Ein wuchernder Sozialstaat bringt nicht Sicherheit, sondern Spaltung

Nachhaltigkeit ist der überwölbende Anspruch der deutschen Politik. Die Erde, die man von den Kindern nur geliehen habe, müsse unbedingt geschützt werden. Doch ausgerechnet die Parteien, die dieses Postulat am lautesten vor sich hertragen, ignorieren es beim Thema Finanzen mit hartnäckiger Inbrunst. Jetzt, da das deutsche Verfassungsgericht dem Verschleierungssystem der Schattenhaushalte, die dreist „Sondervermögen“ genannt werden, einen Riegel vorgeschoben hat, ist das Wehklagen groß. Wer Sparmaßnahmen auch nur andenkt, legt angeblich die „Axt an den Sozialstaat“ und gefährdet nicht weniger als die demokratische Verfassung.

Deutschland, das sich innerhalb der EU lange als Schulmeister in Sachen Stabilität aufgespielt hat, rutscht zunehmend ab in die Schulden-Liga. Obwohl ein klare Mehrheit der Bundesbürger diese Entwicklung für verwerflich hält, wird die öffentliche Debatte von gegenteiligen Stimmen dominiert.

Dabei kann von Sparen im eigentlichen Sinne keine Rede sein. Wenn überhaupt, dann geht es um eine zaghafte Reduzierung des Wachstums der Ausgaben. Norwegen ist die einzige westliche Demokratie, die von den üppigen Öl- und Gaseinnahmen bislang tatsächlich 1400 Milliarden Euro oder 260.000 Euro je Einwohner in einem Staatsfonds für karge Zeiten zurückgelegt hat. Alle anderen betreiben finanziellen Raubbau. Je südlicher, desto unbekümmerter.

Deutschland rutscht in die Schulden-Liga

Deutschland, das sich innerhalb der EU lange als Schulmeister in Sachen Stabilität aufgespielt hat, rutscht zunehmend ab in die Schulden-Liga. Obwohl ein klare Mehrheit der Bundesbürger diese Entwicklung für verwerflich hält, wird die öffentliche Debatte von gegenteiligen Stimmen dominiert. Die Schuldenbremse wird von den Regierungsparteien SPD und Grünen zum „Wohlstandsrisiko“ erklärt. Wer diese Errungenschaft verteidigt, wie FDP-Finanzminister Lindner, wird von Medien wie dem „Stern“ als Sprengmeister diffamiert, der das schöne deutsche Gemeinwesen zerstört. Attestiert wird diese Sicht von Ökonomen, Verbänden und Lobbyisten, die ohnehin mit den Härten der Marktwirtschaft hadern.

Kurzfristig fehlten der Ampel-Regierung nach dem Karlsruher Urteil im Etat für 2024 zunächst lediglich 17 Milliarden Euro, also gerade mal vier Prozent von 475 Milliarden. Gemessen an den Gesamteinnahmen sind es sogar nur zwei Prozent der Steuern, die Bund, Länder und Kommunen einnehmen. Doch von diesen gesamten 913 Milliarden Euro ist so wenig die Rede wie von der erwarteten Billion für 2025. Denn trotz Rezession steigen die Steuereinnahmen auf immer neue Rekordhöhen.

In der öffentlichen Debatte wird hingegen die Apokalypsen-Rhetorik um den drohenden sozialen Niedergang erweitert, der Not und Elend über Deutschland bringen werde. So wie einst zaghafte Kürzungen von Reichskanzler Brüning in der Weimarer Republik den Nazis den Weg zur Machtergreifung geebnet hätten, so trieben nun die Nicht-Erhöhung von Bürgergeld & Co. den Rechten die frustrierten Wähler zu. Also apportiert Kanzler Olaf Scholz vor den Funktionären seiner SPD brav, dass nur wachsende Sozialausgaben den Fürsorgestaat ermögliche – und nicht umgekehrt. Das Ausgabenproblem wird zum Einnahmenproblem umgedeutet und nun mit noch höheren Energiesteuern gelöst, die vor allem die arbeitende Klasse treffen.

