1. Knechtschaft und Freiheit
Der Kannibalismus ist historisch gesehen im Rückzug begriffen. Heute wird er nur noch in den entlegensten Gebieten im Urwald und irgendwo im pazifischen Ozean ausgeübt. Insofern kann von einem objektiven Fortschritt der Menschheit hin zu friedlicheren Formen des Zusammenlebens gesprochen werden. Im Übrigen ist aber festzustellen, dass das Arsenal an Instrumenten und Methoden der Gattung homo sapiens zur gegenseitigen Unterdrückung, Ausbeutung und Vernichtung auch in der allerjüngsten Phase der Evolution erhalten geblieben, ja eher noch erweitert worden ist. Knechtschaft als Ordnungsprinzip hat keineswegs ausgedient, sondern ist vielerorts und in vielerlei materiellen und intellektuellen Bereichen bittere Realität. Wo schiere Machtausübung nicht hinreichend diszipliniert, wird die Keule von Moral, zeitgeistlichem Mainstream-Denken und politischer Korrektheit geschwungen. Mit falscher Information werden ganze Völkerscharen und Stimmvölker manipuliert, mit Zensurmaßnahmen gegen angeblich bedrohliche Kampagnen wird in den Sozialen Medien das Sprachrohr der Machtlosen verstopft.
Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie, das Zieldreieck einer liberalen Gesellschaft, werden zurzeit massiv herausgefordert. Fünf Megatrends sind es, die diese Herausforderung bestimmen. Konrad Hummler analysiert sie mit ökonomischem Sachverstand und analytischer Klarheit, legt Gefahren dar und schlägt vor, was getan werden muss. Wie er zeigt, bieten einige dieser Trends aber auch ganz neue, unerwartete Chancen, die wir jedoch nur wahrnehmen können, wenn wir keine Angst vor der Freiheit und ihren Ungewissheiten haben. (Sie können den Beitrag auch als PDF hier herunterladen.)
Von einem endgültigen Obsiegen freiheitlicher, marktwirtschaftlicher und demokratischer Prinzipien kann keine Rede sein. Zu Beginn der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts, nach der Implosion des kommunistischen Ostblocks, schien das noch Wirklichkeit zu werden, elegant beschrieben durch den Politologen Francis Fukuyama. Die faktische Entwicklung der Weltgeschichte gab ihm Unrecht: Potentaten und Oligarchen, wohin das Auge blickt. Wir glauben zu erkennen, dass darüber hinaus die moralische Suprematie von Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie in intellektuellen Kreisen, ja vielleicht schon in der generellen Wahrnehmung, Schaden genommen hat.
Manch wüste Tirade gegen den sogenannten „Neoliberalismus“ läuft darauf hinaus, dass man wieder einmal planwirtschaftlichen, dirigistischen und kollektivistischen Methoden den Vorzug gibt, ihnen sogar höhere ökonomische Effizienz zuordnet. Und manche Infragestellung demokratisch zustande gekommener Entscheide, wir denken etwa an den Brexit-Entschluss des britischen Volks, weist auf eine beängstigend hohe Bereitschaft hin, eine technokratisch-elitäre der basisdemokratischen Entscheidungsfindung vorzuziehen, das Volk mithin für unmündig zu erklären.
Die individuelle und auch gruppenweise Ungebundenheit in Gedanken und im Handeln, der zwangsfreie Austausch wirtschaftlicher Güter und Dienstleistungen sowie das Recht zur Mitsprache in wesentlichen Belangen: Dieses Zieldreieck von Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie ist das Gegenprinzip zur Knechtschaft. Dass alle drei Ziele nicht schrankenlos sein können, ergibt sich logisch aus dem Miteinander anderer Individuen und Gruppen und deren Wahrnehmung von Rechten. Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie sind auf eine durchsetzungsfähige Ordnung angewiesen, brauchen mithin dieselben Instrumentarien der Macht wie die Knechtschaft, allerdings in kontrollierter Portionierung und fernab von jeder willkürlichen Anwendung.
Wem um Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie bang ist – wir gehören dazu – und wer zu deren Erhaltung und Weiterentwicklung beitragen will, der muss sich die Mühe nehmen, neue Vorgänge gründlich zu verstehen und ihre Implikationen abzuschätzen.
Wir werden im Folgenden fünf uns wesentlich erscheinende Entwicklungen, „Megatrends“, wenn man so will, unter dem Gesichtspunkt von Knechtschaft versus Freiheit analysieren. „Was ist?“ – das wird die erste Fragestellung sein. „Was bleibt?“ meinen wir durchaus in normativem Sinne, also nicht nur „Was bleibt bestehen, was verändert sich, was bleibt offen?“, sondern auch und vor allem: „Was bleibt zu tun?“. Denn der Weg in die Knechtschaft behagt uns nicht.
