Die Diskussion um die „Soziale Marktwirtschaft“ geht weiter. Wir dokumentierten unter dem Titel „Soziale Marktwirtschaft – ein deutscher Mythos“ die erste Runde der Debatte, deren Auslöser das Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12.3.17 mit Martin Rhonheimer war („Barmherzigkeit schafft keinen Wohlstand“). Darauf hat Dr. Arnd Küppers, Stellvertretender Direktor an der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach, unter dem Titel „Die Wunder des freien Marktes – ein libertärer Mythos“ mit einer scharfen Kritik reagiert (DT vom 4.3.17). Hier die Antwort von Martin Rhonheimer auf diese Kritik, erschienen unter dem Titel „Wie entsteht Wohlstand?“ in der gleichen Zeitung (DT vom 11.3.17), an deren Ende beide Beiträge in der Originalansicht als Download zu finden sind.
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In seiner Entgegnung auf mein an Ludwig Erhard orientiertes Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft behauptet Arnd Küppers, ohne staatliches Arbeitsrecht, Stärkung der Gewerkschaften und Institutionalisierung der Tarifautonomie hätte die Marktwirtschaft keinen allgemeinen Wohlstand schaffen können. Denn der freie Markt allein habe „keinen Sensus für Gerechtigkeit und Menschenwürde“ und deshalb habe er, bevor der Staat regulierend einzugreifen begann, den Arbeitermassen „die Teilhabe an dem neuen Wohlstand verwehrt“.
Diese Sicht hält den historischen Tatsachen nicht stand. Natürlich ist die richtige Beantwortung der Frage „Was verursachte den historisch präzedenzlosen Massenwohlstand der entwickelten Welt?“ entscheidend, um diesen Wohlstand für die Zukunft erhalten und die heute noch in weiten Teilen der Welt herrschende Massenarmut überwinden zu können. Doch führt Küppers Ansatz hier von Anfang an auf eine falsche Fährte.
Der Industriekapitalismus des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts absorbierte die Massen einer armen, oft elend dahindarbenden Landbevölkerung. Der damals grassierende Pauperismus war keine Folge der Industrialisierung, sondern dort vorherrschend, wo es noch keine Industrien gab. Während in vorindustrieller Zeit die Löhne typischerweise hinter den Preisen hinterherhinkten und deshalb Hunger und Obdachlosigkeit an der Tagesordnung waren, begannen mit der Industrialisierung schon sehr bald die Löhne den Preisen weit voraus zu eilen, eine Tendenz, die das ganze 19. Jahrhundert hindurch anhielt. Das hatte es noch nie in der Geschichte gegeben. Hungersnöte gehörten fortan der Vergangenheit an.
Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert eines unaufhaltsamen technologischen Fortschritts und einer gewaltigen Steigerung der Produktivität und damit der Reallöhne und, bis in die untersten Gesellschaftsschichten, des Lebensstandards – und dies trotz gewaltigen Bevölkerungswachstums. Auch das hatte es noch nie gegeben, denn in früheren Zeiten wurden Wohlstandsgewinne durch das Bevölkerungswachstum stets wieder vernichtet.
Diese Zusammenhänge wurden von Zeitgenossen zumeist nicht erkannt. Der Sozialist Ferdinand Lassalle formulierte – im Anschluss an David Ricardo und Karl Marx – das eherne Lohngesetz, demgemäß es zum Wesen der kapitalistischen Produktionsweise gehört, dass Löhne immer bis zum Existenzminimum gedrückt werden, das Los des Arbeiters im Kapitalismus sich also nie verbessen kann. Auch der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler stimmte dieser Analyse zu. Sie alle übersahen: Mit der Produktivität steigen auch Reallöhne und Lebensstandard. Und so geschah es – nicht als Folge der Regulierung des Arbeitsmarktes und gewerkschaftlicher Arbeitskämpfe, sondern durch das Zusammenspiel von Kapitalismus, innovativem Unternehmertum, technologischer Innovation und freien Märkten.
Der zunächst unter dem Einfluss Werner Sombarts sehr kapitalismuskritische katholische Sozialethiker Johannes Messner anerkannte 1964, in der achten Auflage seines Buches „Die soziale Frage“, hinsichtlich Englands: „Von 1800 bis 1913 hat sich die Bevölkerung verfünffacht, das Gesamteinkommen verzehnfacht, die Preise sind auf die Hälfte gesunken, das durchschnittliche Realeinkommen des einzelnen hat sich vervierfacht; dabei ist die Dauer der Arbeit für den einzelnen fast auf die Hälfte gesunken, dazu außerdem die Kinderarbeit völlig ausgeschaltet und die Frauenarbeit sehr eingeschränkt worden.“ Für Deutschland, so Messner, gelte ähnliches, ja, mehr noch: im 19. Jahrhundert sei Deutschlands Bevölkerung um 44 Millionen gewachsen, die Reallöhne hätten sich dennoch mindestens verdoppelt und die Arbeitszeit um ein Drittel verringert. Dazu kamen ein ständiger Ausbau der Infrastruktur und die Verbesserung der Hygiene, die allmählich auch die untersten Bevölkerungsschichten erreichte.