Schwindender Sinn für ökonomische Zusammenhänge

Scholz enttäuscht damit alle, die in ihm einen pragmatischen Sozialdemokraten gesehen haben, der noch einen Sinn für ökonomische Zusammenhänge hat und im Zweifel den Liberalen zuneigt. Stattdessen kuscht der Hamburger vor einer noch weiter nach links gerückten SPD-Nomenklatura, die sich zum Gralshüter des wuchernden Sozialstaates erklärt. Das vielschichtige System an Fürsorgeleistungen bürdet den Steuer- und Beitragszahlern nicht nur die  höchste Abgabenlast auf, es verzehrt mit über eine Billion Euro auch mehr als ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung Deutschlands. Vor allem deshalb, weil die (mit)regierenden  Sozialdemokraten seit einem Vierteljahrhundert den Kreis der Bedürftigen ständig ausweiten. Getreu dem sozialistischen Motto: Immer vor, nie zurück! Mittlerweile ist die Magna Carte des deutschen Wohlfahrtsstaates in 14 Sozialgesetzbüchern mit 5784 Seiten festgeschrieben. Allein für Familien gibt es über 150 verschiedene Leistungen, was eine wuchernde Sozialbürokratie bestens nährt.

Gerhard Schröder war der letzte namhafte Sozialdemokrat, der mit seiner Agenda 2010 notwendige Kürzungen gewagt und damit die Brücke von Ökonomie und Ökologie geschlagen hat: Denn gewissermaßen gleicht der Sozialstaat einem Obstgarten. Auch der braucht einen regelmäßigen Rückschnitt, um ertragreich zu bleiben. Sonst drohen Wildwuchs und Astbruch.

Dass Schröders Reformen das Land nach 2000 vom Makel des „kranken Mannes“ befreit haben, ist mittlerweile unbestritten. Nur die SPD klammert sich an das Trauma, dass ihr die Hartz-IV-Gesetze 2005 den Wahlsieg gekostet hätten. Seither wendet sie sich von Schröders „neuer Mitte“ ab und vornehmlich den Leistungsbeziehern zu. Der Betriebsrat der Nation ist zum Sozialamt der Nation geschrumpft. Und im Gefolge die Wählerschaft auf mittlerweile kärgliche 15 Prozent. Anstatt den Irrweg zu erkennen, verfahren die Genossen nach dem Motto: Wenn die Medizin (sozialen Wohltaten) nicht wirkt, erhöhen wir eben die Dosis.

Schädliche Umverteilungsideologie

So macht sich die SPD zur Gefangenen einer Umverteilungsideologie, die einfach nicht wahrhaben will, dass immer neue und noch teurere Sozialprojekte selbst bei der klassischen Klientel mehr Schaden als Nutzen anrichten. Anders als bei den Anhängern der Grünen wohnt traditionellen Sozialdemokraten das Aufsteiger-Gen inne. Es sind Fachkräfte, für die das Eigenheim, der günstige Diesel und die Fernreise erstrebenswerte Ziele sind. Leistung muss sich für sie lohnen. Doch das Bürgergeld, dessen Erhöhung die SPD seit seiner Einführung 2021 um stattliche 25 Prozent erzwungen hat, bewirkt genau das Gegenteil.

Altenpfleger, Kellner oder das Personal an der Kasse empfindet es als respektlos, wenn ein Paar mit zwei Kindern vom Staat Leistungen über insgesamt 3500 Euro netto beanspruchen kann, ohne zu arbeiten. Von den 5,3 Millionen Bürgergeld-Beziehern sind 2,6 Millionen keine deutschen Staatsbürger, weitere 707.770 sind ukrainische Flüchtlinge. Sie alle haben also nie einen Euro an Steuern oder Sozialabgaben bezahlt – und werden doch mit langjährigen Arbeitnehmern gleichgestellt. Auch so stellt sich der Sozialstaat selbst ein Bein, indem er jedem, der ins Land kommt, hohe Ansprüche gewährt.

Gleichwohl bestreiten SPD und Grüne einen Zusammenhang zwischen wachsenden Sozialausgaben und ungesteuerter Migration. Großdemonstrationen „gegen rechts“ sollen jede Debatte darüber im Keim ersticken. Die „wachsende Spaltung“, die sie im Land beklagen, befeuern sie damit selbst. Auch Obdachlose schimpfen nicht auf die Politik, sondern darüber, dass organisierte Bettler aus Bulgarien die Notunterkünfte besetzen und die Lebensmittel-Tafeln leerräumen. Doch der Europäische Gerichtshof untersagt jegliche nationale Begrenzung. Und die obersten deutschen Gerichte sind gefangen in ihrer eigenen Rechtsprechung, die auf Ausweitung des Sozialstaates angelegt ist und das „menschenwürdige Existenzminimum“ hoch ansetzt – egal ob mit oder ohne deutschen Pass.

