Verringert soziale Ungleichheit das Wirtschaftswachstum? Fragwürdige Grundlagen der Studien von OECD und IWF

Angeblich haben Länder mit höherer Einkommensungleichheit ein geringeres Wirtschafts­wachstum. Ungleichheit wirke als Wachstumshemmnis, weil der private Konsum ge­schwächt werde. Aber ist nur der Konsum ein Treiber des Wachstums? Spielen Investitionen keine Rolle? Die Fokussierung auf einzelne Wachstumstreiber zeigt, dass das Thema Ungleichheit in vielfältigen Bezügen als Vehikel zur Durchsetzung von Gruppeninteressen genutzt werden kann. Zudem gründen die neusten Studien auf fragwürdigen theoretischen Grundlagen. Diese wurden von F. A. Hayek bereits im Jahre 1932 kritisiert.

Sowohl die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris als auch der Internationale Währungsfonds (IWF) in Washington haben in den letzten Jahren Beiträge zum Verhältnis von Ungleichheit und Wirtschaftswachstum ver­öffentlicht.[1] Auf der Grundlage von empirischen ökonometrischen Analysen und soge­nannten Simulationsrechnungen wird behauptet, dass Länder mit höherer Einkom­mens­ungleichheit ein geringeres Wirtschaftswachstum und kürzere Wachstumsphasen auf­weisen würden als Länder mit geringerer Einkom­mensungleichheit.

Zwischen 1990 und 2010 hätte das Wirtschaftswachstum in Deutschland und anderen Ländern um ein Fünftel höher sein können, wenn sich in diesem Zeitraum die Einkom­mensungleichheit nicht erhöht hätte. Diese Analysen sind vielfach kritisiert worden,[2] weshalb der behauptete Zusam­menhang zwischen Einkommensungleichheit und Wirt­schaftswachstum höchst strittig bleibt.

Die Argumentation der genannten Analysen besteht aus zwei Argumentationssträngen. Einkommensungleichheit, so der erste, wirke als Wachstumshemmnis, weil der private Konsum ge­schwächt werde. Reiche konsumieren einen geringeren Anteil ihres Einkommens als Arme. Darüber hinaus – und das ist der zweite Strang – verringerten sich die privaten Ausgaben für Bildung. Einkom­mensschwache Haushalte könnten weniger in Bildung investieren, was zu einer Schwä­chung des Humankapitals und zu einem geringeren gesamtwirtschaftlichen Wachstums­potential führe.[3]

Betrachtet man diese beiden Argumentationsstränge genau, so sticht ins Auge, dass im ersten Argumentationsstrang der private Konsum als Wachstumstreiber herausgestellt wird, die privaten Investitionen und deren gesamtwirtschaftliches Wachstumspotential jedoch vernachlässigt werden. Im zweiten Argumentationsstrang, der auf die Entwick­lung des Humankapitals abstellt, sind die Investitionen jedoch zentral. Ein Schelm, der Böses dabei denkt und nun rabulistisch argumentieren würde, dass sich unter der An­nahme, dass der Konsum für das Wachstum wichtiger sei als die Investitionen, das Wirt­schaftswachstum doch auch dadurch steigern lasse, indem man auf Bildungsinvestitio­nen zugunsten von Party und Rabatz und anderen exzessiven Konsumausgaben ver­zichte. Denn schließlich gelte nach Keynes: „In the long run we are all dead.“

Aber Spaß beiseite: An der selektiven Fokussierung auf mögliche Wachstumstreiber zeigt sich, wie das Thema Ungleichheit in vielfältigen Bezügen als Vehikel genutzt werden kann, um in demokrati­schen Entscheidungsprozessen Sonderinteressen einzel­ner gesell­schaftlicher Gruppen durchzusetzen.

Nehmen wir zugunsten der Autoren dieser Studien und Simulationsrechnungen an, dass das gar nicht ihre Absicht ist. Auffällig bleibt dann trotzdem, dass im ersten Argumenta­tionsstrang stillschweigend eine Veränderung der Nachfrage nach Kapitalgütern (Investitionen) im Verhältnis zur Nachfrage nach Konsumgütern unterstellt wird. Man müsse also nur die Konsumnachfrage steigern, dann steigere sich auch die Nachfrage nach Kapitalgütern, also die Höhe der Investitionen, und dadurch das gesamtwirtschaftliche Wachstumspotential.

