Die gefährliche Verführungskraft des billigen Geldes

Die Amerikaner sprechen gerne von einem „no-brainer“, wenn sie finden, dass etwas so sonnenklar ist, dass man gar nicht darüber nachdenken muss. Das Geld liege auf der Straße, man müsse es nur aufheben, sagt zum Beispiel der deutsche Ökonom Jens Südekum. Er meint damit die weitherum negativen Zinsen auf Staatsanleihen. Der Eidgenossenschaft wird derzeit also Geld nachgeworfen, wenn sie Schulden macht. Dasselbe gilt für Deutschland.

Wenn nun der Zins auf der Staatsschuld niedriger ist als das Wachstum der Wirtschaft, sinkt der Anteil der Schulden an der Wirtschaftsleistung automatisch. Das liegt daran, dass die Wirtschaft schneller wächst, als die Schulden zunehmen. Der frühere amerikanische Finanzminister Larry Summers spricht deshalb von einem „free lunch“: Der Staat könne sich verschulden und das Geld investieren, ohne dass man die künftigen Generationen belaste.

Trügerisch wie ein Kettenbrief

Folgt man Summers Sicht, ist es ein „no-brainer“, dass der Staat jetzt Schulden macht und dieses Geld investiert – in Deutschland für die Infrastruktur, in der Schweiz vielleicht für Forschung oder den Klimaschutz. Und „mehr Bildung“ geht sowieso immer. Das tönt alles so phantastisch wie das Gewinnversprechen bei einem Kettenbrief, bei dem man einen Franken ins Couvert steckt und hofft, später viele Franken zugesandt zu bekommen. Doch bei Kettenbriefen bleibt das Wunder regelmäßig aus – und auch auf das Mirakel der verschwindenden Schulden sollte man nicht setzen. Es gibt nämlich triftige Gründe, sich einem fiskalischen Aktivismus zu versagen.

Erstens ist es eine riskante Wette, dass das Wachstum ewig höher liegt als der Zins. In Deutschland ist diese Konstellation zum Beispiel seit 1961 in etwa jedem dritten Jahr zu beobachten, in Italien ist sie die Ausnahme. Am ehesten trifft dies noch auf die Schweiz zu, wo in derselben Zeitspanne immerhin in zwei von drei Jahren das Wachstum höher war als der Zins. Doch die Schweiz war bisher gut beraten, nicht über die Stränge zu schlagen, und daran hat sich nichts geändert.

Denn – und das ist das zweite Argument – auch bei Negativzinsen bleibt es dabei: Jeder Franken kann nur einmal ausgegeben werden. Wenn der Staat Schulden aufnimmt, steht dieses Geld nicht Privaten zur Verfügung. Was heißt das konkret? Es müssen Ingenieure für die Planung angestellt werden, aber auch Baumaschinen und Handwerker sind dann für den Staat und nicht für private Auftraggeber im Einsatz. Das ist weniger ein Problem, wenn es viele Arbeitslose gibt, doch davon kann im Moment nicht die Rede sein. In der Schweiz und in Deutschland herrscht fast Vollbeschäftigung.

Skeptisch an staatlichen Investitionsoffensiven stimmen, drittens, exorbitante Kosten- und Zeitüberschreitungen bei staatlichen Projekten. In Deutschland denkt man sofort an den Berliner Hauptstadtflughafen oder das Bahnhofprojekt „Stuttgart 21“. Und wenn sich der Staat bei neuen Technologien wie früher der Solarindustrie oder heute Batteriezellen für Elektroautos engagiert, fragt man sich, über welches Geheimwissen er verfügt, das Private nicht haben. Um auf die Analogie vom Anfang zurückzukommen: Auch wenn man für 100 geliehene Euro nach einigen Jahren dank den Negativzinsen nur 95 zurückzahlen muss, so ist bei den genannten Negativbeispielen eine positive Rendite keineswegs sicher.

Verschuldung wird zum Dauerrezept

Viertens reden dieselben Ökonomen, die jetzt für eine staatliche Investitionsoffensive trommeln, jeweils auch einer konjunkturellen Ankurbelung das Wort, wenn es in der Wirtschaft nicht so gut läuft. Aber die jetzige Empfehlung, Schulden zu machen, weil der Zins niedriger ist als die Wachstumsrate, würde zu einer Wirtschaftspolitik führen, die die konjunkturellen Ausschläge verstärkte: Denn diese Konstellation ist laut dem Genfer Ökonomen Charles Wyplosz eher in wirtschaftlich guten als in schlechten Zeiten zu erwarten.

Wer beides fordert, sagt somit: Der Staat sollte eigentlich in jeder Lage mehr tun – dieser Tage, weil er sich gratis verschulden kann, und in einer Schwächephase, um „fehlende Nachfrage“ zu ersetzen. Das Resultat wäre ein stetig wachsender Staatssektor. Kann man sich dies für Westeuropa mit seinen stark ausgebauten Wohlfahrtsstaaten wünschen?