Entwertung der Arbeit – „Recht auf Faulheit“

Darauf berufen sich dann auch konservative Sozialpolitiker, deren Herz im Zweifel links schlägt. In CDU und CSU sind die „Herz-Jesu-Marxisten“ nach wie vor besonders einflussreich. Das zwingt Parteichef Friedrich Merz, von auch nur angedachten Sparmaßnahmen im Sozialen wieder Abstand zu nehmen und freundlich Richtung Grün zu blinken. Nicht einmal auf die Vertreter der Wirtschaft können sich die Sozialreformer in Deutschland verlassen. Denn auch sie haben sich in das System der Dauersubventionierung samt Förderbescheiden eingerichtet. Von der Katholischen Soziallehre hört man in der Kirche so wenig wie von Eigenverantwortung und Subsidiarität, die unter den EU-Kommissionspräsidenten Delors noch als Grundregel galten. Heute dominiert das Prinzip Umverteilung, die vor allem sozialen Ansprüchen genügen muss.

So wird nicht nur der notwendige Rückschnitt verweigert, um die Überdehnung des Sozialstaates zu verhindern. Es fehlt auch an der notwendigen Zufuhr an Nährstoffen von unten. Das „Minus-Wachstum“, wie Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die Rezession in Deutschland verharmlost, ist Ausdruck einer schleichenden De-Industrialisierung. Höchste Energiepreise, wuchernde Bürokratie, stetig steigende Abgaben, wachsende Lohnkosten und der Mangel an Fachkräften bilden ein toxisches Gemisch.

Obwohl von den 5,3 Millionen Beziehern von Bürgergeld  3,9 Millionen erwerbsfähig sind und dies auch für einen erheblichen Teil der über einen Million ukrainischer Flüchtlinge zutrifft, sind auch einfache Jobs kaum zu besetzen. Denn die SPD hat nicht nur hohe Zahlungen fürs Nichtstun durchgesetzt, sondern auch Sanktionen bei Job-Verweigerung weitgehend abgeschafft. Entsprechend verwaist sind die Jobcenter, weil ihre Klientel schlicht nicht zu den Vermittlungsgesprächen erscheint. So wird der alte Traum der Jusos vom „Recht auf Faulheit“ samt bedingungslosem Grundeinkommen schleichend Realität. Diese Entwertung von Arbeit stößt sogar 62 Prozent der SPD-Anhänger bitter auf, wie die Demoskopen von Allensbach eben als Ursache für zunehmende Staats- und Politikverdrossenheit ermittelt haben. Je sozial schwächer, desto größer der demotivierende Frust.

Bewusste Zerstörung des liberalen Kapitalismus?

Die Wirtschaft reagiert auf ihre Weise. Jedes sechste Unternehmen des industriellen Mittelstandes ist gerade dabei, Arbeitsplätze abzubauen oder Teile der Produktion ins Ausland zu verlegen. Ein weiteres Drittel trägt sich mit Abwanderungsgedanken, hat eine Umfrage des Industrieverbandes BDI ergeben.

Wer sich einen Sinn für Zahlen bewahrt hat, kann diese Zusammenhänge kaum leugnen. Wer es dennoch tut, hat anderes im Sinn: Die bewusste Zerstörung des westlich liberal-kapitalistischen Systems mit dem Ziel, auf den Trümmern endlich den Sozialismus im grünen Gewandt aufzubauen. Das ist auch der Kern der woken Theorie. Die Ergebnisse sind im real existierenden Sozialismus zu besichtigen: Armut für alle, Freiheit für wenige und null Rücksicht auf die Umwelt. Doch mit dem wirtschaftlichen Niedergang ist es wie mit der Zuckerkrankheit Diabetes: Man spürt sie erst, wenn es zu spät ist und Amputationen unumgänglich werden.

 

Eine etwas kürzere Version dieses Artikels unseres Autors Wolfgang Bok ist in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen (Internationale Ausgabe vom 15. 2. 2024, S. 13), online auf nzz.ch.

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