Sozialpolitische Dogmen verbauen die Zukunft

Der heutige Sozialstaat entmündigt den Bürger, untergräbt Solidarität und lähmt die Wachstumsdynamik auf Kosten zukünftiger Generationen, schreibt Martin Rhonheimer, Präsident des Austrian Institute, in seiner Antwort auf eine Kritik von Jörg Althammer, Professor für Wirtschaftsethik und Sozialpolitik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, die am 17. März 2017 unter dem Titel „Wohlstand muss gerecht verteilt werden“ in der „Tagespost“ erschienen ist (s. auch PDF am Ende dieses Beitrags). Dies ist die dritte und wohl vorläufig letzte Runde der Debatte, die das Interview „Barmherzigkeit schafft keinen Wohlstand“ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12. Februar dieses Jahres unter katholischen Sozialethikern auslöste. Die ersten beiden Etappen der Debatte in der „Tagespost“ finden sich auf unserer Website dokumentiert (Soziale Marktwirtschaft – ein deutscher Mythos und Nicht der Sozialstaat, sondern Wirtschaftswachstum schafft Wohlstand).

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In Reaktion auf meinen Artikel „Wie entsteht Wohlstand?“ beschreibt Jörg Althammer (DT v. 18. März) treffend die wohlstandsschaffenden Wirkungen von Marktwirtschaft, Unternehmertum und freiem Handel, die nicht nur die heute entwickelte Welt, sondern auch einen Großteil der noch bis vor kurzem in extremer Armut lebenden Menschen auf den Weg eines beständig zunehmenden Lebensstandards geführt haben. Er unterstützt damit mein Anliegen, gegenüber dem Mainstream heutiger kirchlicher Sozialethik auf die wahren Quellen des Wohlstands hinzuweisen. Freie Märkte sind nicht der Ursprung allen Übels, wie das immer wieder behauptet wird. Jörg Althammer vertritt verdienstvollerweise eine andere Position.

Dann aber wendet der Autor diese unzweifelhaften Tatsachen gegen mich, und zwar mit dem Argument, dieser Erfolg sei nur möglich geworden durch ein starkes Engagement des Staates hinsichtlich Bildung, Gesundheit und sozialer Sicherheit. Ich übersähe auch die entscheidende Wichtigkeit des Staates für den Eigentumsschutz und die Vertragssicherheit. Damit gehöre ich, gemäß Althammer, zu jenen „Libertären“, die Staat und Markt für unvereinbar halten.

Warum mir eine solche Sicht der Dinge unterstellt wird, ist schwer verständlich. Gewiss: Ich habe großes Vertrauen in die Kräfte der Zivilgesellschaft und des freien Marktes hinsichtlich der Bereitstellung von öffentlichen Gütern, Infrastruktur und sozialen Sicherheitsnetzen, leugne aber keineswegs, dass je nach Umständen hier der Staat – subsidiär – eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat. Was jedoch die klassischen Staatsaufgaben des Eigentumsschutzes und der Vertragssicherheit betrifft, ist meine Position eindeutig: „Der präzedenzlose Massenwohlstand des Westens“, schrieb ich in der F.A.Z. vom 17. Mai 2016, „kam durch den Kapitalismus zustande, durch Marktwirtschaft, freies Unternehmertum, staatlich garantierte Rechtssicherheit und, vor allem, durch die Sicherung von Eigentumsrechten. Nur so können unternehmerisches Handeln und technologischer Fortschritt sich entfalten und Wohlstand schaffen. Doch genau hier liegt der blinde Fleck der katholischen Soziallehre.“

In der Tat ist das Thema Eigentumsrechte als Grundlage wirtschaftlicher Entwicklung in der katholischen Soziallehre unterbelichtet geblieben, ja oft ganz übersehen worden. Althammer ist auch in dieser Hinsicht eine löbliche Ausnahme. Allerdings: Nicht der von ihm genannte Patent- und Urheberrechtsschutz ist der wesentliche Punkt, sondern – neben Vertragssicherheit – Schutz von Eigentum an Grund und Boden, vor allem das Grundbuch – gerade heute hochaktuell in armen Ländern. Das ermöglicht den Armen, die bloße Subsistenzwirtschaft zu überwinden, selbst unternehmerisch tätig zu sein und das Erwirtschaftete an ihre Nachkommen weiterzugeben. Schutz von sogenanntem geistigem Eigentum in Form von Patenten und Urheberrechten sind hingegen zweischneidige Schwerter und heute zu Recht umstritten.

Was mir Althammer offenbar übel nimmt, ist, dass ich die Aufgabe des Staates vor allem darin sehe, die rechtlichen Voraussetzungen für eine freie Gesellschaft zu schaffen, aber den Sozialstaatsgedanken in Frage stelle – dies übrigens im Einklang mit Friedrich August von Hayek, dem scharfen Kritiker des Begriffs der „sozialen Gerechtigkeit“. Auch Althammer beruft sich auf Hayek, aber zu Unrecht, wie er auch etwas kühn behauptet, die ökonomischen Auffassungen der von Hayek und Schumpeter gepriesenen Spätscholastiker seien in die katholische Soziallehre eingeflossen – hinsichtlich der Frage des gerechten Lohnes war das mit Bestimmtheit nicht der Fall.

