Die deutschen Freien Demokraten blicken nicht nur in den politischen Abgrund, sie sind mit einem Bein schon einen Schritt weiter. Doch außer den Betroffenen selbst scheint der tiefe Fall in die Bedeutungslosigkeit niemanden groß zu sorgen. Dabei stirbt im wichtigsten EU-Land gerade der liberale Geist. Stellvertretend für die gesamte Union? Die Folgen sind weitreichender als der befürchtete Rechtsruck.
Negativmeldungen sind in Deutschland so sehr an der Tagesordnung, dass sie mit apathischem Schulterzucken zur Kenntnis genommen werden. Dass der Exportweltmeister von ehedem heute Schlusslicht bei Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ist, wird nur von denen beklagt, die sich noch einen Sinn für Zahlen bewahrt haben.
Der kriselnde Volkswagenkonzern steht sinnbildlich für eine weit verbreitete Haltung nicht nur im deutschen Volk. Um die übertarifliche Versorgung der 120.000 Mitarbeiter im Inland so sichern, wollen SPD und Grüne mit neuen, vom Steuerzahler finanzierten Prämien den Absatz von E-Autos ankurbeln. Dass diese auch deshalb preislich nicht konkurrenzfähig sind, weil die IG Metall beim größten europäischen Autobauer einen Haustarif durchgesetzt hat, der mindestens zehn Prozent (ohne üppige Extras) über dem Flächentarifvertrag in der Elektro- und Metallindustrie liegt, wollen weder Gewerkschaft noch das SPD-regierte Niedersachsen als Miteigentümer wahrhaben. Die fortschreitende Deindustrialisierung wird schlicht ignoriert.
Der Exportweltmeister von ehedem: heute Schlusslicht bei Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit
Ob Autobauer, Chipfertigung, Batteriefabrik oder Luxus-Kreuzfahrtschiffe: immer soll „Vater Staat“ als Schutzpatron einspringen, um Arbeitsplätze zu retten oder überhaupt Anreize für Investitionen zu schaffen. Roland Koch, ehemals Ministerpräsident von Hessen, rechnet vor: Die Subventionen für Großkonzerne steigen von 21 im Jahr 2021 auf 48 Milliarden Euro in diesem Jahr. „Wer ohne Subventionen Gewinn macht, der ist im Zweifel einfach nicht clever genug,“ klagt der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung.
Nur die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen werden dem freien Markt überlassen. Ihr stilles Sterben rührt allenfalls eine kleine Öffentlichkeit, wenn der Bäcker um die Ecke schließt, weil die Energiekosten zu hoch sind und der Nachwuchs fehlt. Doch Negativmeldungen sind in Deutschland so sehr an der Tagesordnung, dass sie mit apathischem Schulterzucken zur Kenntnis genommen werden. Dass der Exportweltmeister von ehedem heute Schlusslicht bei Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ist, wird nur von denen beklagt, die sich noch einen Sinn für Zahlen bewahrt haben. Da aber die Steuereinnahmen weiter sprudeln und die Zahl der Arbeitslosen aus demographischen Gründen nur marginal steigt, werden die ökonomischen Hiobsbotschaften mit einer bedrückenden Gleichgültigkeit hingenommen. Da mögen noch so viele Warnleuchten grell rot blinken.
Neue antiliberale Stimmung und ideologische Simplifizierungen
Christian Lindner, der die FDP erst in die Zweistelligkeit und Regierungsverantwortung geführt und heute für deren Niedergang steht, gilt vielen als Kassandra, der das immer gleiche neoliberale Mantra abspult. Da ist kein liberaler Fankreis mehr, der den gelben Parteichef unterstützt. Die Jungen wandern von den Grünen direkt zur rechten AfD, die den starken Staat bei den Themen Migration und innere Sicherheit verspricht. Die Rentner sind neben den Beamten die letzte Stütze einer SPD im Niedergang, wie zuletzt die Landtagswahl in Brandenburg gezeigt hat.
Dass zwischen Ostsee und Sächsischer Schweiz kaum mehr ein Prozent der Wähler ihr Kreuz bei den Freien Demokraten macht, verwundert auch deshalb, weil sich die Ostdeutschen nach der DDR-Diktatur doch angeblich mehr Freiheit und weniger Bevormundung wünschen, wie die Meinungsforscher von Insa im April für das Buch der FDP-Abgeordneten Katja Adler („Rolle rückwärts DDR?“) erhoben haben. Auch der aktuelle Deutschland-Monitor attestiert den Bundesbürgern grundsätzlich einen hohe Freiheitsliebe. Dass die geforderten persönliche Freiheiten auch eine sichere ökonomische Basis und eigenverantwortlichen Leistungswillen brauchen, wird bei derlei Stimmungsabfragen allerdings nicht thematisiert.
