Der Historiker Heinrich August Winkler hat den heutigen Zustand des Westens auf den folgenden Punkt gebracht: „Der transatlantische Westen der Gegenwart ist zutiefst gespalten, die normative Erosion der Europäischen Union weit vorangeschritten. Als „Wertegemeinschaft“ können sich in ihrem derzeitigen Zustand weder das Atlantische Bündnis noch der Staatenverbund der EU bezeichnen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, sie verfielen in hohle Phraseologie.“[1] Winkler diagnostiziert eine Gespaltenheit des Westens aufgrund einer „normativen Erosion“, also einer Erosion jenes Wertefundamentes, aus welchem die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Ordnung in Nordamerika und Europa entstanden ist.
Der Westen verblasst als Vorbild
Die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Ordnung des Westens war über einen sehr langen Zeitraum derart erfolgreich, dass sie weltweit als Vorbild für gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen herangezogen wurde. Über alle kulturellen Unterschiede hinweg hatte es über Jahrzehnte den Anschein, dass man sowohl im Westen als auch im Osten „westlich“ sein wollte. Und mit Osten ist hier nicht nur Osteuropa oder Russland gemeint, sondern auch Asien.
Antiwestliche Gegenbewegungen und massive Kritik am westlichen Way-of-Life gab es zwar immer, konnten die dominierende Vorbild- und Zielfunktion der westlichen Werte aber lange Zeit nicht ernsthaft verdrängen oder gar durch andere Wertvorstellungen global ersetzen. Ohne diese weltweit dominierende Vorbild- und Zielfunktion der westlichen Werte hätte sich zudem die internationale Finanzwirtschaft nur unzureichend entwickeln können.
Selbstverschuldete gesellschaftliche Polarisierung und Erosion der Freiheit
Heute scheinen wir es jedoch mit einer „Westlessness“[2] in West und Ost zu tun zu haben. Der Westen leidet unter politischer und gesellschaftlicher Polarisierung aufgrund von selbstverschuldeter Problemverschleppungen, weshalb in weiten Teilen der westlichen Gesellschaften nicht erkannt wird, dass die drei Säulen der westlichen Gesellschaftsordnung – die intellektuelle Freiheit, die politische Freiheit und die wirtschaftliche Freiheit –[3] mehr und mehr zu erodieren drohen und damit das gesamte Erfolgsmodell des Westens.
Die Bereinigung ökonomischer Probleme wird gezielt verschleppt. Wachstums- und Investitionsschwäche sind die Folge, was insbesondere im Vergleich zur Wachstumsdynamik in China höchst problematisch ist.
Diese Selbstvergessenheit scheint schon derart weit vorangeschritten zu sein, dass vielfach nicht einmal mehr der chinesischen Staatspropaganda entgegengetreten wird, welche behauptet, dass wirtschaftlicher Wohlstand, wie man ihn bisher nur im Westen gesehen hat, dauerhaft auch ohne politische und gesellschaftliche Freiheit möglich sei. Dass Chinas Staatspropaganda bewusst ausblendet, dass Chinas wirtschaftlicher Aufstieg seit 1979 maßgeblich auf den Früchten der intellektuellen, politischen und wirtschaftlichen Freiheit des Westens beruht, die China aufgrund seiner Vorteile der Rückständigkeit günstig heben konnte, weshalb China der größte Gewinner der vom westlichen Kapitalismus hervorgerufenen Globalisierung ist, wird vollkommen ignoriert.
Damit wird jedoch auch ignoriert, dass bei einer „Westlessness“ in West und Ost der Osten und vornehmlich China politisch und ökonomisch dem Westen davonlaufen dürfte. Autoritäre Herrschaft kann China besser als ein Westen, der seine eigenen Erfolgsfaktoren der intellektuellen, politischen und ökonomischen Freiheit erodieren lässt. Ob jedoch ein innen- und außenpolitisch immer totalitärer werdendes China[4] einem Westen davonlaufen könnte, welcher die Erosion seiner drei grundlegenden Erfolgsfaktoren aufhält und die Kraft für eine Renaissance der Freiheit entwickelt, ist zumindest fraglich.
Politische und ökonomische Problemverschleppungen
Einstweilen ist eine Renaissance der Freiheit im Westen allerdings nicht zu erkennen. Dem neuen US-Präsidenten Joe Biden scheinen zwar erste zaghafte Erfolge bei der Bildung einer transatlantischen und transpazifischen Koalition gegen Chinas Hegemonialstreben zu gelingen, in den westlichen Staaten wird jedoch keine Politik verfolgt, mit der die politischen und ökonomischen Problemverschleppungen der letzten Jahre beendet werden könnten.
