Nach einem Monat des verfügten Lockdowns müssen Handel, Gastronomie, Tourismus, Fliegerei, Gewerbe gerettet werden. Nach 200 Jahren Wachstum hat niemand Reserven.
Das erscheint dem Publikum, den Politikern und vielen Ökonomen als normal. Das sollte es aber nicht sein, doch haben siebzig Jahre kreditfinanziertes Wachstum dazu geführt. Denn nach dem Krieg hat sich die angelsächsische „Umkehr aller Werte“ durchgesetzt. Wirtschaftliche Aktivität beginnt nicht mit Ansparen für Maschinen, Waren, Löhne, sondern mit Krediten. Und wenn die Volkswirtschaft stockte, sah man es zunehmend als normal an, dass die Notenbanken die ganze Kreditkette über Geldschöpfung – Banken – Firmen – Kreditkartenschulden wieder anstießen. Ebenso sah man immer den Staat in der Pflicht, er musste mit Defiziten „die Gesamtnachfrage“ wieder andrehen.
Kreditketten und Schuldenlöcher
Das Resultat wurde schon in der Finanzkrise 2008 schmerzlich offenbar: Alle hingen in der Kreditkette drin, und wenn ein Glied brach, wie die Lehman Brothers und einige andere Banken, dann ging die Kettenreaktion nach hinten los. Anstatt dass nun Kredite reihum die Nachfrage aller – der Firmen, der Haushalte, der Staaten – anstießen, drohten sie alle ins Schuldenloch zu reißen, oder zumindest die Liquidität völlig auszutrocknen.
Die Notenbanken und Staaten reagierten seit zehn Jahren mit dem einfachen Rezept: es braucht mehr Kredite, mehr defizitfinanzierte Ausgaben.
Die Notenbanken und Staaten reagierten seit zehn Jahren mit dem einfachen Rezept: es braucht mehr Kredite, mehr defizitfinanzierte Ausgaben. Und nun enthüllt die Corona-Krise zum zweiten Mal in kürzester Frist: es braucht noch viel mehr Geldschöpfung und Staatsausgaben, um den kollektiven Kollaps zu verhindern – oder nochmals hinaus zu schieben.
Mehr vom Gleichen. Oder gemäß der Definition des Wahnsinns durch Albert Einstein: zwei Mal dasselbe versuchen und ein anderes Resultat erwarten. Die richtige Wahl wäre seit siebzig Jahren eben Ansparen, Vermögen zu bilden, bei Firmen wie bei Arbeitnehmern.
Von der Geldschöpfung durch Kredite zur Schuldenfalle
Denn die Kreditverkettungen laufen genau so, und immer so, wie der Ökonom Hyman P. Minsky es schon vor dreißig Jahren beschrieben hat. Er diagnostizierte in solchen Kreditsystemen die erste Phase, wenn die Banken (Teilreserve-Banken) Kredite erteilen, indem sie einfach dafür ein Konto einrichten, das der neue Schuldner beziehen und für seine Zwecke (für Lieferanten beispielsweise) verwenden darf. Sie schöpfen Kreditgeld. Damit wird beim Schuldner ein Einkommensstrom belehnt, also etwa Einnahmen im Unternehmen, aus einem Mietshaus, aus Steuern beim Staatsbudget usw. Aus diesen Einkommensflüssen sollen dann die Zinsen und die Rückzahlung des Kredits bestritten werden. Das ist die Investitionsphase. Weil das gut geht, entleihen die Nutzer so viel, dass der Einkommensstrom gerade noch die Zinsen deckt und sie spekulieren darauf, dass bei Fälligkeit der Kredit erneuert wird („roll-over“ nennt sich diese spekulative Phase). Weil das meistens ebenfalls gut geht, nehmen dann alle auch die Zinskosten als neue Kredite auf, im Schneeballverfahren als dritter Phase.
Der Ruin breitet sich haltlos aus. Man nennt dies „the Minsky-Moment“.
Hier sind die westlichen Staatsbudgets seit 2008 angelangt. Sie schlagen die Schuldzinsen einfach als neues Defizit auf die Schulden drauf. Ebenso viele börsennotierte Firmen – sie zahlten aus dem Einkommensfluss nicht die Zinsen, oder gar die Kredite zurück, sondern kauften damit Aktien zurück, um die Kurse zu schönen. Reserven sind damit minimal. Ebenso die Haushalte in vielen „reichen“ Ländern – sie sind durch Kreditkarten, Studiendarlehen, Autovorfinanzierung verschuldet.