Bereits 1932 wies der spätere Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek in seinem Aufsatz „Kapitalaufzehrung“ darauf hin, „dass Konsumieren und Investieren Alternati­ven sind und dass man nicht gleichzeitig mehr konsumieren und die Konsumtion zum Zweck der Vermehrung des Stocks von Zwischenprodukten aufschieben kann. Da die Produzenten von Kapitalgütern keine Möglichkeit haben, ihre Nachfrage von Produkti­onsmitteln im Verhältnis zur Steigerung der Nachfrage nach Konsumgütern auszudeh­nen, muss diese eine Umleitung der Produktion in der Richtung jener Güter hervorrufen, die schnell fertiggestellt werden können. Das bedeutet jedoch nicht nur, dass die vorhan­denen Arbeitskräfte nun anders verwendet werden, sondern auch, dass ein Teil der vor­handenen Zwischenprodukte auf kürzerem – und weniger ergiebigem – Weg der Kon­sumtion dienstbar gemacht wird als ursprünglich beabsichtigt war, und ein Teil der auf­gebrauchten Zwischenprodukte nicht mehr ersetzt wird. Dies ist aber nichts anderes als der Prozess der Kapitalaufzehrung.“[4]

Durch Kapitalaufzehrung sinken jedoch die Pro­duktivität und das gesamtwirtschaftliche Wachstumspotential und damit die Möglich­keiten für Reallohnsteigerungen. Erschwe­rend kommt hinzu, dass wir uns aufgrund der Geld- und Niedrigzinspolitik der Zentral­banken seit 2007/2008 ohnehin bereits in einem Prozess der Kapitalaufzehrung mit der Folge geringerer Produktivität und geringerem Potentialwachstum befinden könnten. Die Investitionsschwäche in den westlichen In­dustrienationen sollte deshalb sehr ernst genommen werden.

Trotzdem wird der Einfluss der Geld- und Niedrigzinspolitik der Zentralbanken auf das Wirtschafts­wachstum in den Studien der OECD und des IWF ebenso wenig problemati­siert wie der Einfluss der Geld- und Niedrigzinspolitik auf die Einkommensungleichheit. Da­bei hatte Richard Cantillon bereits 1755 herausgearbeitet, dass eine Erhöhung der Geld­menge nicht von selbst gleichmäßig in allen Bereichen einer Volkswirtschaft wirke und dadurch das allgemeine Preisniveau erhöhe, wie es die Quantitätstheorie des Geldes nahezulegen scheint. Vielmehr wirkt eine Geldmengenerhöhung (vielleicht mit Aus­nahme des sogenannten Helikopter Money, was aber auch nicht sicher ist) erst in eini­gen Bereichen einer Volkswirtschaft, woraus folgt, dass die Geldpolitik nicht vertei­lungsneutral ist, sondern mit Umverteilungseffekten einhergeht.

Während es also durchaus Effekte der heutigen Geld- und Zinspolitik der Zentralbanken auf die Einkommensungleichheit und das Wirtschaftswachstum gibt, ist die Beziehung zwischen Ungleichheit und Wachstum höchst vage.

Anmerkungen / Literaturverweise:

[1] Siehe OECD: In It Together: Why Less Inequality Benefits All, Paris 2015; Era Dabla-Norris; Kalpana Kochhar; Nujin Suphaphiphat; Frantisek Ricka; Evridiki Tsounta: “Causes and Consequences of Income Equality: A Global Perspektive”, in: IMF Staff Discussion Note 15 (13), Washington D.C. 2015; Federico Cingano: Trends in Income Inequality and its Impact on Economic Growth,OECD Social, Employment and Mi­gration Working Papers, No. 163, Paris 2014.

[2]    Mit ausführlichem Literaturüberblick siehe Galina Kolev; Judith Niehues: The Inequality-Growth Relationship. An Empirical Reassessement, Working Paper Version; IW-Report 7/2016 sowie Martin Beznoska, Ralph Henger et al.: Faktencheck Gerechtigkeit und Verteilung: eine empirische Überprüfung wichtiger Stereotype, IW-Report 29/2016. Allgemein zur ökonomischen Entwicklung und Wachstum siehe Erich Weede: „Economic Development and Growth“, in: Masamichi Sasaki; Jack Goldstone; Ekkart Zimmermann; Stephen K. Sanderson (Ed.): Concise Encyclopedia of Comparative Sociology, Leiden, Boston 2014 sowie Erich Weede: „Wachstum und Verteilung in einer globalisierten Welt“, in: Tilman Mayer; Robert Meyer; Lazaros Miliopoulos; H.Peter Ohly, Erich Weede (Hrsg): Globalisierung im Fokus von Politik, Wirtschaft und Gesell­schaft. Eine Bestandsaufnahme, gesis – Leipzig-Institut für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011.

[3]    Vgl. René Bormann; Fedor Ruhose; Achim Tuger: Bekämpfung der Ungleichheit. Rückbesinnung auf den Kern sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik, Friedrich-Ebert-Stiftung, WISO Direkt 16/2017, S. 2.

[4]    Friedrich August von Hayek: „Kapitalaufzehrung“ (1932), in: Friedrich A. von Hayek: Geld und Konjunktur, Band II: Schriften 1929 –  1969, herausgegeben von Hansjörg Klausinger, Tübingen 2016, S. 193-215, hier S. 199 f.

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