
„Der Neoliberalismus ist tot.“ Seit der Finanzkrise 2008 wiederholt der Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz sein Mantra. Dennoch wird von linken Politikern weiterhin der Neoliberalismus für alles Schlechte verantwortlich gemacht. Aber nicht nur von linken. Doch was ist dieser „Neoliberalismus“, der immer an allem schuld sein soll? Und warum wurde der Name zum Schimpfwort?
In den 1980er Jahren kamen mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan schließlich Friedman, Mises und Hayek in der Politik an. Nun wurde der Neoliberalismus zum Feindbild der Staatsgläubigen und Verächter freier Märkte, die Selbstbezeichnung wurde zum Schimpfwort. Die Ordoliberalen hatten dem wenig entgegenzusetzen, weil sie an eine wirklich freie Marktwirtschaft nie geglaubt hatten.
Im August 1938 traf sich in Paris eine Gruppe von Liberalen zu einem Kolloquium. Sie standen unter dem Eindruck des nach der Weltwirtschaftskrise zunehmenden staatlichen Interventionismus und der wachsenden Sympathien von Politikern und Intellektuellen für die sowjetische Planwirtschaft. Auf der Grundlage von Walter Lippmanns Buch „The Good Society“ sollte an der Pariser Zusammenkunft über die Zukunft des Liberalismus diskutiert werden.
Neoliberalismus als Bändigung der Marktwirtschaft
Die Teilnehmer dieses „Walter-Lippmann-Kolloquiums“, wie man es heute nennt, suchten nach einer Erneuerung des Liberalismus. Ihrer Überzeugung nach waren die Liberalen selbst mitschuldig an dessen Diskreditierung. Ähnlich wie Lippmann sahen die meisten der am Kolloquium teilnehmenden Neoliberalen – allen voran der Kultursoziologe Alexander Rüstow, der zusammen mit dem Philosophen Louis Rougier den Begriff geprägt hatte – das Versäumnis des alten Liberalismus im einseitigen Vertrauen in den freien Markt.
Dieses „Laissez-faire“ habe zur Entrechtung der Arbeiterschaft und zur Ermächtigung der Marktwirtschaft durch Monopole und Kartelle geführt. Der Neoliberalismus war in ihren Augen eine geordnete, sozial und ethisch eingebettete Marktwirtschaft, in der der Staat die Rolle des Hüters von Recht und Wettbewerb übernähme.
Widerspruch kam aus den Reihen der Liberalen selbst. Auf Initiative des – zusammen mit Ludwig von Mises – am Lippmann-Kolloquium anwesenden Friedrich August von Hayek wurde im Jahr 1947 in einem Hotel hoch über dem Genfersee die bis heute aktive „Mont Pèlerin Society“ (MPS) als Zusammenschluss liberaler Ökonomen gegründet. Unter den Gründungsmitgliedern befand sich neben Hayek und Mises auch der junge Milton Friedman aus Chicago.
Neoliberalismus als Verteidigung des freien Marktes
Alle drei lehnten die Argumentation der damaligen Neoliberalen ab. Sie widersprachen zwar keineswegs Lippmanns These, es sei Aufgabe des Staates, die Marktwirtschaft in eine rechtsstaatliche Ordnung einzubetten. Sie verneinten jedoch, der freie Markt neige aus sich heraus zur Selbstzerstörung durch Monopol- und Kartellbildung. Vielmehr waren sie der Meinung, die Kräfte des Marktes und des Wettbewerbs würden einer solchen Entwicklung gerade entgegenwirken – vorausgesetzt, der Staat greift nicht mit Privilegien, Regulierungen und Subventionen in die Wirtschaft ein.
Die Wirtschaftsgeschichte gibt ihnen weitgehend recht. Mises und auch Hayek wussten, dass das von den Neoliberalen in die Welt gesetzte Narrativ eines angeblich wettbewerbszerstörenden und wohlstandshemmenden Laissez-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts nicht den Tatsachen entsprach. Erstaunlicherweise wusste das aber offenbar auch derjenige, der dieses Argument mit größter Verve vertreten hatte, nämlich Alexander Rüstow.
1946 schrieb Rüstow, sich selbst widersprechend, „dass die letzte und entscheidende Entartung der Marktwirtschaft direkt und indirekt durch gehäufte subventionistische, protektionistische und monopolfördernde Maßnahmen des Staates herbeigeführt worden war, d. h. aber durch einen flagranten Verstoß gegen die Grundmaxime des Liberalismus: „laissez faire, laissez passer“.
Im gleichen Jahr lesen wir auch bei Alfred Müller-Armack, dem Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft und engen Mitarbeiter Ludwig Erhards, die erstaunliche Aussage: „Es wurde von der wissenschaftlichen Forschung nachgewiesen, dass die Hauptursachen für das Versagen der liberalen Marktwirtschaft gar nicht so sehr in ihr selbst liegen, als in einer Verzerrung, der sie durch den von außen kommenden Interventionismus seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts zunehmend unterlag.“
Das wussten Mises, Hayek und Friedman, und deshalb misstrauten sie grundsätzlich dem Staat in einer Weise, wie es den klassischen Neoliberalen fremd war. Diese wollten ja den Staat zu Hilfe rufen, um ihn vermeintlich als Hüter des Wettbewerbs einzusetzen, während sie in Wahrheit den Bock zum Gärtner machten.