2. Utopischer Mondialismus, destruktiver Nationalismus, realistischer Souveränismus
Die ersten zwanzig Jahre nach der Wende von 1989 wurden nicht nur von der Globalisierung, das heißt vom Glauben an die Überlegenheit des Zieldreiecks von Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie im Sinne von Fukuyama geprägt, sondern auch durch den Drang, die praktische und tägliche Weltpolitik in Richtung einer Vereinheitlichung der Welt zu zwingen. Das waren jene Zeiten, als die USA ohne Widerspruch im Uno-Sicherheitsrat einen terrestrischen Krieg in Irak und in Afghanistan lostreten konnten und als man sich in Kyoto (ohne die Amerikaner) auf ein Klimaabkommen einigte. Aus den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs (plus Deutschland und Japan) wurden die G7, G8 und irgendwann auch noch die G20, und man sprach fern jeglicher Skepsis von „Weltgemeinschaft“.
Die von ökonomischen Kräften getragene Globalisierung wandelte sich zu einer von moralischen Prinzipien durchtränkten Ideologie, dem „Mondialismus“. Namentlich die UNO und international aufgesetzte NGOs repräsentieren bis heute dieses Gedankengerüst. Im politischen Bereich begann die OECD, sich dem Mondialismus zu verschreiben, indem sie zum Beispiel dem Kartell der Hochsteuerländer zudiente, während die WTO weitgehend der auf unideologischem Boden des Freihandels basierenden Globalisierung treu blieb. Eine typische Ausgeburt des moralisch unterlegten Mondialismus ist der jüngst bekanntgewordene UN-Migrationspakt, der letztlich der Vorstellung einer weltumfassenden Niederlassungsfreiheit Vorschub leistet.
Auf tieferer Ebene war in Analogie zum Mondialismus, das heißt zur Problemlösung auf denkbar höchster, weltverbindender Ebene, eine Hinwendung zur Delegation sozusagen aller Herausforderungen nach oben beobachtbar. Subsidiarität und Föderalismus sind zu Lippenbekenntnissen verkümmert. Schubweise, das heißt meist im Zuge von krisenhaften Entwicklungen, verstärkte Brüssel seine Vormachtstellung innerhalb der EU. Faktisch ist die Haftungsgemeinschaft unter den Mitgliedsländern längst gegeben, und man steht dank den Target2-Salden, den Rettungsschirmen und anderen gemeinschaftlicher Initiativen der Fiskalunion näher, als man es zugeben möchte.
Zu Beginn des Jahres 2014 wiesen wir darauf hin, dass sich eine neue, andersartige Entwicklung anbahnt. Unter dem Titel „Re-Nationalisierung der Welt“ beschrieben wir die Hinwendung Japans unter Premierminister Shinzo Abe zu einer deutlich nationalistischer motivierten Politik. Nur wenige Monate später fanden wir die Bestätigung unserer These eines neu aufgeschlagenen, partikuläre Interessen betreffenden Kapitels der Weltentwicklung nach der Annexion der Krim durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dieser zerschlug durch sein rücksichtsloses Schaffen von Tatsachen die Fiktion einer übergeordneten „Weltgemeinschaft“, sein Ausschluss aus den G8 beziehungsweise deren Reduktion auf G7 markierte den Anfang einer neuen Ära. Seither werden Reputationsverluste infolge von Rücksichtslosigkeit und Provokation hingenommen; im Gegenteil, sie werden in innenpolitische Gewinne umgemünzt. Und außenpolitisch scheint man besser agieren zu vermögen als unter dem Kartell der wohlmeinenden Repräsentanten einer angeblich existenten „Weltgemeinschaft“.
Die Unfähigkeit des amerikanischen Präsidenten Obama und Europas zu einer angemessenen Reaktion auf „Putins Tat“ bestätigte das Fiktionale am mondialistischen Modell und ebnete letztlich der rüden Gangart des neuen US-Präsidenten Trump den Weg. Seither scheint der Nationalismus im Vormarsch zu sein; dies nicht nur im Umgang zwischen Ländern und Kontinenten, sondern auch und vor allem innenpolitisch, indem sich jene zu Wort melden, die sich durch die Globalisierung in die Ecke gestellt wähnen und ihre Identität nicht mehr verorten können, sich heimatlos fühlen.
Wer die Position von Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie vertritt, tut sich mit beiden Positionen schwer, sowohl mit dem Mondialismus als auch dem Nationalismus. Ersterer muss ihm suspekt vorkommen, weil er einer Utopie entspricht und als solche, wie man seit Thomas Morus weiß, im Totalitarismus enden muss. Die Delegation aller wesentlichen Entscheide auf eine übergeordnete Ebene untergräbt den demokratischen Prozess, und die Missachtung verwässernder Effekte mondialistischer Konzepte untergräbt letztlich die Eigentumsfreiheit. Die Position von Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie kann mit dem Nationalismus wegen dessen Primat des Politischen, der Verachtung des Individuums und damit einhergehend der Verbündung mit dem Kollektivismus gar nichts anfangen.