Wie überhaupt ökonomische Themen mit ideologischer Simplifizierung behandelt werden: Der Täter ist immer der böse Boss oder finstere Manager. Die Verantwortung des auf Billig fokussierten Verbrauchers oder gar maßloser Gewerkschaften wie bei VW kommt dagegen kaum zu Sprache. Schon gar nicht bei ARD und ZDF, die statt substanziellem Wirtschaftsjournalismus lieber nach neuen Gerechtigkeitslücken fahnden. In den Schulen verhindern DGB-Gewerkschaften, dass den Jungen die Prinzipien der Marktwirtschaft nahegebracht werden. Es könnte sich ja schlimmer „Neoliberalismus“ in die Lehrpläne einschleichen.
So gedeiht eine antiliberale Stimmung in einem Land, das einst die Tugenden von Leistung und Eigenverantwortung hochgehalten hat und damit wohlhabend geworden ist. Wo einmal Ingenieursgeist für Wohlstand sorgte, herrscht heute die schon sprichwörtliche „German Angst“. Ob neue Formen der Kernkraft, Gentechnik, künstliche Intelligenz, die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid – alles Teufelszeug, das von bedeutenden Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird. Wer dann auch noch, wie die FDP, die Schuldenbremse verteidigt und darauf verweist, dass Deutschland kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem hat, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, dem Sozialstaat mit der „Abrissbirne“ auf den Leib rücken zu wollen.
Linker Populismus und liberale Doppelgesichtigkeit
Dreist definieren SPD und Grüne neue Schulden zu „Zukunftsinvestitionen“ um. Beim Thema Finanzen treten sie ihren eigenen Anspruch der Nachhaltigkeit mit Füßen. Dass die Schulden von heute die Steuern von morgen sind, ist zwar eine Binse. Doch daraus erwachsen keine Konsequenzen. Linker Populismus wird in Deutschland noch immer goutiert. Selbst dann, wenn dabei der Kitt zerbröselt, der die demokratische Gesellschaft tatsächlich zusammen hält: Das Wohlstands- und Fürsorgeversprechen des Staates, das eine sichere ökonomische Basis braucht.
Dass diese Erkenntnis nicht Wasser auf die freiheitlichen Mühlen ist, liegt auch an der Doppelgesichtigkeit der Liberalen selbst. Der ständige Vorwurf, „Partei der Besserverdienenden“ zu sein (was in Wahrheit die Grünen sind), hat in der FDP die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Gefälligkeit zu einem mächtigen Faktor werden lassen. Ob Bürgergeld, dessen Kosten 2025 auf über 46 Milliarden Euro hochzuschießen drohen, oder ein Heizungsgesetz, das Millionen Haushalte um ihre Wärmequelle beraubt hätte – stets hat die Lindner-FDP am Ende eben doch ihren Segen gegeben.
Justizminister Marco Buschmann, ein enger Lindner-Vertrauter, hat die grünen Minderheitenthemen wie Cannabis-Freigabe, freie Geschlechterwahl und großzügige Passvergabe nicht nur in Gesetzesform gegossen, sondern die grünen Herzensanliegen auch noch mit Begeisterung verfochten. Der linksliberale Flügel der FDP will immer noch nicht wahrhaben, dass ihre Agenda glaubwürdiger von den Grünen verfochten wird – und bei der eigenen Stammklientel auf starke Ablehnung stößt.
Geschwundenes Vertrauen in Reformversprechen
So wurde die Berliner Ampel-Regierung zu einem rot-grünen Bündnis mit FDP-Duldung, wie es der Publizist Gabor Steingart auf den Punkt bringt. Und während Lindner kleine Steuererleichterungen in einem „Wachstumspaket“ erzwingt, macht Sozialminister Hubertus Heil (SPD) die kleinen Netto-Gewinne wieder zunichte, indem er die Beitragsbemessungsgrenzen willkürlich nach oben setzen lässt. Auch dies ein Schlag gegen die Leistungsträger, die von den Liberalen umworben werden. Erst spät widersetzt sich die FDP einem von Heil ebenfalls erdachten Rentenpaket, das vor allem die unter 50-Jährigen überproportional belastet, der SPD aber weitere Stimmen bei den Senioren bringen soll. Doch in der Summe kann Lindners Truppe allenfalls für sich in Anspruch nehmen, Schlimmeres verhindert zu haben.