Dynamik durch Innovation
In den 1980er Jahren kamen mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan schließlich Friedman, Mises und Hayek in der Politik an. Nun wurde der Neoliberalismus zum Feindbild der Staatsgläubigen und Verächter freier Märkte, die Selbstbezeichnung wurde zum Schimpfwort. Die Ordoliberalen hatten dem wenig entgegenzusetzen, weil sie an eine wirklich freie Marktwirtschaft nie geglaubt hatten. Sie plädierten für eine Ordnungspolitik, die angebliche Wettbewerbshemmnisse und sogenanntes Marktversagen durch sogenannte marktkonforme staatliche Eingriffe zu korrigieren sucht und damit den Wohlstand für alle mehrt.
Auch Hayek, der 1974 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten hatte, plädierte für Ordnungspolitik, aber auf andere Weise. Er wusste, dass Marktwirtschaft dynamisch zu betrachten ist, dass gerade der Markt bzw. der findige, profitorientierte und deshalb innovative Unternehmer immer wieder neu für Wettbewerb sorgt und die zuvor Erfolgreichen entmachtet. Der Wettbewerb ist auch für ihn ein „Entmachtungsinstrument“ (Franz Böhm), aber nicht durch behördliches Eingreifen – Kartellämter und dergleichen –, sondern durch den Markt selbst, der von innovativen Unternehmern getrieben ist – falls man sie lässt.
Doch die Unternehmen in Europa sind durch Überregulierung gefesselt und in ihrer Kreativität eingeschränkt, sie werden von Bürokraten drangsaliert, die nichts von unternehmerischer Wertschöpfung und Innovation verstehen, dafür umso besser wissen, wie man die eigenen Zuständigkeiten kontinuierlich ausweitet. Immer mehr fehlt in Europa die für den Kapitalismus typische innovationsgetriebene Dynamik.
Der Staat – Hüter oder Feind des Wettbewerbs?
Hingegen verlieren wir Zeit damit, erfolgreiche und innovative amerikanische Konzerne, weil sie angeblich monopolistische Praktiken betreiben, mit Bussen zu belegen. Zu bedenken wäre, was nicht nur Hayek vertrat, sondern auch Erhards Doktorvater Franz Oppenheimer bereits 1938 schrieb: Monopole erledigen sich in einer freien Marktwirtschaft von selbst, und zwar aufgrund der in einem freien Markt immer bestehenden bloßen Möglichkeit von Wettbewerb.
Früher oder später kommen Konkurrenten mit besseren Produkten auf den Markt und brechen die etablierte Marktmacht, nicht durch Verbote und Bußgelder, sondern mit neuen Ideen. Der wirkliche Feind des Monopols ist deshalb die Innovation, der technische Fortschritt und damit Markt und Wettbewerb. Sie sorgen dafür, dass nicht nur die Superreichen, sondern alle vom Wachstum profitieren.
Man kann das als neoliberalen Marktradikalismus oder gar als Marktfetischismus abtun. In Wirklichkeit entspringt es jedoch der Einsicht in die wahre Funktion des Wettbewerbs als „Entdeckungsverfahren“ (Hayek). Jene, die keinen Wettbewerb ohne staatliche Wettbewerbspolitik für möglich halten, weil sie dem freien Markt grundsätzlich misstrauen, werden von der jüngeren Chicago- und der Public-Choice-Schule belehrt, die darauf hingewiesen hat, dass man den Wettbewerb nicht vor dem Markt, sondern vor dem Staat schützen muss. Der wahre Feind von Wachstum und Wohlstand ist ein Staat, der die Marktwirtschaft zu überwachen und zu gestalten versucht, dabei aber mit lähmender Regulierungsdichte und Bürokratisierung unternehmerische und innovative Kräfte fesselt.
Neoliberalismus bleibt ein Programm
Die Neoliberalen selbst haben der Entwicklung eines solchen Staates ungewollt Vorschub geleistet. Was hingegen seit Thatcher und Reagan als neoliberal gilt, im Grunde aber schlicht liberal ist, war 1938 in Paris nur von Mises und Hayek vertreten worden. Sie wollten aber keineswegs zurück in die Welt des 19. Jahrhunderts ohne Arbeitsrecht und Sozialversicherung. Vielmehr wollten sie gegenüber dem zunehmenden Interventionismus die Wohlstand schaffende Dynamik des Kapitalismus reaktivieren.
Für dieses Ziel setzten sie nicht auf den Staat, sondern auf den Markt und das freie Unternehmertum. Deshalb wurden sie zum Hassobjekt der Antikapitalisten von links und von rechts. Doch in der heutigen Zeit wirtschaftlicher Lähmung sollte man vielleicht wieder vermehrt auf sie hören. Denn Neoliberalismus – den gibt es heute nirgends mehr und hat es vielleicht auch nie gegeben. Er war immer nur ein Programm.
Dieser Artikel erschien zunächst unter dem Titel „Sündenböcke der Moderne“ am 1. Oktober 2025 im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), Seite 32. Online hier.
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