Skylla und Charybdis also, Felsen hier, Schlund da – die Lösung dürfte in einem sorgsam austarierten Souveränismus liegen, der Idee der selbständig formulierten und sichergestellten Regeln nach innen und nach außen. Der polnisch-britische Philosoph Zygmunt Bauman spricht von der „liquiden Weltgesellschaft“. Der Einbezug dieser Sicht auf die Positionierung zwischen der Skylla des Mondialismus und der Charybdis des Nationalismus erscheint insofern weiterführend, als dabei die jegliche Territorialität negierenden Aspekte der modernen Informationstechnologie Berücksichtigung finden. „Selbständig“ formulierte und durchgesetzte Regeln kann es auch und gerade in virtuellen Räumen geben. Dafür braucht es weder Nationen noch eine illusionäre „Weltgemeinschaft“.
Was bleibt?
- Die Notwendigkeit zur Schärfung dieser Weltsicht im Sinne eines eigenständigen Mittelwegs und dessen Einbettung in ein System, in dem sich Macht nicht mehr allein territorial artikuliert, sondern auch virtuelle Dimensionen umfasst. Eine diesbezügliche Debatte steht, wenn überhaupt, erst am Anfang.
3. Arm und reich und blond und männlich: Das Ärgernis der Ungleichheit
Ein zweiter Megatrend ist die erneute und verschärfte Auseinandersetzung mit der Ungleichheit. Gewiss, die Frage hat die Menschen seit je umgetrieben, und nicht zuletzt stand sie am Anfang der Französischen Revolution (interessant übrigens, wie stark sich die derzeitige französische Protestbewegung sowohl inhaltlich als auch vom Erscheinungsbild her an ihrem über 200-jährigen Vorbild orientiert).
Die Auseinandersetzung um Gleichheit und Ungleichheit hat zwei Dimensionen, nämlich eine rein wirtschaftliche, finanzielle, und eine gesellschaftliche, zum Teil auch lediglich „gefühlte“. Zur wirtschaftlichen Dimension: Den Auftakt bildete das Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ des französischen Volkswirtschaftsprofessors Thomas Piketty. Der über 700-seitige, schwer lesbare und wohl auch selten wirklich gelesene Wälzer brachte es auf die Bestsellerliste in verschiedensten Sprachen; namentlich in den USA machte das Buch Furore.
Wir unterzogen uns damals der Tortur der Lektüre und wurden im Wesentlichen enttäuscht. Denn viel mehr als viel statistisches Material zur Behauptung, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher würden, lieferte Piketty nicht: dass beispielsweise soeben in China eine Verdoppelung des Durchschnittsvermögens auf unterster Gehaltsstufe stattgefunden und somit ein zahlenmäßig sehr gewichtiger Teil der Menschheit aus der Armut gefunden hat, oder der Umstand, dass der (behaupteten) Öffnung der Schere im Vermögensbereich eine Verringerung der Disparität in den Konsummöglichkeiten gegenübersteht (wir genießen heute fast alle einen Komfort, den nicht einmal der Sonnenkönig in Versailles hatte) – solches blieb bei Piketty unerwähnt.
Aber eigentlich tun diese Defizite nicht so viel zur Sache. Denn in Bezug auf die Entwicklungen des Zeitgeists ist es viel wichtiger, dass Perzeptionen die Realität bestimmen und nicht nüchtern analysierte Fakten. Doch selbst die Faktenlage hat in letzter Zeit die Position der Piketty-Skeptiker zu erschüttern vermocht. Denn mit den durch die monetäre Stimulierung getriebenen Aktienbörsen explodierten gewisse Vermögen förmlich. Kapitaleigner und Arbeitnehmer profitierten davon in sehr ungleichem Maße – die letzteren im Wesentlichen nämlich gar nicht. Das echte Problem besteht darin, dass es nicht nur um die „Armen“ geht, sondern um den unteren und mittleren Mittelstand, der durch die stupenden Entwicklungen ebenfalls abgehängt wurde. Infolge der nun ins zweite Jahrzehnt gehenden Tiefstzinspolitik fehlen jenem die Einnahmen auf dem Rentenvermögen, und es kann keine risikoarme Vermögensbildung stattfinden. Mit der Erfassung von Teilen des Mittelstands hat die Verteilungsfrage politische Sprengkraft erhalten.
Die gesellschaftliche Dimension der Gleichheitsfrage ergibt sich aus dem Bedürfnis, gleich zu machen, was grundsätzlich, das heißt nicht nur wirtschaftlich-finanziell, ungleich ist. Finanzen kann man umverteilen und damit, von ungünstigen Nebenwirkungen abgesehen, wenigstens für eine Weile Gleichheit schaffen. Frau oder Mann, blond oder dunkelhaarig, kräftig oder schwach, homo oder hetero, intelligent oder dumm: In diesen Kategorien kann man Gleichheit nur durch Ersatzvornahme nachahmen, emulieren. Solcherart Gleichheitsemulation ist dank den deutlich gesunkenen Koalitionskosten von Minderheiten zu einer Art Dauerbeschäftigung des politischen Apparats geworden. Minderheitspositionen können sich aus politökonomischen Gründen systematisch begünstigen und die tendenziell schweigende Mehrheit belasten. Anliegen von Minderheiten genießen dank deren Opferstatus zudem auch moralische Überlegenheit und damit die Sympathien der Medien.