Die Rekordschulden der USA und der EU,[5] die durch die Null- und Negativzinspolitik der Zentralbanken und ihren korrespondierenden Anleihekaufprogrammen überhaupt erst ermöglicht werden,[6] fördern einen Prozess der Akkumulation von unsichtbar geschminkten Risiken mit der Folge von Kapitalaufzehrung und Zombifizierung immer größerer Bereiche einer Volkswirtschaft.[7] Die Bereinigung ökonomischer Probleme wird gezielt verschleppt. Wachstums- und Investitionsschwäche sind die Folge, was insbesondere im Vergleich zur Wachstumsdynamik in China höchst problematisch ist.
Die Folgen dieser Zombifizierung durch Geldpolitik[8] reichen mittlerweile so weit, dass die Finanzmärkte ihre kritische Bewertungsfunktion von Risiken aufgegeben zu haben scheinen und die unkonventionellen Maßnahmen der Zentralbanken und die Null- und Negativzinspolitik der Zentralpolitik regelmäßig positiv bewerten. Die Risiken sind dadurch aber nicht weg, sondern akkumulieren sich unsichtbar geschminkt immer weiter. Der internationale Finanzkapitalismus zombifiziert sich durch diese positive Bewertung der geldpolitisch induzierten Problemverschleppungen zunehmend selbst, weil er sich seiner wichtigsten Aufgabe entledigt, durch Bewertungen anzuzeigen, was ökonomisch tragfähig und sinnvoll ist und was auf Sand gebaut ist.
Zunehmende Fragilität statt bereinigende Anpassungsrezession
Wenn die fortlaufenden und zunehmenden Reparaturarbeiten an der Sandburg unserer immer fragiler werdenden Geld- und Wirtschaftsordnung besser bewertet werden als eine bereinigende Anpassungsrezession, durch die neue Wachstums- und Innovationsdynamiken entstehen könnten, dann begibt sich der internationale Finanzkapitalismus in die Kerkerhaft staatlicher Planifikation und Zinsmanipulation.
Die Finanzwirtschaft beteiligt sich dadurch aktiv an der Erosion der Erfolgsfaktoren des Westens, und die Erfolgspotentiale gegenüber China werden immer kleiner. Dass es dann in Krisen wie der von 2007/2008 für die Planifikateure von rechts und links sehr leicht ist, wieder einmal dem internationalen Finanzkapitalismus die Schuld für die Krise in die Schuhe zu schieben und die Finanzwirtschaft durch Taxonomien und Regulierungen zum staatlichen Wurmfortsatz zu kastrieren, liegt auf der Hand. China wird es freuen.
Anmerkungen
[1] Heinrich August Winkler: Werte und Mächte. Eine Geschichte der westlichen Welt, München (Beck) 2019, S. 16.
[2] Zum Begriff „Westlessness“ siehe Münchner Sicherheitskonferenz: Munich Security Report 2020: Westlessness, München 2020, S. 6 f., wo einleitend Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ sachlich falsch – weil Spenglers Intention ins Gegenteil verkehrend – zitiert wird. Das, was gemeinhin als Aufstieg des Westens und westliche Werte bezeichnet wird, ist für Spengler gerade der Untergang des Abendlandes. Oswald Spengler ist deshalb zu jenen Autoren einer antiwestlichen Gegenbewegung zu zählen, die es in den modernen westlichen Gesellschaften immer gab und immer geben wird.
[3] Siehe Philippe Nemo: Was ist der Westen? Die Genese der abendländischen Zivilisation, übersetzt aus dem Französischen von Karen Ilse Horn, Tübingen (Mohr) 2005, S. 67 – 93.
[4] Siehe auch Thomas Mayer: Die Vermessung des Unbekannten. Ein Essay über Geld und Gesellschaft in Zeiten radikaler Unsicherheit, München (FBV) 2021, S. 231 f.
[5] Siehe Norbert F. Tofall: Schuldenverharmlosung als geopolitisches Problem, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 30. Juni 2021, online unter: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/schuldenverharmlosung-als-geopolitisches-problem/
[6] Siehe Pablo Duarte und Thomas Mayer: Unterwerfung: Staatsfinanzierung durch Zentralbanken, Kommentar zur Makroökonomie des Flossbach von Storch Research Institute vom 30. März 2021, online unter: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/unterwerfung-staatsfinanzierung-durch-zentralbanken/
[7] Siehe Pablo Duarte und Agnieszka Gehringer: Die fehlenden Insolvenzen, Kommentar zur Makroökonomie des Flossbach von Storch Research Institute vom 16. Juni 2021, online unter: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/die-fehlenden-insolvenzen/
[8] Siehe Norbert F. Tofall: Zombifizierung und Geldpolitik, Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 15. Dezember 2017, online unter: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/zombifizierung-und-geldpolitik/
Dieser Beitrag ist die leicht veränderte Version eines Artikels, der unter dem Titel „Westlessness“ in West und Ost – Was folgt für den internationalen Finanzkapitalismus? auf der Website des Flossbach von Storch Research Institute erschienen ist. Mit freundlicher Genehmigung.
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