Der Liberalismus ist alternativlos, der liberale Staat hingegen ein Sanierungsfall

Liberalismus nach wie vor – nicht, weil er das Paradies auf Erden verspricht, nicht, weil er in irgendeinem Sinne perfekt oder ideal wäre, sondern allein deswegen, weil es keine bessere, menschengerechtere, menschenwürdigere Alternative zu ihm gibt, weder in der Theorie noch – erst recht – in der Praxis. Der liberale Entwurf ist kein fertiges Konstrukt, kein widerspruchsfreier Plan, nur schon, weil die Realität voller Widersprüche und Unberechenbarkeiten ist.

Der Liberalismus ist ein evolutiver Such- und Lernprozess mit sehr viel Ergebnisoffenheit. Das macht ihn in der weltanschaulichen Auseinandersetzung angreifbarer und schwächer, denn er gibt nicht die Priorisierung dessen vor, was wichtig ist, sondern vertraut darauf, dass die Institutionen des Marktes und der Demokratie das zum Ausdruck bringen.

Der Liberalismus ist ein evolutiver Such- und Lernprozess mit sehr viel Ergebnisoffenheit. Das macht ihn in der weltanschaulichen Auseinandersetzung angreifbarer und schwächer, denn er gibt nicht die Priorisierung dessen vor, was wichtig ist, sondern vertraut darauf, dass die Institutionen des Marktes und der Demokratie das zum Ausdruck bringen.

Konzentration auf die Spielregeln, nicht die Ergebnisse

Vielleicht unterscheidet das sogar den Liberalismus am grundsätzlichsten von allen kollektiven und elitären Gegenentwürfen: dass er sich auf die Spielregeln des Zusammenlebens konzentriert und nicht auf die Ergebnisse und dass das ihm eigene Vertrauen in den Markt und die spontane Ordnung eine gewisse Skepsis gegenüber diesen Prozessen nicht ausschließt, dass er also undogmatisch unterwegs ist. Er steuert nicht die Ergebnisse, sondern hat das Vertrauen, dass gute Spielregeln auch zu durchaus schwankenden und differenzierenden, aber alles in allem befriedigenden Ergebnissen führen.

Liberalismus ist zuversichtlich, dass die Ergebnisse einer weitgehend spontanen Ordnung vor allem in der Wirtschaft im Durchschnitt und über längere Zeit zumindest gleich gut, wenn nicht besser sind als die Ergebnisse, die ein mächtiger Einzelner, ein Rat weiser Menschen oder eine demokratisch legitimierte Regierung mit einer Fülle von Interventionen und Regulierungen, von Geboten und Verboten je erzielen kann.

Deshalb stellt sich der Liberalismus nicht gegen den demokratischen Staat, der Regeln aufstellen und durchsetzen muss, sondern er versucht nur, die Sphäre des Kollektiven klein zu halten und die Planung und Steuerung von oben zu minimieren. Hingegen setzt der Liberalismus auf die Innovations- und Gestaltungskraft des Unternehmertums in einer weitgehend freien Marktwirtschaft.

Fortschreitenden Verrechtlichung und Bürokratisierung.

Für diese Denkungsart braucht es heute in der Schweiz mehr Mut zur vorübergehenden Unpopularität, mehr Zivilcourage als in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Welt ist vernetzter und globaler, der Kollektivismus und der Autoritarismus haben an Terrain gewonnen. Das zeigt sich an der Staatsquote ebenso wie an der Zahl und der Detailliertheit der Regulierungen, an der fortschreitenden Verrechtlichung und Bürokratisierung allen Handelns ebenso wie an den Angriffen auf die freie Meinungsäußerung in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Wichtiger als das Gieren nach Modernität, die gelegentlich penetrante Beschwörung des Fortschritts und der

„Weltoffenheitswahn“ (Oliver Zimmer) wäre es für die Liberalen daher, die freiheitlichen und direktdemokratischen Grundlagen der Schweizer Erfolgsgeschichte zu erkennen und darüber zu wachen, dass sie nicht verloren gehen oder zerstört werden. Die generelle, unkritische Bejahung des Wandels und seine Beurteilung als Fortschritt per se ist falsch – und alles andere als liberal. Der Liberalismus setzt auf Bewährung, auf das, was sich im Wettbewerb bewährt, und somit auch auf das Neue nur dann, wenn es sich gegen das Ältere, Bestehende bewährt.

Zudem ist die Neuerungstoleranz wohl in allen Gesellschaften nicht allzu groß. Auch Menschen, die dem Wandel gegenüber offen sind, kann zu viel Wandel in zu kurzer Zeit überfordern. Und der Liberalismus zeichnet sich ja dadurch aus, dass er verschiedene Haltungen und Werte nebeneinander ermöglicht, also den Fortschrittsglauben, solange er die Ängstlichen mit seiner Dynamik nicht überfährt, neben der Fortschrittsskepsis, solange diese die Suche nach dem Besseren und Neuen nicht be- oder gar verhindert. Er schlägt sich auch in dieser Frage, wie in so vielen anderen Fragen, nicht einfach auf eine Seite.

