Osterweiterung der EU: Hoffnungsfenster für durchgreifende EU-Reformen

Trotz des anhaltend destruktiven Verhaltens der ungarischen Regierung bezüglich der gemeinsamen europäischen Unterstützung der Ukraine,[1] steht die Europäische Union gut zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022 politisch geschlossener da als vor Russlands Angriffskrieg. Die militärische Bedrohung Europas durch das neoimperiale Russland wirkt disziplinierend und scheint dem ständigen innereuropäischen Kampf um Geld und Schulden vorerst die existentielle Spitze genommen zu haben.

Dass die Ukraine eher früher als später Mitglied der Europäischen Union werden muss, liegt heute mehr denn je im ureigensten sicherheitspolitischem Interesse der Europäischen Union: Je weiter die Grenzen der Freiheit nach Osteuropa verschoben werden, desto sicherer wird die Mitte Europas.

Angesichts der russischen Bedrohung Europas spielt mit Ausnahme von Ungarn momentan keine nationale Regierung der EU mit der Existenz der Europäischen Union und der Eurozone „Vabanque“. Und vermutlich hätte es auch den Brexit nicht gegeben, wenn über ihn nicht im Juni 2016, sondern erst nach dem 24. Februar 2022 abgestimmt worden wäre. Dass die Ukraine eher früher als später Mitglied der Europäischen Union werden muss, liegt heute mehr denn je im ureigensten sicherheitspolitischem Interesse der Europäischen Union: Je weiter die Grenzen der Freiheit nach Osteuropa verschoben werden, desto sicherer wird die Mitte Europas.[2]

Eine Aufnahme der Ukraine, von Georgien und Moldau sowie von Westbalkan-Staaten in die EU dürfte jedoch ohne vorherige weitgehende institutionelle Reformen der EU mit erheblichen Problemen verbunden sein. Aus diesem Grund wird der Kampf um Geld und Schulden eine existentielle Frage der Europäischen Union und der Eurozone bleiben und sich in naher Zukunft verstärken. Denn dieser Kampf war von jeher ein Kampf um die politische und ökonomische Gestalt und die staatsrechtliche Verfassung der Europäischen Union.

Gemeinschaftswährung: Der Kampf ums Geld

Der Kampf ums Geld ist nicht nur ein Kampf um vorhandene, knappe Finanzmittel zur Staatsfinanzierung, sondern auch ein Kampf um die Bedingungen zur Vermehrung des Geldes durch Schöpfung über Kreditvergabe. Die Europäische Union wurde mit dem Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 gegründet, der am 1. November 1993 in Kraft trat. Der Vertrag von Maastricht löste die Römischen Verträge von 1957 ab und überwölbte die bisherigen Vertragswerke der drei Europäischen Gemeinschaften – Europäische Atomgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – sowie die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres.

Mit dem Vertrag von Maastricht wurde insbesondere die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion beschlossen, die zur Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung am 1. Januar 1999 führte. Jeder Mitgliedsstaat der Europäischen Union, der die Konvergenzkriterien zur Aufnahme in die Währungsunion erfüllt, ist im Prinzip verpflichtet, der Währungsunion beizutreten und den Euro auf seinem Staatsgebiet als gesetzliches Zahlungsmittel einzuführen.[3] Jüngstes Mitglied der Eurozone ist Kroatien, das am 1. Januar 2023 den Euro als gesetzliches Zahlungsmittel einführte, so dass die Eurozone heute 20 von 27 EU-Staaten umfasst.