Die Tugend der Selbstfinanzierung – oder das Leben aller auf Kosten aller
Damit drehen die westlichen Volkswirtschaften bei allen Beteiligten auf dünner Kapitaldecke. Phase zwei und vor allem drei der Schuldenkette sind jedoch sofort absturzgefährdet, wenn eine Krise den Einkommensstrom aus Firma, Mieten, Löhnen auch nur schon leicht stocken lässt. Dann trocknet die Liquidität der Märkte aus. Alle Teilnehmer, auch solidere, müssen alles liquidieren, doch die Preise der Anlagen zerfallen. Der Ruin breitet sich haltlos aus. Man nennt dies „the Minsky-Moment“.
Wenn hingegen alle Akteure der Volkswirtschaft weitgehend selbstfinanziert sind, wenn sie Reserven haben, dann frisst sich eine Krise zwar schmerzlich ins Eigenkapital, aber sie wirft einen nicht gleich um. Vor allem reißt ein Problemfall nicht die Kette an, die alle andern mitschleift. Und vor allem muss dann nicht eine Zentralbank schon das ganze wackelnde Bankensystem mit noch viel mehr neuem Geld stützen. Vor allem aber muss nicht ein bereits stark strapaziertes Staatsbudget, wie heute, sich noch mit neuen Ausgaben überbieten.
Niemand muss tatsächlich vorsorgen, sparen, Reserven bilden. Gerettet werden alle – auf Kosten aller, und zwar mit Hilfe des Staates.
Verheerend wirkt natürlich die implizite Botschaft solcher sofortiger staatlicher Hilfeleistungen: Niemand muss tatsächlich vorsorgen, sparen, Reserven bilden. Gerettet werden alle – auf Kosten aller, und zwar mit Hilfe des Staates. Frédéric Bastiat hat im 19. Jh. ja den Staat als Einrichtung beschrieben, dank der alle auf Kosten aller anderen leben (wollen). Die implizite Abmachung, dass wir alle auf unser eigenes Risiko auf bestreitbaren Märkten tauschen und gewinnen wollen, und nur so gewinnen sollen, ist längst gestrichen.
Der unvermeidliche Ruf nach dem Staat und totaler Absicherung
So viel zum Prinzip. Nun aber zum Konkreten in der näheren Zukunft. Die amerikanische und die europäische Notenbank kaufen nun Staatsanleihen ohne Grenzen auf – sie monetisieren die gleichzeitig beschlossenen, enormen Staatshilfen sozusagen direkt. Die Bank of England druckt sogar ganz offiziell Geld direkt für die Staatskasse. Die US-Notenbank zahlt neues Geld direkt für einzelstaatliche und städtische Schuldpapiere. Beide Notenbanken kaufen Schuldpapiere aller Art von Unternehmen auf, in Riesenmengen, und bis hinab zur Schundstufe. Damit werden die eingegangenen Kreditpyramiden und Kreditketten des Gewerbes, des Detailhandels, der Firmen im Gastro-, Touristik-, Flugbereich abgesichert, und notfalls dann auch bezahlt. Millionen von Arbeitnehmern wurden auf Kurzarbeit oder Arbeitslosenstatus gesetzt und bezahlt.
Man darf auch hier die implizite Botschaft sehen: niemand muss sich künftig stärker bewegen als bisher, alle sollen ihre Stelle behalten, oder wieder bekommen, alle Firmen sollen danach weiter machen können und alle Staaten finanzieren sich durch neues Geld. Wie es für viele typisch ist, erfolgt der Ruf nach noch mehr Staat und gleichzeitig staatlichen Eingriffen, die einer klaren politischen Agenda folgen.
So fordert Richard David Precht, der sich als „Philosoph“ ins Fiskalische wagt, eine Steuer von 25% auf Internetbestellungen. Schließlich seien die Innenstädte von all den dicht aneinander liegenden gewerblichen Läden entleert, die er noch in der Jugend gekannt habe. Doch Prechts historische Nostalgie ist unhistorisch – die damaligen, dicht aneinander gebauten Läden haben vor 100 Jahren in allen Altstädten die großbürgerlichen Eingangstüren des 19. Jh. mit Friesen, Klopfern und Gittern ausgekernt. Sie selbst waren damals innovativ und haben Bisheriges zerstört, dadurch aber größeren Wohlstand für mehr Menschen ermöglicht.
Eine innovationslose Stagnation droht allen „reichen“ Ländern. Dann aber sind sie eines Tages nicht mehr reich.
