammen ausgerichtet.  Auf den Märkten für Öl, Gas, Strom, deren Preise täglich schwanken, übernimmt der Staat nun praktisch alle Ausschläge nach oben, automatisch, was immer geschieht. So nebenbei wird jenes Land damit jedes Anreizes zu besserer Isolation enthoben, ein Land, das dünne Wände, undichte Einfachglas-Fenster und alte Boiler kennt.

Subventionen regnen auch auf die Wirtschaft nieder, denn Britannien macht gegenwärtig im  „Wettlauf der Staatskassen“ vollumfänglich mit, den die USA, die EU, China um Alternativenergien, Chips-Fabrikationen, Transporte und Lieferketten andrehen.

Schließlich, dritter Irrweg, fiel das Wesentliche des Austritts aus der EU weitgehend den rasch wechselnden Regierungen und Intrigen zum Opfer – der Abbau von Bürokratie, unsinniger Regeln, der Ausbau neuer Handelsabkommen. Erst in neuester Zeit raffte man sich auf, jetzt steht das Nordirland-Abkommen („Windsor Agreement“), und bis Ende 2023 soll die „Revocation Bill“ mindestens 2000 Direktiven der EU aus Großbritanniens Gesetzen wegkippen.

Positives nach dem Brexit: Vernünftige Einwanderungspolitik

Der außenstehende Beobachter muss allerdings auch versöhnlichere Töne anschlagen. Großbritannien und die großen EU-Länder sind seit dem Brexit ungefähr gleich stark (d.h. schwach) gewachsen. Jährliche Unterschiede sind eher Rundungsdifferenzen, wie etwa die neuste Siegesmeldung aus Großbritannien, dass im Januar das Wachstum doch wieder um ein Zehntelsprozent angezogen habe – weil der Schulanfang ein paar Detailhandelskäufe anfachte…

Hingegen hat die Insel die Einwanderung radikal umgestellt. Die beargwöhnten Immigranten aus dem Kontinent, besonders aus dessen Osten (the polish plumber) machten einem eigentlichen Strom gut ausgebildeter Techniker und Finanzfachleute Platz, Hunderttausenden, die aus Asien, vor allem aus Indien und Hongkong einwandern. Über zwei Millionen Hongkonger haben das Angebot, einzuwandern und das Bürgerrecht beantragen zu können, angenommen. Das kontrastiert mit dem kontinentalen „Willkomm“ ungebildeter Migranten aus dem Balkan und Nahen Osten. Britannien setzt damit die Wachstumstreiber der nächsten Jahrzehnte an.

Ganz problemlos wird dies wohl nicht ablaufen – über zwei Millionen Briten über Fünfzig arbeiten seit zwei Jahren nicht mehr. Wie in den USA laufen Scharen aus vielfachen Gründen aus dem Arbeitsmarkt davon und werden mit der Zeit hilfsbedürftig. Vor allem aber tragen sie auch nichts mehr bei. Es hilft auch nicht, dass soeben alle Schüler Britanniens ab 16 Jahren von Mathematik dispensiert sind, wenn sie wollen. Der Arbeitsmarkt zerfällt mangels echter Berufsbildung noch mehr in Würstchenbuden und High-Tech, erstere mit Briten, letztere mit Asiaten.

Diskreditierte Allzuständigkeit des Staates

Erst die längere Frist wird ein Urteil über den Brexit erlauben, und auch dann vielleicht nicht schlüssig. Denn die erwähnten Politikfehler des Keynesianismus und der „Sozial“programme sind solche des ganzen Westens, zeugen von seinem „statism“, von der allseits gesuchten Allmacht und Zuständigkeit des Staates. Spezifisch für Großbritannien, und jenseits des Brexit, sind hingegen die Finanzialisierung, also die Überhöhung aller Transaktionen durch finanzielle und tertiäre Abläufe. Seit der Gründung der Bank of England 1694 sind Staatsfinanzen und Geldversorgung eng liiert. Pensionskassen mit ihren Kapitalien, also Altersrenten, dominieren die Börsen, im Häusermarkt signalisiert jedes Objekt, wenn es zu verkaufen ist, und wer die Agentur ist. Viel mehr Agenturen, Vermittler sind überall zwischengeschaltet als auf dem Kontinent. Daher sind Geldpolitik und Staatsbudget „nervöser“, für vieles verantwortlich.

Die zweite Besonderheit – Großbritannien ist immer noch ein Zentralstaat für das Bildungs-, Gesundheits-, Sozialwesen, und führt eine schlagkräftige Armee, Marine, Luftflotte. Ferner, das Parlament, das Kabinett, die Macht fallen als Gesamtpaket dem siegreichen Parteichef zu. Wer eine Intrige gewinnt, gewinnt alles, wie Boris Johnson, Liz Truss, Rishi Sunak in rascher Kadenz. Das verdrängt die Grundsätze. Doch wie jetzt unter Rishi Sunak fühlbar, zwingt der in 21 Monaten fällige Gang vor die Wähler zu den Grundsätzen zurück.

Diese Besonderheiten erlauben zumindest in der kurzen Frist keine raschen Schlüsse über den Brexit. Das Urteil ergeht daher über ganz Britannien als gesellschaftliches, politisches System. Dieses hat immerhin 1680-1690 die bürgerliche Freiheit (Habeas Corpus), die konstitutionelle Monarchie und 1860 den weltweiten Freihandel eingeführt. Das liberale britische Modell bürgerlicher Freiheit, der Herrschaft des Rechts und des Willens zum Freihandel hat bisher gehalten. Es muss sich aber nicht nur vor den EU-Regeln, sondern auch vor dem kontinentalen Ungeist dahinter hüten.

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