Divergierende Vorstellungen seit Beginn der Euro-Zone

Die einheitliche europäische Währung wurde mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen über ihren Charakter und Zweck geboren.[4] Für Frankreich und andere traditionelle Weichwährungsländer sollte die gemeinsame Währung „Staatsgeld“ – im Sinne von Geld des Staates – sein. Frankreich wollte „finanzpolitische Souveränität“ wiedererlangen, welche unter der konsequenten Preisstabilitätspolitik der deutschen Bundesbank gelitten hatte. Frankreichs Möglichkeiten, Staatsausgaben mit von der Zentralbank und den Banken neu geschöpftem Geld zu finanzieren, waren begrenzt, weil der Franc durch diese monetäre Staatsfinanzierung im Verhältnis zur damaligen europäischen Leitwährung D-Mark unter Abwertungsdruck geriet. Nicht nur Frankreich, sondern auch andere Staaten wie Italien empfanden diese Einschränkung politischer Handlungsmöglichkeiten qua Währungswettbewerb als Einschränkung finanzpolitischer Souveränität.[5]

Für Deutschland und andere nordeuropäische Länder sollte die europäische Währung jedoch den Charakter von „Bürgergeld“ – im Sinne von Geld des Bürgers – erhalten: Wie die D-Mark sollte die gemeinsame europäische Währung fern der Politik mit dem einzigen Ziel geschöpft werden, ein stabiles Mittel zum Tausch und zur Wertaufbewahrung zu sein. Staat und Politik sollten keinen Zugriff auf die Geldschöpfung zu ihren Zwecken erhalten.[6]

Das Erpressungsspiel der klassischen Weichwährungsländer

Gegensätzlicher konnten die Vorstellungen über den Charakter und Zweck einer gemeinsamen europäischen Währung nicht sein. Dieser Gegensatz bildet bis heute die tiefere Ursache für die vielen Auseinandersetzungen in der Europäischen Union um Geld und Schulden. Im Ergebnis haben sich in den letzten 25 Jahren Schritt für Schritt diejenigen Länder durchgesetzt, welche den Euro als „Staatsgeld“ und Mittel zur monetären Staatsfinanzierung einrichten wollten und das, obwohl die monetäre Staatsfinanzierung in den europäischen Verträgen ebenso verboten war wie der Bail-out eines überschuldeten Eurostaates.

Diese Länder konnten sich Schritt für Schritt durchsetzen, weil in den meisten Auseinandersetzungen um Geld und Schulden ein Erpressungsspiel gespielt wurde,[7] in welchem mit einem Auseinanderbrechen der Eurozone gedroht wurde, welche zu einem Auseinanderbrechen der gesamten Europäischen Union führen könnte: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ (Angela Merkel).[8] Und die Verschiebung des Euros zum Staatsgeld zeigt sich daran, dass vor allem Länder mit zweifelhafter Stabilitätskultur in die Währungsunion drängen, während stabilere Länder wie Dänemark oder Schweden der Gemeinschaftswährung fernbleiben.

Dass die Interessengegensätze innerhalb der Eurozone auch Relevanz für Nicht-Euro-Länder in der EU und damit auch für neu in die EU aufgenommene Mitgliedsstaaten besitzen und Nicht-Euro-Länder in der Vergangenheit sogar zu politischem Handeln veranlassten, zeigt sich unter anderem daran, dass 25 EU-Mitgliedsstaaten – und damit nicht nur die damaligen Euro-Mitgliedsländer – im Jahr 2012 den europäischen Fiskalpakt schlossen. Denn damals wie heute besteht der Dreh- und Angelpunkt der meisten europäischen Streitigkeiten und Krisen in den Staatschulden und der Möglichkeit, diese zu niedrigeren Zinsen mit neu geschaffenem Geld zu finanzieren.

Ständige Gefahr einer neuen Eurokrise: Akuter Reformbedarf

Diese Streitigkeiten um die Staatsschulden können in der EU jederzeit wieder an existentieller Schärfe gewinnen, – vor allem dann, wenn die Zinsen eine längere Zeit hoch bleiben und über die Zinslast der Staatsschulden die nationalen Staatshaushalte entsprechend belasten. Die politischen und ökonomischen Auswirkungen auf eine um die Ukraine, Georgien, Moldau und die Westbalkanstaaten erweiterte Europäische Union werden bei einer neuen Eurokrise noch größer sein als auf die EU-27 – auch wenn die neuen Beitrittsländer noch nicht zum Euroraum gehören – und dürften das notwendige Ziel der Europäischen Union, zum geopolitischen Player zu wachsen, untergraben.