Was bleibt?
- Die Position des freiheitlich, marktwirtschaftlich und demokratisch Denkenden wird durch diese Affinität des Zeitgeists zu Umverteilung und Ausgleich stark gefordert. Denn einerseits ist ihm jegliches Standesdenken fremd. Er will a priori ganz sicher nicht zwischen arm, homo, blond, intelligent oder andern Eigenschaften unterscheiden. Alle sollen die gleichen Voraussetzungen haben. Dies ganz sicher vor dem Gesetz und dessen Ausführenden, in gewissem Rahmen aber auch in materieller Hinsicht. Massiven finanziellen Umverteilungsaktionen und artifizieller Gleichheitsschaffung für Ungleiches steht er andrerseits aber negativ gegenüber, denn er weiß um die resultierenden Nebenwirkungen, die bis zur Ertötung jeglicher Anreize zur selbstverantwortlichen Lebensbewältigung gehen können.
- Ein Ausweg könnte die (liberale!) Idee der Elimination sämtlicher indirekten Umverteilungsmechanismen (Subventionen, Staatsaktivitäten wie Spitäler, öffentliche Verkehrsbetriebe, das heißt der ganze „service public“) bei gleichzeitiger, kompensierender Einführung einer bedingungslos erteilten, direkten Umverteilung darstellen. Man müsste versuchen, das Thema der Sozialpolitik mit dem Konzept einer echten negativen Einkommenssteuer von der politischen Linken zurückzuerobern.
4. Institutionen und Systeme im Umbruch: Integrationshypertrophie, verfrühte Währungsunion, gefährliche Haftungsgemeinschaft
Wer freiheitlich, marktwirtschaftlich und demokratisch und darüber hinaus auch noch ein wenig historisch denkt, der weiß, wie prekär im Verlauf der Geschichte eine Ordnung war und ist, welche die Voraussetzungen dafür schafft. Sicherheitspolitische Überlegungen gehören deshalb genauso zur analytischen Arbeit wie Untersuchungen zur Stabilität von lebenswichtigen Systemen wie zum Beispiel dem Geld- und Währungssystem. Durch die Banken- und nachfolgende Staatsschuldenkrise waren namentlich die Institutionen auf dem europäischen Kontinent angefochten und stark gefordert – und sie sind es weitgehend heute noch. Durch die Akzentuierung nationaler Interessen im Südosten Europas (Türkei) und im Osten (Russland) und die verbalen Absetzbewegungen Donald Trumps von Europa sowie durch den nicht abflauenden Migrationsdruck aus Afrika hat sich die Sicherheitslage auf dem und um den Kontinent mit Gewissheit nicht verbessert.
Was Europa betrifft: Man kann auch zu viel wollen. Die Ausdehnung der EU zu einem Flächenstaat, ohne über die dazu notwendigen (fiskalischen und militärischen) Mittel zu verfügen, die damit einhergehende hohe Abhängigkeit von den USA und der Verschleiß der inneren Kräfte durch das überrissene und viel zu früh lancierte Projekt einer gemeinsamen Währung: Dass daraus ein lang andauerndes, nachhaltig wirksames Scheitern werde, war schon früh absehbar. Die warnenden Stimmen wurden in den Wind geschlagen, es wurde als alternativlos bezeichnet, obwohl es durchaus Handlungsvarianten gegeben hätte. Ein Blick auf die relevanten Daten bestätigt heute, dass Europa von den USA wirtschaftlich abgehängt worden ist, weil zu viel Unerledigtes auf dem Alten Kontinent lastet, so die nach wie vor exorbitante Verschuldung der südlichen Mitgliedsländer oder die immer noch ausstehende Sanierung europäischer Banken.
Das Hauptproblem der Europäischen Union vermuten wir im Geflecht impliziter Garantien und der unausgesprochenen Haftungsgemeinschaft rund um den Euro. Als die Risikoprämien an den Märkten für vergleichsweise wacklige Schuldnerländer wie Italien, Spanien, Portugal und selbstverständlich allen voran Griechenland sanken oder schwanden, hätten eigentlich alle Alarmglocken läuten müssen: Um Himmels Willen, an den Finanzmärkten geht man von einer Haftungsgemeinschaft aus! Stattdessen beglückwünschte man sich zur angeblichen Stabilität der Währung und zu den Vorteilen, welche die schwächeren Schuldnerländer daraus ziehen könnten.