Hüten wir uns davor, alles nun aus Angst vor der Zukunft auf dem Stand von 1980 gegen Innovationen festschreiben zu wollen! Denn eigentlich würden, ohne Vollgarantie, die meisten spontan sich neu organisieren. In meinem Dorf serviert das „Kreuz“ seit 1542 Mahlzeiten in zwölfter Generation, nun aber, behördlich gesperrt, ging der Gasthof nach 500 Jahren erstmals zu Hauslieferungen über, ohne auf Hilfe zu warten.
Eine innovationslose Stagnation droht allen „reichen“ Ländern. Dann aber sind sie eines Tages nicht mehr reich. Der so spendable Staat auch nicht mehr.
Wie aber sähe eine solidere Welt nach der Krise aus?
Leitlinien für eine solide Welt nach der Krise
Der Steuerstaat soll sich nicht, wie heute, an Eigentum, Erbschaften, Kapitalbeständen vergreifen, sondern Eigentum und Reserven fördern. Eine gute Idee, auch als Illustration, brachte der spätere Nobelpreisträger James E. Meade auf – die progressive Konsumsteuer. Alle würden angeben, wie hoch ihr Vermögen/Kapital im Vorjahr war, zuzüglich das seither erzielte Einkommen. Was von dieser Summe im Folgejahr nicht vorhanden wäre, würde zu steigenden Sätzen besteuert. Erben würden so nur belangt, wenn sie das Erbe ausgäben, die Reichen nur, wenn sie das Kapital angenagt hätten. Doch alles seither neu gebildete Kapital wäre steuerfrei – eine Prämie für Reservebildung, eine Strafe für Konsum-Enten. James Meade stand übrigens den Linken nahe.
Näher an heutigen Steuervorstellungen wäre es, Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand stärker zu fördern, und die Firmen nicht zu besteuern. Nur Zinsen, Löhne, Boni, Dividenden würden besteuert, alles also, wodurch die produzierende und wertschöpfende Substanz abgezogen wird. Und falls überhaupt Unternehmenssteuern, dann sollen sie nicht Abzüge für Schulden und Zinsen zulassen, also die Kredithuberei noch staatlich subventionieren, sondern Abschreibungen für Forschung und Anlagen erhöhen, also die Innovation und Kapitalbildung fördern.
In der Wirtschaftslehre sollten die Universitäten wieder das Say‘sche Theorem bekannt machen.
Das Aktienrecht sollte wie in Italien und Frankreich erlauben, dass Eigner mit mehrjähriger Haltedauer doppeltes Stimmrecht oder höhere Dividenden bekämen. Dann würden die Firmenleitungen nicht maximale Kurse an der Börse mit Aktienrückkäufen und andern kurzfristigen Tricks treiben.
In der Wirtschaftslehre sollten die Universitäten wieder das Say‘sche Theorem bekannt machen: Der große französische Ökonom Jean-Baptiste Say (1767-1832) sagte, das Angebot schaffe die Nachfrage – gesamtwirtschaftlich gesehen –, und nicht umgekehrt. Denn Produkte werden nicht mit Geld gekauft, das vom Himmel fällt oder welches die Menschen vom Staat erhalten haben, um damit Güter nachfragen zu können, sondern mit dem Geld, das aus Erträgen und Löhnen aus produktiver Arbeit und dem daraus verkauften Angebot fließt. Wenn die Firmen, die Privaten loslegen, dann beziehen sie Vorausprodukte, sie stellen Arbeiter ein, sie fragen diese nach (und hatten dafür gespart, weil sie vorher bereits etwas produzierten). Wenn das Angebot wichtig ist und beim Konsumenten ankommt, dann muss man es auch pflegen, je pflegt es sich eigentlich ganz von allein – das setzt aber wenig Einschränkungen voraus, wenig Staatsinterventionen, freie Arbeitsmärkte. Und wer auf Märkten halt falsch liegt, den holt die „schöpferische Zerstörung“ ein, sagt die österreichische Theorie der Ökonomie.
Sind überall Reserven da, weil man gut gewirtschaftet und einiges auf die Seite gelegt hat, ist’s kein Problem. Doch seit siebzig Jahren galt das Gegenteil – die Gesamtnachfrage musste mit Krediten, Defiziten hochgekitzelt werden, damit dann ein Angebot entstehe. Geht etwas schief, hilft der Staat. Mit Kapitalismus hat das wenig zu tun. Die Folgen dieser staatsorientierten Auffassung, die Schuldenpyramiden, ragen über uns und in die Zukunft hinaus.
Es gibt also Vorstellungen zu soliderer, kapitalbildender Tätigkeit in Lehre und Praxis. Die Corona-Krise sollte dazu anhalten.
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