Geopolitische Macht ist ohne solide Staatsfinanzen und ohne eine stabile Geld- und Währungsordnung nur schwer möglich. Eine Entschuldung der Eurozone und eine Neuaufstellung des Euro gehören deshalb zu den Reformen für die gesamte EU, welche mit Hochdruck noch vor einer Erweiterungsrunde angegangen werden sollten.

Weiterer Reformbedarf besteht bezüglich der fiskalischen Finanzströme innerhalb der Europäischen Union. Laut einer aktuellen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft[9] würde ein Beitritt der Ukraine zur EU erhebliche Auswirkungen auf den EU-Haushalt nach sich ziehen. Die Studie beziffert die finanziellen Folgen einer Vollmitgliedschaft der Ukraine in Bezug auf den derzeitigen sogenannten „Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR)“ von 2021 bis 2027 mit 130 bis 190 Milliarden Euro. 70 bis 90 Milliarden Euro würden auf Agrarsubventionen entfallen und 50 bis 90 Milliarden auf die Kohäsionspolitik.

Finanzielle Folgen eines EU-Beitritts der Ukraine

Da der mehrjährige Finanzrahmen 2021-2027 insgesamt ca. 1,216 Billionen Euro beträgt, würde die Ukraine allein ca. 10 Prozent bis 15 Prozent der gesamten zur Verfügung stehenden Mittel erhalten. Dadurch dürften sich die bisherigen fiskalischen Finanzströme innerhalb der EU enorm verändern. Die Autoren der Studie warnen deshalb zurecht:

„Wenn die politische Entscheidung, vor allem der Ukraine eine Beitrittsperspektive zu verschaffen, glaubwürdig sein soll, müsste die EU bereit sein, sich zu reformieren. Dies gilt zum einen auf der institutionellen Ebene, etwa hinsichtlich des Prinzips der Einstimmigkeit, um handlungsfähig zu bleiben. Aber es gilt zum anderen auf der fiskalischen Ebene.“[10]

In Zeiten eines ohnehin großen Finanzbedarfs zur Finanzierung der grünen und digitalen Transformation oder für Investitionen in die innere und äußere Sicherheit sei Priorisierung wichtig. Da allein der Ukraine bei einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union rund 130 bis 190 Milliarden Euro zustehen würden, müsste entweder eine Aufstockung des derzeitigen EU-Haushalts oder eine Umschichtung der Haushaltsmittel oder eine Kombination aus beiden erfolgen.[11]

Ansatzpunkte für Umschichtungen im EU-Haushalt lägen in einer Reform der Kohäsionspolitik wie in einer Reform der sogenannten Gemeinsamen Agrarpolitik.

Stolperstein Kohäsionspolitik

Bei allen Unsicherheiten bezüglich der finanziellen IW-Schätzungen dürfte klar sein, dass  damit neue Auseinandersetzungen innerhalb der EU-27 programmiert sind. Die Interessenkonflikte dürften zunehmen und der Kampf um Geld und Schulden könnte bei dominierender nationaler Besitzstandswahrungspolitik eine die EU gefährdende existentielle Schärfe zurückgewinnen. Zur Sicherung der Besitzstände die Beitrittskandidaten am Katzentisch im Speisezimmer der EU zu platzieren und ihnen finanzielle Mittel nur sehr begrenzt zu gewähren, wie es gelegentlich vorgeschlagen wird,[12] dürfte das Bestreben, durch die neuen EU-Mitglieder mehr Sicherheit vor der russischen Bedrohung zu erlangen, nicht erfüllen oder sogar konterkarieren.