Gewerkschaften sind nicht Ursache des Wohlstands
Die stetige Zunahme des Lebensstandards und sich herausbildende Strukturen zivilgesellschaftlich organisierter, nichtstaatlicher Sozialhilfe – wie etwa in England die „Friendly Societies“, durch die Millionen von Arbeitern Schutz vor Krankheit und Arbeitslosigkeit genossen – wurde durch die Katastrophe des Ersten Weltkrieges gebremst bzw. zunichtegemacht. Die darauf folgende Geschichte des enormen Anwachsens staatlicher Macht und sozialpolitischer Aktivität kann hier nicht erzählt werden, ist aber eine gänzlich andere als diejenige, die uns Arnd Küppers berichtet. Sicher ist: Auch im 20. Jahrhundert waren weder das moderne Arbeitsrecht noch die Gewerkschaften Ursache des zunehmenden Wohlstands. Oft war sogar das Gegenteil der Fall. In den USA etwa verhinderten während der Großen Depression die Gewerkschaften aufgrund ihrer rechtlichen Privilegierung durch Präsident F. D. Roosevelt Lohnsenkungen und perpetuierten damit bis zum Kriegseintritt eine hohe Arbeitslosigkeit. In der Nachkriegszeit wurden die Gewerkschaften dann zu Lohntreibern. Folge ihrer privilegierten Rechtsstellung und der ständigen Ausweitung des Sozialstaates waren Inflation und schließlich Stagflation. Großbritannien brachten die Gewerkschaften an den Rand des Ruins, bis Margaret Thatcher ihre Macht zu brechen vermochte; in Frankreich und Italien verhindern sie heute noch zum Schaden dieser Länder nötige Strukturreformen. Gewiss: Gewerkschaften haben eine wichtige Aufgabe zur Kontrolle und Verbesserung der innerbetrieblichen Arbeitsverhältnisse. Sobald sie aber durch gesetzlichen Schutz die Macht erhalten, die Anpassungsmechanismen des Arbeitsmarktes außer Kraft zu setzen und durch Lohnforderungen und Streiks die Umsetzung unternehmerischer Entscheidungen zu verhindern, wirken sie wohlstandsmindernd.
Wohlstand wächst einzig und allein durch Ansteigen der Produktivität der menschlichen Arbeit, d.h. durch technologische und unternehmerische Innovation und darauf gründendem Wirtschaftswachstum. Höhere Sozialstandards setzen höhere Produktivität voraus. Wird das nicht beachtet, bringt ihre gesetzliche Implementierung nicht nur keinen Wohlstandsgewinn, sondern verhindert weiteres Wachstum und schafft Privilegien für einzelne gesellschaftliche Gruppen auf Kosten der Allgemeinheit.
Erst so lässt sich verstehen, was der Würde der menschlichen Arbeit förderlich ist. Nicht Rechtsansprüche auf nicht-produktivitätsgerechte Entlohnung, sondern die Schaffung von Humankapital, das heißt: die Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeitskraft. Das vollzieht sich durch technologischen Fortschritt und der damit verbundenen Anhebung des Ausbildungsniveaus und der beruflichen Qualifikation. Der Arbeiter wird zum Facharbeiter, Angestellten, Manager, Dienstleister – oder gar zur Einzelfirma. Das Können, die Fertigkeiten, das Wissen eines Facharbeiters oder Angestellten bilden sein „Kapital“ – Humankapital –, das er auf dem Arbeitsmarkt anbieten kann und dem gemäß er entlohnt wird.
Küppers hingegen bleibt in der von Marx stammenden Behauptung eines angeblichen „Warencharakters der Arbeit“ stecken. Erst dessen Überwindung durch das moderne Arbeitsrecht habe alle am Wohlstand teilhaben lassen. Diese aus der marxistischen Gedankenküche stammende Überlegung beruht auf Marx‘ Fehlannahme, der Kapitalist eigne sich infolge seiner Machtstellung ungerechterweise den Mehrwert der Arbeit des Arbeiters an und erniedrige diese damit zur bloßen Ware. In Wirklichkeit jedoch ist es der Unternehmer bzw. der Kapitalist, der durch seine unternehmerische Leistung den Mehrwert der Arbeit des Arbeiters schafft, ihm also etwas gibt. Es war das Kapital – unternehmerische Visionen, Maschinen und Fabrikeinrichtungen sowie Risikobereitschaft –, das im 19. Jahrhundert der Arbeit völlig unqualifizierter Menschen einen Marktwert verlieh. Erst die unternehmerische Leistung ermöglichte diesen Menschen einen Lohn, den sie sich sonst niemals hätten erarbeiten können. Grundsätzlich ist das heute noch so.
