Die Europäische Zentralbank (EZB) nimmt für sich in Anspruch, die Inflation zu bekämpfen. Wenn man Milton Friedmans berühmtes Diktum, dass Inflation immer und überall ein monetäres Phänomen ist, als eine Monokausalitätsthese missversteht – ein Irrtum, vor dem Friedman gewarnt hat – könnte man versucht sein, ihr zu glauben: M3, die Geldmenge im weiteren Sinne, ist in der Eurozone seit August 2022 rückläufig und insgesamt um mehr als 1 % geschrumpft.
Nicht nur aus der Sicht der hochverschuldeten Mitgliedsstaaten, sondern auch aus der der deutschen Linken ist die Eurozone derzeit ein wunderbares Arrangement: Eine Inflationsrate oberhalb von 5 % und ein großer Staatsschuldenbestand aus der Zeit vor 2022, für den fast keine Zinsen anfallen – das ist fast zu schön, um wahr zu sein.
Aussagekräftiger als die Veränderungsrate der nominalen Geldmenge ist die der sog. Realkasse, der in der Geldmenge steckenden Kaufkraft. Man ermittelt sie, indem man die Veränderungsrate der Geldmenge mit der Preissteigerungsrate vergleicht. Die Realkasse schrumpft in der Eurozone seit dem ersten Quartal des Jahres 2022. Damals „überholte“ die Preissteigerungsrate die Wachstumsrate der nominalen Geldmenge. Zuvor, nämlich zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem ersten von 2022, war die Realkasse um insgesamt ca. 20 % angewachsen. Seit dem ersten Quartal 2022 ist sie insgesamt um weniger als 10 % geschrumpft. Der Weg zu einer vollständigen Korrektur der superexpansiven Geldpolitik der Jahre 2020 und 2021 ist mithin noch weit.
Geldnachfrage und Inflationssteuer
Um die Behauptung zu prüfen, die bloße Richtungsumkehr müsse schon als Inflationsbekämpfungsversuch gewertet werden, bedarf es zusätzlich einer Betrachtung der Geldhaltungsbereitschaft der Bevölkerung, der sog. Geldnachfrage. Die lässt bei einem Anstieg der Inflation nach. Deswegen ist es normal, dass die Realkasse sich bei Inflation zurückbildet. Die Geldnachfrage ist bei zunehmender Inflation erstens deswegen rückläufig, weil Preissteigerungen einer Steuer auf die Geldhaltung vergleichbar sind. Bis 2020 handelte es sich um eine Steuer in Höhe von ca. 2 %, derzeit sind es ca. 6 %. Für die Inflationsteuer gilt wie für alle Steuern, dass der Wille, der Steuer auszuweichen und die eigene Belastung zu senken, nicht proportional zum Steuersatz zunimmt, sondern überproportional. Eine „kleine“ Steuer wird oft nahezu ignoriert, aber 6 % sind nicht klein.
Zweitens ist die Geldnachfrage rückläufig, weil mit der Erhöhung der Nominalzinsen Möglichkeiten entstanden sind, sich der Inflationsteuer zumindest teilweise zu entziehen, indem man statt Geld verzinsliche Papiere hält. Die konzertierten Bemühungen der EZB und anderer großer Zentralbanken, die langfristigen Zinsen zu drücken, hatten diesen Ausweg bis 2022 versperrt, sofern man nicht bereit war, ein erhebliches Ausfallrisiko einzugehen. Heute kann man mit Wertpapieren oder Aktien nominal 5 % und mehr verdienen, ohne sich auf sonderlich große Risiken einzulassen. Das ist zwar kein vollständiger Inflationsausgleich, aber kommt dem immerhin nahe.
Keine restriktive Geldpolitik in der Eurozone
Die Geldpolitik der EZB könnte nur dann als restriktiv gelten, wenn die Realkasse stärker schrumpfte als die Geldhaltungsbereitschaft. Letztere ist nicht messbar, aber es liegt auf der Hand (und ist volkswirtschaftliches Lehrbuchwissen), dass sie heute erheblich geringer ist als 2020. Deswegen ist das Ungleichgewicht zwischen Geldangebot und Geldnachfrage heute vermutlich sogar größer als 2021. Die monetäre Analyse zeigt mithin, dass von einer restriktiven Geldpolitik in der Eurozone nicht die Rede sein kann. Sie führt zu ganz anderen Ergebnissen als die von der EZB bevorzugte Betrachtung der Nominalzinsen. Diese stellt auf eine für die Realwirtschaft normalerweise eher unbedeutende Variable ab; für die Realwirtschaft kommt es eher auf den (erwarteten) Realzins an, also auf den Nominalzins minus erwartete Inflation. Dieser ist in letzter Zeit vermutlich sogar gesunken, weil sich die Inflationserwartungen verfestigt haben.