Als dann die Krise kam, setzte man der faktischen Haftungsgemeinschaft noch eins drauf, indem man die Rettungsschirme EFSF und ESM nach demselben Prinzip der Kaskadenhaftung baute und den neugeschaffenen Europäischen Investitionsfonds als praktisch eigenmittelloses special purpose vehicle (SPV) entlang den Vorbildern aus den USA vor der Finanzkrise schuf. Dass die Europäische Investitionsbank ebenfalls über nur wenig einbezahlte Eigenmittel verfügt, sondern lediglich über die Garantien hoch- und höchstverschuldeter Mitgliedsländer finanziert ist, wissen nur wenige. Gewiss, alles erscheint derzeit wieder stabil, weil letztlich eine Gesamtgarantie der EZB, whatever it takes, die verschiedenen Gebilde zusammenhält.
Die Abwicklung der italienischen Staatsschuld wird Klarheit schaffen, wie stabil die europäischen Konstrukte tatsächlich sind und wie anpassungsfähig ihre Organe reagieren. Denn Italien wird abwerten müssen, um zu akzeptablem Wachstum zurückzufinden. Eine innere Abwertung wird das Land politisch nicht überstehen. Für eine äußere Abwertung müsste eine Parallelwährung, eine neue Lira, geschaffen werden. Ein größerer Teil der Schuld Italiens wäre dann nach außen deutlich weniger wert, und somit würde der Fall eintreten, in welchem die berühmten Target2-Salden relevant würden. Der Gesichtsverlust für das Europrojekt wäre selbstverständlich groß. Wir bezweifeln lebhaft, dass es im Fall Italiens noch einmal die Möglichkeit des Aussitzens gibt, und meinen auch, dass die Kontaminationsgefahr für das Gesamtsystem Euro markant ausfiele.
Was bleibt?
- Der Umgang mit teilweise nach wie vor notwendigen, teilweise obsoleten und teilweise sich selber aushöhlenden Institutionen setzt eine klare Analyse und unanfechtbare Kriterien voraus. Wir erachten den derzeitigen Zustand der europäischen Sicherheitsarchitektur als prekär; die Wahrscheinlichkeit, dass der große Stratege im Osten das Vakuum füllen wird, ist beträchtlich. Derweil schwärt in Europa die Wunde des zur Unzeit und mit verkehrten Vorgaben aufoktroyierten Euro-Systems. Wir empfehlen Distanznahme und größtmögliches Ring Fencing, denn unsere Prognose bleibt beim besten Willen negativ.
5. Warum ist die Inflation nicht gekommen? Der versteckte Produktivitätsschub durch technologische Revolutionen
Wer in Ökonomenkreisen die Frage stellt, weshalb es nach der sehr substantiellen, historisch schlichtweg einmalig hohen Liquiditätszufuhr der Notenbanken nicht zum vielfach befürchteten Inflationsschub gekommen ist, wird mit verschiedenen, meist nicht wirklich konsistenten oder hinreichenden Erklärungen überhäuft. Seit Beginn dieses monetären Ausnahmezustands und insbesondere mit Blick auf das „Quantitative Easing (QE)“, der bis dahin noch nie praktizierten Ausweitung von Geldpolitik hin zu Kapitalmarktpolitik, suchten wir nach eigenständigen Erklärungsmustern für die Abwesenheit irgendwelchen substantiellen Inflationsdrucks. Wir fanden ihn im realwirtschaftlichen Bereich, nämlich in der massiven, weltweit wirksamen Reduktion der Informations- und Transaktionskosten. Ökonomen und vor allem Ökonometriker schätzen reale Schocks überhaupt nicht, denn sie stören ihre Statistiken beziehungsweise zerstören Grundannahmen und einfache Extrapolationen. Wir meinen demgegenüber, dass man keine Ökonomie betreiben kann, ohne wenigstens ab und zu ein Auge auf das Untersuchungsobjekt selber zu werfen. Alles andere kommt einem Arzt gleich, der nur noch seinen Monitoren traut und dabei nicht merkt, dass der Patient gar nicht mehr daliegt, sondern gerade davongesprungen ist.
Sie ist davongesprungen, die Wirtschaft. Denn der Technologieschub der vergangenen zwanzig, dreißig Jahre hat sehr viel auf den Kopf gestellt. Praktisch jeder Geschäftsprozess wurde umgekrempelt. Sehr viele Zwischengänge wurden schlechthin eliminiert, es wurde die kapitalintensive Lagerhaltung reduziert, Produktion „auf Halde“ abgebaut, Preisfindung auf sämtlichen Integrationsstufen durchgesetzt: mit anderen Worten wurden die Informations- und Transaktionskosten deutlich gesenkt. Wir schätzen, dass diese über die gesamte Prozesskette hinweg mindestens 50 Prozent des gesamten Preises ausgemacht haben, heute hingegen belaufen sie sich auf einen Bruchteil davon.