Dass, wie Althammer schreibt, funktionierende Märkte nicht ohne Staat entstehen und bestehen können, ist historisch nachweislich falsch. Richtig ist, dass sie sich nicht in einem rechtsfreien Raum entwickeln können. Es gibt aber erfolgreiche Rechtssysteme, die sich staatsfrei entwickelt haben – man denke etwa an die Deutsche Hanse. Doch war die Entstehung territorialer staatlicher Gewaltmonopole historisch unvermeidlich und zumeist ein zivilisatorischer Fortschritt. Auch das englische Common Law entwickelte sich zunächst spontan aus der Gesellschaft, mithilfe einer nichtstaatlichen Gerichtsbarkeit, wurde aber erst durch seine Durchsetzung mittels königlicher Gerichtshöfe zum Mittel der Befriedung der Gesellschaft und Grundlage der englischen Rechtskultur.

Das Gewaltmonopol des Staates ist zwar notwendig, aber hochgefährlich, und deshalb aus liberaler Sicht zu kontrollieren und in seinen Befugnissen zu beschränken. Aus dieser Einsicht entwickelten sich Parlamentarismus und liberaler Verfassungsstaat. Das war auch die Position des nicht zufällig ebenfalls aus der angelsächsischen Tradition stammenden klassischen Liberalismus mit seinen Prinzipien von „limited government“ und „rule of law“. Marktwirtschaften erhalten im modernen demokratischen Rechtsstaat eine rechtliche Rahmenordnung, klare gesetzliche Regeln und ein funktionierendes Strafrecht. Das macht sie erfolgreicher, da wirtschaftlicher Tausch auf Vertrauen beruht und Vertrauen durch rechtliche Institutionen erhalten und gefördert wird. Doch darf das territorial-nationalstaatliche Modell der Rechtseinbindung von Märkten nicht verabsolutiert werden, es muss offen bleiben – und wird de facto immer offener – für den internationalen Wettbewerb der Rechtssysteme und für Strukturen der Private Governance.

Der Staat, der Sicherheit und Freiheit seiner Bürger und die Gleichheit aller vor dem Gesetz zu garantieren hat, wird dann zum Problem, wenn er, als demokratischer Staat, im Namen von „sozialer Gerechtigkeit“ zum Adressaten von Ansprüchen seiner Bürger wird und dadurch eine Mehrheit auf Kosten der jeweils wohlhabenderen, aber auch produktiveren Minderheit ihre ständig steigenden Konsumansprüche zu befriedigen vermag. Da der Staat nur ausgeben kann, was er zuvor seinen Bürgern weggenommen hat, untergräbt er mit dieser zunehmenden Umlenkung produktiver Ressourcen in den Konsum nach und nach die innovative Wachstumsdynamik, auf der alle Wohlstandsmehrung beruht.

Althammer beschreibt „die große zivilisatorische Leistung des modernen Sozialstaates“ damit, dass hier der Leistungsempfänger „soziale Ansprüche“ wahrnimmt, „die ihm als Person nach den Maßstäben der sozialen Gerechtigkeit zustehen“. Doch: Welches sind diese Maßstäbe? Es gibt diese Maßstäbe nicht, sie werden von der Mehrheit immer wieder neu definiert. Deshalb ist dem Sozialstaatsprinzip eine systembedingte Dynamik eigen, Subsidiarität und Selbstverantwortung zu untergraben und gleichzeitig einen verderblichen Konsumismus zu fördern.

Die durch den Sozialstaat verursachte hohe Abgabenlast und die enorm hohe Staatsquote sind Wachstums- und Innovationshemmer; sie führen dazu, dass solche Systeme nur noch durch hohe Staatsverschuldung finanzierbar bleiben – die kommenden Generationen zahlen die Zeche. Den Bürgern wird die Wahrheit von den Politikern vorenthalten, denn Politiker haben an solchen Wahrheiten kein Interesse.