In der Schweiz wurde vor 16 Jahren die Schuldenbremse eingeführt, Deutschland hat diese vor zehn Jahren nachgeahmt. Sie soll den Appetit der Politiker für immer neue Ausgaben zügeln, weil der Haushalt über einen Konjunkturzyklus gesehen (also keineswegs jedes Jahr) ausgeglichen sein muss. In der Vergangenheit hatte das Parlament jeweils da eine neue Sozialausgabe eingeführt und dort eine zusätzliche Subvention oder Förderung gesprochen, man konnte ja einfach die Schulden erhöhen. Solche Manöver sollen durch die Schuldenbremse etwas erschwert werden.

Die Verschuldung wurde in Deutschland ab 2010 von 81 Prozent der Wirtschaftsleistung auf mittlerweile wieder 60 Prozent gedrückt, die der Maastricht-Limite entsprechen. Und in der Schweiz ging die Schuldenquote laut Währungsfonds von 59 auf 40 Prozent zurück, nachdem die Schuldenbremse eingeführt worden war. Diese Zahlen zeigen eindrücklich, dass das Instrument wirkt. Beide Länder sind jedenfalls in einer guten Ausgangslage, sollte es tatsächlich zu einer schweren Rezession kommen. Nach zehn Jahren Aufschwung kann das niemand ausschließen.

Es wäre deshalb leichtsinnig, jetzt schon das Pulver zu verschießen und die Schuldenbremse einzumotten. Man sollte sich auch nicht von der Ferndiagnose des Ökonomie-Nobelpreisträgers Paul Krugman beeindrucken lassen, der Deutschland eine „ruinöse Obsession“ über den öffentlichen Schuldenstand unterstellt. Wenn es wirklich schlimm kommt, steht die Schuldenbremse einem stärkeren staatlichen Engagement nicht entgegen – und beide Länder hätten dank „vollen Batterien“ auch die Möglichkeiten, kraftvoll zu reagieren.

Von Kaputtsparen kann keine Rede sein

Ein Chor von Ökonomen und Wirtschaftsverbänden fordert von Berlin trotzdem die Abschaffung der Schuldenbremse oder zumindest deren Lockerung – und auch in der Schweiz wird über eine Aufweichung immer wieder diskutiert. Dass größere finanzielle Spielräume von der Politik jetzt sinnvoller genutzt würden als vor zehn Jahren, darf man jedoch bezweifeln. Die Politiker sind in dieser Zeit nicht plötzlich zu besseren Menschen geworden.

Der gerne von links vorgetragene Vorwurf, der Staat würde kaputtgespart, lässt sich ebenfalls leicht entkräften. Dazu genügt ein Blick auf die Steuereinnahmen. Diese haben sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland seit 2007 um gut ein Viertel zugenommen – und hier ist die Teuerung schon abgezogen. Der Staat hat aus dieser Quelle real also ein Viertel mehr Geld zur Verfügung als vor einem Jahrzehnt, um seine Aufgaben zu erfüllen. Entsprechend befindet sich die Steuerquote, also der Anteil der Steuern an der Wirtschaftsleistung, in beiden Ländern auf einem Höchststand. Da sollte es kein Kunststück sein, etwas mehr Geld für Investitionen abzuzwacken.

Dies scheint in Deutschland nötiger als in der Schweiz. Während die öffentliche Hand in der Schweiz Jahr für Jahr rund 3 Prozent des Bruttoinlandproduktes investiert, sind es in Deutschland nur gut 2 Prozent. Es ist zwar übertrieben, in Deutschland von einer bröselnden Infrastruktur zu sprechen, wie das Krugman tut. Aber den Spitzenplatz haben unsere Nachbarn verloren. Doch Deutschland kann seine öffentlichen Investitionen nicht von heute auf morgen um die Hälfte steigern, um auf das Schweizer Niveau zu kommen. Dies braucht Zeit. Schon heute gibt es diverse Töpfe, deren Mittel nicht abgerufen werden, weil es an Planungskapazitäten fehlt.

Will man den Wohlstand vergrößern, führt kein Weg an „altmodischen“ Rezepten vorbei: Es braucht einen wettbewerbsfähigen Arbeitsmarkt, eine moderate Steuerbelastung und einen schlanken Staat, der privater Initiative genügend Spielraum lässt. Für liberale Ökonomen sind solche Grundsätze ein „no-brainer“, so schwer es der Politik auch fällt, diese zu beherzigen. Stattdessen kreieren links stehende Volkswirtschafter aber die Illusion, dass sich Politiker bei Negativzinsen keine großen Gedanken mehr machen müssen, wofür sie das Geld am besten ausgeben. Das ist gefährlich, weil man so tut, als sei das Knappheitsproblem überwunden. Ein ökonomisches Wunderland ist auf Erden aber auch künftig nicht zu erwarten.

Dieser Artikel erschien ursprünglich unter dem Titel „Negativzinsen vernebeln die Sinne“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. September 2019. Wir veröffentlichen den Text mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags. Zur Online Originalversion gelangen Sie hier.

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