Zwanzig, dreißig Jahre sind für einen solchen umfassend und global wirksamen Vorgang eine kurze Zeit; es ist deshalb nicht abwegig, von einem regelrechten Schock zu sprechen. Das Problem: Er ist endogener Natur, und das macht ihn für die erwähnten Ökonomen und Ökonometriker zusätzlich problematisch, zumal er, im Gegensatz zu einer geplatzten Immobilienblase, erst noch in positiver Richtung wirkt, was doppelt ungewohnt ist.
Kommt dazu, dass eine Reduktion der Informations- und Transaktionskosten nicht direkt sichtbar wird anhand der für gewöhnlich verwendeten Schlüsselindikatoren wie zum Beispiel dem Bruttoinlandprodukt. Im Gegenteil: Alles, was der Zwischenhandel (im weitesten Sinne) in Form unproduktiver Reibungsverluste verliert, schlägt sich zunächst einmal negativ auf diese Indikatoren nieder. Schon früh stipulierten wir deshalb eine massive Unterschätzung der Produktivität infolge Missachtung des Technologieschubs und mithin eine Unterschätzung des effektiven Spielraums, den die Notenbanken für ihre Geldpolitik in dieser Phase der Wirtschaftsentwicklung genossen haben.
Bezüglich Informations- und Transaktionskosten haben wir uns in den letzten Jahren buchstäblich die Finger wundgeschrieben. Die Relevanz dieser Kosten beziehungsweise ihrer dramatischen Reduktion wurde und wird kaum verstanden, geschweige denn, in ihrer Bedeutung genügend ernstgenommen. Dabei verändern sich vor unseren Augen ganze Wirtschaftszweige! So beispielsweise die Hotelbranche, wo Airbnb mittlerweile zur größten Anbieterin von Zimmern weltweit geworden ist, sozusagen ohne eigenen Kapitaleinsatz, lediglich als Plattform für den besseren Kapitaleinsatz Dritter, nämlich der Zimmeranbieter. Oder Uber, die Plattform, welche den öffentlichen Transport revolutioniert hat, indem nicht oder schlecht genutzte private Transportkapazitäten und offenbar vorhandenes Humankapital – die privaten Autos und ihre Besitzer als Chauffeure – einer wertschöpfenden Verwendung zugeführt wurden.
Analoge, vielleicht etwas weniger gut sichtbare Vorgänge finden in sozusagen allen Sektoren der Wirtschaft statt. Bessere Nutzung vorhandener Ressourcen heißt das große Thema, und es wurde möglich durch die moderne Informationstechnologie und durch die damit einhergehende Reduktion der Informations- und Transaktionskosten. An welchen Schlüsselindikatoren lässt sich diese Entwicklung ablesen? Wiederum nicht am BIP und den klassisch berechneten Produktivitätskennzahlen, sondern beispielsweise an den außerordentlich und nachhaltig hohen Margen vieler Unternehmungen und am real gestiegenen Wohlstand. Wer’s nicht glaubt, versetze sich in sein Leben vor dem Smartphone zurück.
Dabei konkretisiert sich volkswirtschaftlich ein Phänomen, das der britisch-amerikanische Ökonom Ronald Coase im Jahr 1937 präzis beschrieben hatte. Es lohnt sich angesichts der säkularen Bedeutung des Technologieschubs, jenen Artikel noch einmal genau zu verinnerlichen. Denn die Frage, ob es sich eher rechtfertigt, wirtschaftliche Angelegenheiten innerhalb einer Unternehmung zu erledigen oder außerhalb, zum Beispiel in einer Ich-AG, entscheidet sich aufgrund der Höhe der Informations- und Transaktionskosten. Je tiefer sie ausfallen, desto disperser wird der Firmensektor. Voraussetzung dafür bilden allerdings Plattformen, welche Information und Transaktionen bewirtschaften. Ihr stupendes Wachstum und ihre inzwischen erreichte Marktmacht werden nun zum eigenständigen Thema ökonomischer und ordnungspolitischer Dimension.
Was bleibt?
- Für den freiheitlich, marktwirtschaftlich und demokratisch Denkenden ergeben sich in diesem Bereich der gesunkenen Informations- und Transaktionskosten die folgenden Überlegungen: Der Spielraum der Notenbanken für eine äußerst großzügige Geldpolitik war infolge des versteckten Produktivitätsschubs praktisch unbegrenzt. Es konnte bis anhin schlicht keine Inflation aufkommen, überall und immer gab und gibt es irgendwo noch günstigere Angebote und Lösungen. Dieser sozusagen unbegrenzte Spielraum wurde auch genutzt. Einerseits zur Bewältigung der Banken- und Staatsschuldenkrise von 2008 und Folgende. Andrerseits erfolgte als Nebenwirkung dieses ersten Effekts eine Fortsetzung der Schuldenwirtschaft. Sie betrifft zunächst einmal die meisten Staaten, darunter sehr gewichtige wie die USA, China, Frankreich oder Italien, dann aber in vielen Ländern auch den Privatsektor, das heißt die Privathaushalte und die Unternehmungen. Die anhaltende Tiefstzinspolitik hat mutmaßlich zur Realisierung von Projekten ermuntert, die bei höheren Zinsen nicht angegangen worden wären. Es ist deshalb auf der Aktivseite gelegentlich mit hohen Abschreibern zu rechnen; eine Korrektur der Schuldenseite ist unabwendbar, das wird die nächste Finanzkrise erledigen. Weil die Schulden zumeist in US-Dollar aufgenommen wurden, derweil die Aktiva ihr Leben in lokalen Währungen fristen, dürfte es bei der Bereinigung zu einem Mangel an US-Dollar kommen.