Die Menschen des 19. Jahrhunderts waren für heutige Maßstäbe unbeschreiblich arm, die Gesellschaft, verglichen mit heute, sehr rückständig, das Bevölkerungswachstum explosiv. Viele zu Reichtum Gekommene begegneten dem Elend mit schockierender Gleichgültigkeit, andere suchten, nach Kräften die Not zu lindern. Aus der Welt schaffen konnte sie niemand – erst durch den Anstieg der Arbeitsproduktivität wurden die Überwindung des Elends und entsprechende gesetzlich etablierte Sozialstandards möglich. Neue Technologien brachten entwürdigende Arbeit und Hungerlöhne zunehmend zum Verschwinden, und die Kaufkraft der Lohntüte stieg an. Die meisten Arbeitsverrichtungen, die wir heute als demütigend oder abstumpfend empfinden, gibt es nicht mehr – nicht weil sie vom Staat verboten wurden, sondern infolge des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts. Nicht Sozialgesetze haben unser aller Leben entscheidend verbessert, sondern die Erfindung der Waschmaschine und deren Massenproduktion – wer nicht versteht warum, schaue sich auf YouTube das Kurzvideo „The magic washing machine“ des kürzlich verstorbenen schwedischen Arztes Hans Rosling an.
Das Defizit des 19. Jahrhunderts bestand darin, den privatrechtlichen Eigentumsschutz gegen die Koalitionsfreiheit der Arbeiter auszuspielen und damit eine legale Artikulation ihrer legitimen Interessen zu verhindern. Nach heutigen Kriterien strafrechtlich relevante Ausnutzung von Arbeitskräften wurde ebenfalls mit dem Argument des Eigentumsschutzes gerechtfertigt. Gesetzliche Vorgaben zum Schutz der Menschenwürde sind aber keine Einschränkung des freien Marktes. Denn der Markt ist lediglich das Koordinationssystem der Handlungen einer Vielzahl freier Akteure, die wie alle Glieder der Gesellschaft einer Rechtsordnung unterworfen sein müssen.
Erhard warnte vor dem sozialen Untertan
Küppers überzeichnet deshalb meine Kritik am Sozialstaat. Er verwechselt meine konsequente Verteidigung des Subsidiaritätsprinzips mit libertärer Staatsfeindlichkeit. Das sagt einiges über den Zustand der heutigen katholischen Soziallehre aus, die in der Tat schon seit langem das Subsidiaritätsprinzip durch das Sozialstaatsprinzip ersetzt hat. Ihm gemäß, so Küppers, darf der Staat die Menschen „zur mittelbaren Solidarität mit ihren notleidenden Mitbürgern verpflichten“; das heißt: er darf bestimmen, wie und in welchem Ausmaß vermögendere Bürger – oder Untertanen? – mit anderen, weniger gut gestellten solidarisch zu sein haben. Nein: Der Staat hat dieses Recht nicht! In einer Demokratie kann ihm zwar eine Mehrheit eine solche Aufgabe übertragen. Spätestens an diesem Punkt sind aber Subsidiarität, Freiheit und Mehrung des Wohlstands in akuter Gefahr. Denn Mehrheiten, um im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ auf Kosten der Ressourcen einer reicheren Minderheit das eigene Leben zu verbessern, werden sich immer finden. Dabei aber vergisst diese Mehrheit, dass sie damit die Grundlage ihres Wohlstands zu zerstören beginnt: das innovative und wohlstandsschaffende Potenzial des vielgeschmähten Kapitals.
Jeder Mensch hat eine Pflicht nicht nur der Nächstenliebe, sondern der Gerechtigkeit, seinen Mitmenschen in extremer Not zu helfen. Deshalb springt hier die Gemeinschaft zu Recht ein, wenn sie für Notleidende ein soziales Netz spannt. In einer anständigen Gesellschaft darf niemand auf der Straße liegen bleiben, muss denen geholfen werden, die sich nicht selber helfen können. Am besten geschieht dies vor Ort, auf Gemeindeebene. Was darüber hinausgeht, kann die Zivilgesellschaft in vielen Fällen besser, effizienter, gerechter und humaner leisten. Der heutige Sozialstaat verhindert dies und verletzt damit das Subsidiaritätsprinzip.
Erhards Konzept der Sozialen Marktwirtschaft war subsidiär gedacht. Er wusste wovon er sprach und wovor er warnte: vor der Entstehung des „sozialen Untertans“. Erhard lehnte sowohl Versicherungszwang wie auch ein umlage- d.h. steuerfinanziertes Pensionssystem ab. Er setzte auf Freiheit und Selbstverantwortung. Erhard war kein libertärer Marktfundamentalist, wusste aber wie Wohlstand entsteht. Deshalb wurde er zum Vater des deutschen Wirtschaftswunders und gilt zurecht als Begründer einer Marktwirtschaft, die sozial ist, weil sie Markt und Wettbewerb in den Mittelpunkt stellt.
- Download des Originalartikels von Arnd Küppers „Die Wunder des freien Marktes – ein libertärer Mythos“ (mit freundlicher Genehmigung)
- Download des Originalartikels von Martin Rhonheimer „Wie entsteht Wohlstand?“ (mit freundlicher Genehmigung)
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