Allerdings gibt es in der Eurozone einige Regionen, in denen auch der Nominalzins eine bedeutende Rolle spielt. Dies ist der Fall, wenn, wie etwa in Spanien, bei Immobilienfinanzierungen längerfristige Zinsbindungen unüblich sind, so dass höhere Nominalzinsen alsbald auf die oft hochverschuldeten Eigenheimerwerber durchschlagen und sie in Bedrängnis bringen. Ferner betrifft dies Regionen, in denen ertragsschwache Zombieunternehmen, die ihre Kapitalkosten nicht erwirtschaften, einen großen Teil der Einwohner beschäftigen. Dass es so etwas in der Eurozone gibt, ist einer von vielen Gründen, warum sie nicht funktionieren kann.
Seit der Eurokrise der frühen 2010er Jahre ist es zum primären Anliegen der EZB geworden, ihren hochverschuldeten Mitgliedsländern eine zinsgünstige Refinanzierung ihrer Staatsschuld zu ermöglichen. Zum primären, nicht zum einzigen: Dass sie eine Beschleunigung der trabenden Inflation zur galoppierenden vermeiden möchte, können wir der EZB durchaus zubilligen. Zinsgünstig bedeutet, dass der Nominalzins auf die Staatsschuld unterhalb der Inflationsrate liegen soll und damit ein Teil der Schulden gewissermaßen von der Inflation bezahlt wird. Hätte sich die EZB nicht zu dieser Umpolung herbeigefunden, so wäre die Eurozone zumindest in ihrer hergebrachten Form schon längst Geschichte.
Inflationssteuer – die zurzeit wichtigste Einnahmequelle des Staates
Es mag sein, dass die deutsche und die österreichische Zentralbank damit nicht glücklich sind, aber ohne Rückendeckung durch die deutsche Bundesregierung stehen sie in der EZB-Führung auf verlorenen Posten. Diese Rückendeckung wird nicht gewährt, weil man bei der SPD und den Grünen sehr wohl versteht, dass ihre politischen Projekte nicht mit Geldwertstabilität vereinbar sind. Sie sind auf eine inflationistische Entwertung der deutschen Staatsschuld angewiesen, wenn sie zumindest einen Teil ihrer kostspieligen Projekte realisieren wollen.
Nicht nur aus der Sicht der hochverschuldeten Mitgliedsstaaten, sondern auch aus der der deutschen Linken ist die Eurozone derzeit ein wunderbares Arrangement: Eine Inflationsrate oberhalb von 5 % und ein großer Staatsschuldenbestand aus der Zeit vor 2022, für den fast keine Zinsen anfallen – das ist fast zu schön, um wahr zu sein. In realwirtschaftlicher Betrachtung entschuldeten sich die deutschen öffentlichen Haushalte auf diese Weise allein im Jahre 2022 um ca. 190 Mrd. Euro. Die Inflationsteuer ist derzeit eine der wichtigsten Einnahmequellen des Staates.
Belastet wird die Bevölkerung, aber die sieht das nur zum Teil, weil der größte Teil der Staatsschuld nicht unmittelbar vom Bürger gehalten wird, sondern Versicherungen, Banken u. ä. m. dazwischengeschaltet sind. Damit hat man Sündenböcke. Beim Bürger kommt die inflationistische Entwertung der Staatsschuld beispielsweise in Gestalt enttäuschender Renditen auf Lebens- sowie betriebliche und private Rentenversicherungen an, ebenso als bestenfalls geringe Zinsen auf Bankeinlagen. Würden die Renditen auf private Ersparnisse auf ein Niveau ansteigen, das zumindest die inflationistische Entwertung ausgleicht, so würde der Finanzsektor rasch sein Eigenkapital verlieren und zusammenbrechen.
Die EZB hat sich seit 2012 als eine Einrichtung „bewährt“, die enorm viel zur Finanzierung der öffentlichen Ausgaben beizutragen vermag und damit die Hypertrophie des öffentlichen Sektors gefördert. Damit dürfte allerdings in wenigen Jahren Schluss sein. Das dicke Ende kommt, sobald die Altschulden zu positiven Realzinsen refinanziert werden müssen. Das wird sich kaum vermeiden lassen. In den USA liegen die langfristigen Nominalzinsen bereits oberhalb der Inflationsrate. Sobald ein Großteil der Staatsschulden zu positiven Realzinsen refinanziert worden ist, werden die Interessensgegensätze in der Währungsunion erneut aufbrechen und das kann zu ihrer Sprengung führen. In der mittleren und langen Frist treibt die Inflation die Realzinsen auf die Staatsschuld nach oben, weil Inflationsraten unvorhersehbar zu schwanken pflegen und damit realwirtschaftlich eine Risikoerhöhung bewirken. Dafür wird der Käufer derartiger Papiere eine Kompensation erwarten. Anders verhielte es sich nur, wenn der warme Regen der Inflationssteuer genutzt würde, um die Staatsschuldenquoten auf ein dauerhaft tragbares Niveau zurückzuführen. Danach sieht es aber nicht aus.