- Was die beängstigende Größe der neu entstandenen Plattformen betrifft, so geben wir heute tendenziell Entwarnung. Weshalb? Weil sozusagen alle den Fehler begehen, ihren unternehmerischen Spielraum entscheidend auszuweiten, indem sie vertikale Integration suchen. Amazon baut Transportkapazitäten und Lager auf, Uber kauft Fahrzeugflotten, Airbnb Hotelgebäude, Homegate drängt ins Maklergeschäft vor. Damit werden sie zu „gewöhnlichen“ Unternehmungen, die somit auch den gewöhnlichen Risiken ausgesetzt sind. Sie werden sich verkalkulieren wie alle anderen Unternehmungen, Übertreibungen nacheilen, sich von den Begehrlichkeiten der Finanzmarktakteure verleiten lassen usw. Das sind insofern gute Nachrichten, als damit das Schumpeter’sche Prinzip der schöpferischen Zerstörung gnadenlos zuschlagen wird. Es sei denn, jemand käme auf die Idee, solcherart Plattformen für „too-big-to-fail“, also systemnotwendig, zu erklären. Dann würde aus dem angeblichen natürlichen Monopol dieser Plattformen ein staatlich getragenes, und das wiederum wären dann ganz schlechte Nachrichten.
6. Die nächste Umwälzung steht bevor: Die Blockchain-Revolution hat noch gar nicht begonnen
Gegen Ende des Jahres 2015 veröffentlichte die Zeitschrift „Economist“ eine erste Artikelserie zum Thema „Blockchain“. Die schwer verständlichen Ausführungen veranlassten uns gewissermaßen zu einer Trotzreaktion, „es“ nun halt selber verstehen zu lernen und das notwendige Wissen zu erarbeiten. Der Kreis von Intellektuellen, die sich auf die geistige Durchdringung insbesondere der gesellschaftlichen Implikationen von Blockchain wirklich einlassen, ist klein. Meistens enden Diskussionen darüber beim Bashing der Kryptowährung Bitcoin.
Im Wesentlichen muss man nur eines verstehen, um eine Debatte über diesen nicht hinreichenden Punkt hinaus führen zu können: Mittels Blockchain lässt sich ein Fluss von Zuständen für jeden Zeitpunkt eineindeutig festhalten; dafür braucht es keine Drittinstanz, vielmehr ist die Blockchain selbstreferentiell und dank Speicherung auf einer Vielzahl von dezentralen Datenträgern weitestgehend unverletzlich. Dadurch werden Abläufe unbestreitbar nachvollziehbar gemacht.
Die Bedeutung dieser Aussage kann gar nicht überschätzt werden, sie ist umwälzender Natur. Denn ein wesentlicher Teil unserer täglichen, vielfältigen Bemühungen zielt auf Festhalten und Verändern und wiederum Festhalten. Wenn wir am Geldautomat Geld beziehen, dann tun wir genau dies. Wenn wir jemandem ein Buch schenken, ebenso: Im Zustand 1 liegen Besitz und Eigentum bei der einen Person, nach der Transaktion, im Zustand 2 bei der anderen. Wenn wir jemandem ein Grundstück verkaufen, verhält sich das nicht anders. Wenn in einem industriellen Prozess ein Objekt gefertigt wird, dann reicht eine Anlage nach der anderen das Ding von Zustand 1 zu Zustand 2 und dies wiederum zu Zustand 3 – und so weiter. Unbestreitbare Nachvollziehbarkeit ist ein großes Ziel, das wegen der hohen Kosten der Aufzeichnung bis anhin nur dem Umgang mit wertvollsten Dingen wie Grundstücken oder Geld vorbehalten war. Im Wesentlichen (außer beim Bargeldbesitz) stützte man sich dazu auf die Macht von und das Vertrauen in Institutionen wie Banken, Versicherungen oder den Staat. Mit Blockchaintechnologie wird sich das ändern. Die auch hier wiederum entscheidenden, gegen den Nullpunkt strebenden Informations- und Transaktionskosten werden es möglich machen, dass die Traceability, die lückenlose Nachvollziehbarkeit ihren Siegeszug durch Wirtschaft und Gesellschaft antritt.