Wo die (öko-soziale) Staatswirtschaft so kräftig gedüngt wird, mutet liberaler Geist wie Unkraut an. Wachstumschancen verkümmern in einem Gestrüpp aus bürokratischer Detailverliebtheit und umfassender Technikskepsis, sobald sie über Windräder und Solarplatten hinausgeht.
Eine liberale Handschrift findet man in der Ampel-Agenda nur mit der Lupe. Sie wird von weiten Teilen der Wählerschaft auch nicht gewünscht. Nach den künftigen Koalitionspräferenzen gefragt, ermitteln die Meinungsforscher von Allensbach aktuell einen klaren Vorrang für Schwarz-Rot. Also ausgerechnet für jenes Bündnis, das unter einer CDU-Kanzlerin Merkel dafür verantwortlich war, dass sich die Sozialabgaben vervielfacht haben und die Infrastruktur verkümmert ist. Selbst die Streitkräfte wurden unter konservativer Ägide geschrumpft – allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz.
Auch das erklärt, warum die CDU nur mäßig vom Ansehenstief der rot-grün-gelben „Fortschrittskoalition“ profitiert. Es fehlt das Vertrauen, dass die Union ihre mutigen Reformversprechen in Regierungsverantwortung auch Taten folgen lässt. Zumal, wenn sie mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) paktiert, das in Wahrheit eine Linkspartei 2.0 ist: Sozialismus, jetzt eben mit nationaler statt internationalistischer Grundierung. Liberalität verkörpert diese neue Partei jedenfalls nicht. Ihr stehen Autokraten wie Putin näher als marktliberale Amerikaner.
Glaubwürdigkeitslücke und Angst vor möglichen Opfern
Aber nicht einmal aus dem Misstrauen gegenüber der Union gewinnt die FDP Kapital. Denn sie trägt nicht nur schwer an der selbst verschuldeten Glaubwürdigkeitslücke. Ihr schlägt auch die Angst entgegen, für mehr Liberalismus tatsächlich persönliche Opfer bringen zu müssen: Statt neuer Transferzahlungen mehr Eigenverantwortung, statt mehr Life-Balance mehr Leistungsbereitschaft und weniger Freizeit. Kommt diese Kehrseite des Liberalismus zum Tagen, erstirbt schnell der letzte Funke an liberaler Gesinnung. In ganz Europa. Da machen auch die Unternehmensverbände keine Ausnahme. Auf Kongressen fordern sie zwar tapfer mehr Markt, doch im Alltag kuscheln sie dann doch lieber mit denen, die im Zweifel Subventionen und Zuwendungsbescheide vergeben können.
Wo die (öko-soziale) Staatswirtschaft so kräftig gedüngt wird, mutet liberaler Geist wie Unkraut an. Wachstumschancen verkümmern in einem Gestrüpp aus bürokratischer Detailverliebtheit und umfassender Technikskepsis, sobald sie über Windräder und Solarplatten hinausgeht. Stattdessen wuchert der paternalistische Staat, der den individuellen Leistungswillen austrocknet. Am Ende steht ein verdorrtes Land.
Was wäre zu tun?
Populisten sind jene, die diese Zusammenhänge leugnen und weiterhin so tun, als verfüge der Staat über unendliche Geldquellen. Ehrliche Politik ist hingegen marktliberal. Sie versieht jede Entscheidung mit einem Preisschild. Das wäre der erste Schritt, um dem Verschuldungssog zu entkommen. Es fördert die Einsicht, dass nichts umsonst ist und auch keine Staatsgesellschaft ewig über ihre Verhältnisse leben kann.
Eine liberal gesinnte Bürgerschaft ist nicht von Egoismus, sondern von Gemeinsinn getragen. Und zur Abwechslung auch mal bereit zum Weniger. Bei Staatsquoten von dreißig (Deutschland) bis sechzig Prozent (Frankreich) kann niemand ernsthaft behaupten, der Weg zur soliden Finanzpolitik führe geradewegs in die Verarmung. Das Gegenteil ist der Fall: Weniger Staat braucht weniger Kontroll- und Umverteilungsbürokratie und schafft mehr Freiheit. Der Preis ist etwas mehr Eigenverantwortung.