Wechselkurse: Die fehlenden Warnsignale
Die derzeitige Harmonie in der Eurozone und die kritiklose Haltung der deutschen Bundesregierung gegenüber der EZB verdankt sich einem Defekt der Zone, der bislang zu wenig thematisiert worden ist. Wechselkurse haben nicht nur ökonomische, sondern auch politische Funktionen. Sie dienen als ein Warnsignal, das aufleuchtet, wenn die Politik die Wirtschaft ihres Landes überfordert und ihre Leistungskraft untergräbt. Derartige Warnsignale sind wichtig, weil die Politik oft illusionären Projekten aufsitzt, die die Wirtschaft ruinieren können, wenn sie nicht rechtzeitig abgebrochen oder zumindest zurechtgestutzt werden.
Ein aktuelles Beispiel ist die deutsche Klimapolitik. Die Währungsunion stellt das Warnsignal ab, indem sie den Wechselkurs abschafft. Genau darum ging es Frankreich, als es ab 1970 eine europäische Währungsunion forderte. 1968 hatten sich die französischen Gewerkschaften mit den linksradikalen Studenten verbündet. Um dieses Bündnis zu sprengen, hatte die französische politische Führung starke Lohnerhöhungen verfügt, die die französische Wirtschaft überlasteten. Die Folge waren zwei Abwertungen des Franc. In der Bundesrepublik hatten sich die Gewerkschaften verantwortungsbewusster verhalten und war die Politik eher dazu bereit, die Tarifautonomie zu respektieren. Die Abwertung des Franc verminderte den Schaden für die französische Wirtschaft, aber sie zeigte der französischen Politik auch ihre eigene Dysfunktionalität. Daraufhin entstand der Wunsch, die unangenehme Botschaft zu unterdrücken.
Fast noch gravierender ist der Gegenfall, die Aufwertung, die unterbleibt, weil die Währungsunion diese Option eliminiert hat. Gäbe es noch die D-Mark, hätte sie sich zwischen 2010 bis 2020 aufgewertet. In den letzten ein bis zwei Jahren wäre sie wieder gefallen. Die Aufwertung hätte einen Teil der temporären Vorteile ausgeglichen, den die deutsche Wirtschaft damals insbesondere aus der Blüte des. Chinageschäfts zog. Eigentlich war absehbar, dass dies nicht von Dauer sein konnte. Dass die eigentlich fällige Aufwertung verhindert wurde, sorgte in Deutschland für einen Beschäftigungsboom, stark zunehmende Staatseinnahmen und die Illusion eines Nationalvermögensaufbaus durch Leistungsbilanzüberschüsse.
In Wahrheit wurden vorwiegend geringwertige Target-Forderungen gegen die EZB erworben, die nicht eingetrieben werden können und einer raschen inflationistischen Entwertung unterliegen. Der Anschein der Prosperität erhöhte die Anfälligkeit der deutschen Politik für Illusionen. Wie gefährlich das ist, können wir derzeit gut beobachten. Und da das Warnsignal des Wechselkurses fehlt, ist zu befürchten, dass Deutschland sein Realitätsverhältnis erst dann wieder verbessern wird, wenn die Malaise allenthalben ins Auge springen und die Arbeitsmarktlage sich erheblich verschlechtert haben wird.
In gewisser Hinsicht wiederholt sich hier die bundesdeutsche Wirtschaftsgeschichte. Das Festkurssystem der 1960er Jahre ließ gelegentliche Aufwertungen zu, aber die damaligen Bundesregierungen (unter den Kanzlern Kiesinger und Brandt) verschlossen sich der Einsicht, dass eine Aufwertung der Deutschen Mark überfällig war. Dies führte zu Überbeschäftigung und einem Illusionsschub, an dessen Folgeschäden (wie der sechswöchigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und der dadurch ermöglichten Leistungsausweitung in der gesetzlichen Krankenversicherung) Deutschland noch heute zu tragen hat. Allerdings war die Lage damals weniger dramatisch als heute, weil der damalige Wirtschaftsboom zum Teil auf einer nachhaltigen Erhöhung deutscher wirtschaftlicher Leistungskraft beruhte. Eine Ursache dafür war ein erheblicher Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. In den 2010er Jahren handelte es sich hingegen fast nur um temporär verfügbare Vorteile.