Noch im Jahre 2003 hatten die deutschen Bischöfe in einem Arbeitspapier mit dem Titel „Das Soziale neu denken“ geschrieben: „Keine der großen Säulen des Sozialstaats ist ohne tiefgreifende strukturelle Korrekturen zukunftsfähig. Der sozialpolitische Reformstau hat in eine Gesellschaft geführt, in der gesellschaftliche Ressourcen der Solidarität und Eigenverantwortung zusehends geschwächt werden. Beigetragen hat dazu auch, dass man sich auf die Verteilung von Haushaltsmitteln konzentriert hat und sich gleichzeitig ein Anspruchsdenken entwickelt hat, das vom Staat unter Missachtung des Prinzips der Subsidiarität zu viel erwartet.“ Nach den ersten Anfängen „weiteten immer neue Forderungen und Wahlversprechen die Leistungen aus. Während die ursprüngliche Orientierung an den benachteiligten Gruppen und an der Abwehr von Not und Armut unvermindert in Anspruch genommen wurde, um den Ausbau von Leistungen zu legitimieren, wurde für viele das Soziale zu einem Anspruch, um eine immer komfortablere Normalität herzustellen.“

Waren die deutschen Bischöfe damals libertäre Feinde des Sozialstaates? Nein, aber sie legten – wie übrigens Althammer selbst in seinem „Lehrbuch der Sozialpolitik“ – den Finger auf den wunden Punkt: Die Gefahr, dass der Sozialstaat sich selbst zerstört, weil Wohlstand auf Wachstum und nicht auf sozialstaatlichen Wohltaten beruht und weil das konsequent durchgeführte Sozialstaatsprinzip falsche Anreize setzt, subsidiäre Lösungen verhindert und damit Freiheit und Solidarität untergräbt.

In der Tat hat sich die Soziale Marktwirtschaft längst von ihrer ursprünglichen Idee entfernt. Benedikt XVI. schrieb zwei Jahre nach dem oben zitierten Arbeitspapier der Deutschen Bischöfe in seiner Enzyklika „Deus caritas est“: „Nicht den alles regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat, der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen anerkennt und unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufsteigen und Spontaneität mit Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden.“

Zu diesen Initiativen gehören nicht nur Werke der Barmherzigkeit, sondern auch unternehmerische, privatwirtschaftliche Initiativen, wie sie als Alternative zum Sozialstaat heute von vielen seiner Kritiker vorgeschlagen werden. Natürlich braucht es gesetzliche Rahmenordnungen, das heißt für alle geltende Regeln, die freie, unternehmerische Initiative ermöglichen und fördern, nicht aber gesetzlich verordnete Maßnahmen, die den Staat und seine Bürokratien ermächtigen, mit Steuergeldern sich an die Stelle der Gesellschaft zu setzen und die Bürger zu entmündigen. Im Jahr 2003 stellten die deutschen Bischöfen noch die Frage, ob nicht „der Sozialstaat, so wie er heute funktioniert, mittlerweile selbst dazu beiträgt, die Bereitschaft zur Solidarität zu untergraben“. In der Tat, wo es keine Freiheit der Wahl mehr gibt, da lebt auch keine Solidarität, denn, um Erhard zu zitieren, hier wird der Bürger zum „sozialen Untertan“. Ist das wirklich ein zivilisatorischer Fortschritt, wie Althammer suggeriert?

Erfolgreiche und zukunftsträchtige zivilgesellschaftliche Initiativen zur sozialen Absicherung gab es etwa in England; sie wurden durch den Sozialstaat verdrängt. Lorenz von Stein sprach schon im 19. Jahrhundert mit Verachtung von diesen „Friendly Societies“ und pries als Ideologe des preußischen Beamtenstaates die staatliche Sozialversicherung als den einzig gangbaren Weg. Das ist bis heute deutsche Orthodoxie geblieben. Sie gründet auf bestimmten theoretischen Annahmen, zu denen auch die neoklassische Theorie des Marktversagens gehört. Jörg Althammer erblickt in all dem auch das Credo der katholischen Soziallehre und der durch sie angeblich möglich gewordenen Sozialen Marktwirtschaft – obwohl ihr Begründer, Ludwig Erhard, die gegenteilige Auffassung vertrat: Er lehnte Versicherungszwang ab und plädierte für Selbstverantwortung.

Es sind gewiss schwierige Fragen. Wer sie stellt, darf jedoch nicht mit Berufung auf eine angeblich unbezweifelbare sozialpolitische Orthodoxie in die libertäre Ecke gestellt werden. Es gibt gerade aus der Sicht des von Althammer zitierten F. A. von Hayek beachtliche ökonomische, sozialphilosophische und historische Argumente, die gegen die „orthodoxe“ Position ins Feld geführt werden können.

Die Diskussion darüber, wie „Wohlstand für alle“ entsteht, ist nicht „anachronistisch“, sondern höchst bedeutsam – gerade für die Ärmsten dieser Welt. Man sollte nicht durch den Hinweis auf die ökologischen Kosten unseres Lebensstandards davon ablenken. Wie die bisherige Erfahrung zeigt, werden wir die ökologischen Probleme gerade durch Wachstum in den Griff bekommen, das heißt durch technologische Innovation, nicht aber damit, dass wir Wachstum einschränken, wie das als Forderung heute in aller Munde ist. Damit schaffen wir keinen Wohlstand, auch nicht für die Ärmsten. Die Erfolgsgeschichte von Kapitalismus und Marktwirtschaft wird sich nur fortsetzen, wenn wir ihr nicht mit fragwürdigen politischen Konzepten den Weg verbauen.

Der Autor ist Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom, und Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien.

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