Wohlfahrtsstaat und Verschuldung verlangen schmerzhafte Einsparungen

Sich den weltweiten gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Modetrends zu entziehen, verlangt sehr viel Rückgrat, sehr viel Überzeugung und sehr viel Willen, sich für die freiheitliche Ordnung einzusetzen. Im Nationalen braucht es wehrhafte Staaten, wehrhafte Demokratien, in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik braucht es einen wehrhaften Liberalismus.

Er muss sich ja nicht gerade mit der Kettensäge seinen Weg bahnen, wie das Javier Milei in Argentinien symbolisch vorexerziert, aber zwei Botschaften des libertären Revoluzzers dürften für den Liberalismus im 21. Jahrhundert in den westlichen Demokratien trotzdem zentral sein: Wohlfahrtsstaat und Verschuldung sind fast überall so weit fortgeschritten, dass sie sich nicht mit Mini-Reformen, nicht einmal mit einer Abfolge von Mini-Reförmchen, auf ein nachhaltiges Niveau zurückführen lassen.

Und diese Rückführung, diese notwendige Sanierung muss, wenn nicht ausschließlich, so doch fast nur über zum Teil schmerzhafte Einsparungen erfolgen. Ersteres gilt ohne- hin auch für die Schweiz, aber auch Letzteres wird die Schweiz trotz der im internationalen Vergleich tieferen Verschuldung lernen müssen, zumindest, dass neue Ansprüche Abstriche andernorts verlangen. Das ist eine nicht populäre, aber liberale Botschaft.

„Die Totalitären mitten unter uns“: Verteidigung der Freiheit

Es braucht zur Verteidigung der Freiheit und Selbstverantwortung aber auch sehr viel Aufmerksamkeit und scharfe Beobachtungsgabe. Der Kollektivismus und Totalitarismus tritt nämlich in immer wieder neuen Masken auf, längst nicht mehr bloß als planwirtschaftlicher Sozialismus, sondern als wohlwollender Paternalismus (Nanny-Sozialismus), Verteidiger von Inklusion und Identität oder unter dem Deckmantel des Klimaschutzes.

Man merkt nicht immer gleich, wie sehr all diese Vorstöße der „Totalitären mitten unter uns“ (Friedrich August von Hayek) zugunsten einer guten Sache mit Vorstellungen kollektiven Zwangs verbunden sind. Der Zwang ist eine Folge der bis zur Verabsolutierung reichenden Überhöhung der sehr oft – sofern mit Maß und Mitte vertreten – legitimen Anliegen. Diese Entwicklung bedroht die noch halbwegs freien, demokratischen Gesellschaften des Westens von innen, nachdem sie jahrzehntelang im Kalten Krieg vor allem von außen bedroht waren.

Die Liberalen sind aufgerufen, sich gegen diese Angriffe zu wehren und das, was die geistigen Väter aufgebaut haben, zu verteidigen, nicht starr und unbeweglich, sondern mit dem Willen, das Bewährte weiterzuentwickeln, um es zu erhalten.


Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus dem Essay „Liberalismus im 21. Jahrhundert: Immer wieder neu herausgefordert“ von Gerhard Schwarz in dem Buch: „Ringen um Freiheit. Liberalismus in der Schweiz“ (Autoren; René Lüchinger, Peter Schürmann, Gerhard Schwarz). Mit freundlicher Genehmigung.


Print: 218 Seiten
37 Abbildungen
ISBN: 978-3-907396-92-6
38.00 CHF

E-Book: EPUB
ISBN: 978-3-907396-93-3
30.40 CHF

Verlag NZZ LIBRO

Zum Inhalt des Buches

Aus der liberalen Revolution ist im Jahre 1848 der moderne Schweizer Bundesstaat hervorgegangen. Er steht auf drei Pfeilern: individuelle Freiheit, freie Marktwirtschaft sowie individuelle Selbstverantwortung. Auf diesem Fundament überstand die Schweiz zwei Weltkriege weitgehend unversehrt und entwickelte sich aus einem armen Alpenland zu einer wohlhabenden Nation. Doch dieses Fundament ist brüchig geworden. Es wächst eine Generation heran, die Wohlstand gewohnt ist und den Staat zunehmend als Selbstbedienungsladen für individuelle Wünsche sieht.

Der Historiker René Lüchinger zeichnet in klarer Konsistenz das Werden, die Irrungen und Wirrungen der Schweizer Nation bis in die Gegenwart nach, immer unter dem Fokus des Liberalismus. Der Ökonom Gerhard Schwarz wagt einen Blick auf Chancen und Gefahren für den Liberalismus im 21. Jahrhundert. Was macht Freiheit aus, was bedeutet sie? Nicht zuletzt ist es diese Frage, die im Mittelpunkt des Buchs steht.

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