Durchgreifende Reformen sind oftmals nur möglich, wenn Besitzstandswahrungspolitik durchbrochen wird. Die Besitzstandsbewahrer werden aber nur dann zur Aufgabe von bestehenden Besitzständen bereit sein, wenn ihre sicherheitspolitischen Interessen die fiskalischen Interessen übersteigen.

Dass die Europäische Union – trotz des anhaltend destruktiven Verhaltens der ungarischen Regierung – heute politisch geschlossener dasteht als vor Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, könnte ein Indiz dafür sein, dass sich ein Fenster geöffnet hat, durchgreifende Reformen der EU und der Eurozone anzugehen. Wer die noch vor uns stehenden geopolitischen Herausforderungen bestehen will, darf jedoch nicht zu lange zögern. Das „Window of Opportunity“ könnte sich schnell wieder schließen.

[1] Der ungarische Nationalismus dürfte heute zwar nicht die gleiche Sprengkraft wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert besitzen, als er das Vielvölkerreich der Habsburger unter enorme Spannungen setzte und die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn letztlich sprengte. Das heutige Ungarn ist auf die EU-Milliarden angewiesen und dürfte allein deshalb die EU in absehbarer Zeit nicht verlassen. Siehe dazu Norbert F. Tofall: Quertreiber Ungarn, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 13. Januar 2023.

[2] So der langjährige Präsident der Paneuropa-Union Otto von Habsburg (1912-2011) in den 1990er Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, siehe hier.

[3] Unter den gegenwärtigen EU-Mitgliedern hat Dänemark allerdings ein offizielles „Opt-out“ von der Währungsgemeinschaft, während andere Mitglieder, welche die Konvergenzkriterien leicht erfüllen könnten, die Verpflichtung zum Beitritt ignorieren.

[4] Vgl. Thomas Mayer und Norbert F. Tofall: Die neue deutsche Europapolitik hat keine Interessen. Das Wunder Europa ist jedoch aus Interessenkonflikten hervorgegangen, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 2. Februar 2018, S. 4.

[5] Vgl. ebenda, S. 5.

[6] Vgl. ebenda, S. 5.

[7] So spekulierte beispielsweise Italien 2018 im Haushaltsstreit mit der EU-Kommission erfolgreich darauf, dass die EU-Kommission, die anderen Euroländer und die EZB ein ungeordnetes Auseinanderbrechen der Währungsunion verhindern wollen und sich deshalb wohl keine entsprechenden Mehrheiten im Rat der Europäischen Union und im EZB-Rat zur wirksamen Sanktionierung von Italien bilden werden. Siehe dazu Norbert F. Tofall: Italiens Haushaltsstreit mit der EU-Kommission, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 25. Oktober 2018. Kurz vor Weihnachten hatte Italien dann die erste Runde in seinem Erpressungsspiel gegen harte Budgetbeschränkungen in der Währungsunion gewonnen. Siehe dazu Norbert F. Tofall: Regelbruch mit Segen der EU-Kommission, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 4. Januar 2019.

[8] Siehe: Deutscher Bundestag, „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“

[9] Siehe Berthold Busch und Samina Sultan: Fiskalische Aspekte einer EU-Erweiterung. Folgen eines EU-Beitritts der Ukraine für den Haushalt und die Kohäsionspolitik, Studie vom 11. Dezember 2023, IW-Report 63/2023.

[10] Ebenda, S. 5.

[11] Vgl. ebenda, S. 9.

[12] Siehe z.B. Charles Grant: “EU enlargement is not a foregone conclusion”, in: Financial Times vom 14. Dezember 2023.

 

Dieser Artikel erschien ursprünglich unter dem Titel „EU-Erweiterung und EU-Reformen – Anmerkungen, die über den letzten EU-Gipfel hinausgehen“ auf der Website des Flossbach von Storch Research Institute. Mit freundlicher Genehmigung. © 2024 Flossbach von Storch. Alle Rechte vorbehalten.

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