Nachvollziehbarkeit von Zuständen in industriellen Prozessen ergibt direkten wirtschaftlichen Sinn und Gewinn; viel bedeutender ist jedoch das Potential, das in der Liquidemachung eigentlich des gesamten Kapitalstocks liegt. Wenn eine Blockchain den Eigentumsübergang eines Buches oder einer Liegenschaft festhalten kann, weshalb dann nicht aller Haushaltsutensilien, des Autos, der Bilder, der Musikinstrumente oder gegebenenfalls des Hundes? Und weshalb sollte man nicht, sagen wir, die Dividendenströme aus seinem Vermögensportefeuille verkaufen können? Oder seine künftigen Lebensversicherungserträge? Noch können wir uns vieles nicht vorstellen, aber eines ist gewiss: Hinter jedem bisher noch illiquiden Aktivum gibt es eine Liquiditätsprämie, die mit Gewinn versilbert werden kann, was man bisher noch nicht konnte, weil die Technologie nicht zur Verfügung stand. Die Aussicht auf die Liquiditätsprämie wird der große Motor sein, der die Anwendung der Blockchaintechnologie antreibt.
Es geht also nicht um Bitcoin oder nur ganz am Rande, im Sinne einer Anwendung. Vielmehr geht es um die Erschließung eines neuen Kontinents, auf welchem das Kontinuum des Zeitablaufs durch Stroboskop-ähnliche Aufnahmen abgebildet und festgehalten wird, womit sozusagen alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse anders und noch einmal viel effizienter gesteuert werden können. Noch können wir die Maße dieses Kontinents erst erahnen und wissen schon gar nicht um dessen Gebirge, Abgründe und Schlünde. Aber die ersten Pioniere sind unterwegs und machen ihre Erfahrungen. Wir denken, dass der Kontinent bedeutend grösser ist, als es die meisten vermuten, und dass deshalb die Erschließung viel mehr Zeit in Anspruch nehmen wird, als es gewisse Jungspunde im Schweizer „Silicon Valley“ Zug und anderswo sich erhoffen. Gewiss, in solchen Phasen gibt es immer Quick-Wins. Aber es könnte nur Neufundland gewesen sein. Die ersten europäischen Bewohner sind dort verhungert.
Was bleibt?
- Wie soll der freiheitlich, marktwirtschaftlich und demokratisch Orientierte über die Blockchaintechnologie denken? Zunächst gewiss einmal positiv. Denn in vielerlei Hinsicht ist entscheidender Fortschritt denkbar, in erster Linie bezüglich der Eigentumsfrage. Schon früh wiesen wir auf die immensen Chancen hin, die Landreformprojekten in Entwicklungs- und Schwellenländern zukommen könnten, wenn man die Blockchaintechnologie mit Google Earth verknüpft und damit den Ärmsten in den Slums der großen Städte zu Grundeigentum und damit zur Kreditfähigkeit verhilft. Ebenso positiv sind die Smart Contracts, also die sich selbstvollziehenden, algorithmisch gesteuerten Vertragsverhältnisse, zu beurteilen. Denn Maschinen kann man nicht betrügen oder bestechen. Das Korruptionsproblem, eine der übelsten Eiterwunden von Wirtschaft und Gesellschaften weltweit (im weitesten Sinne handelt es sich dabei auch um Informations- und Transaktionskosten!), ließe sich damit entscheidend reduzieren.
- Unbestreitbare, lückenlose Nachvollziehbarkeit wird aber auch an der Privatheit nagen. Das muss illusionslos zur Kenntnis genommen werden. Der künftige Schutz der Privatsphäre muss ein ganz wichtiges Traktandum für die intellektuelle Debatte werden. Denn seien wir uns bewusst: Die neue Technologie macht vor den totalitär Denkenden nicht Halt! Die Anstrengungen etwa der Chinesen sind schon weit gediehen, für die rund 1.4 Milliarden Bürger über die Nachvollziehbarkeit sozusagen jeden Schrittes und jeder Regung ein System zur sozialen Steuerung zu etablieren. Wollen wir wetten, dass solcherart gesellschaftliches Finetuning manche Technokraten im Westen attraktiv finden werden? Insbesondere dann, wenn uns die Chinesen noch die höhere wirtschaftliche Effizienz ihres Systems um die Ohren schlagen und uns vorzeigen werden, dass freiheitliche, marktwirtschaftliche und demokratische Entscheidungsfindung zu suboptimalen Resultaten führt?
7. Freiheit oder Knechtschaft? Die Hoffnung auf eine neue, ideologiefreie und unternehmerische Generation
Nach diesem Tour d’horizon durch unsere Megatrends muss man wohl ziemlich ernüchtert feststellen, dass unserem Zieldreieck Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie nirgends eine wirklich unangefochtene Stellung zukommt, oder dass es an Bedeutung gewonnen, geschweige denn im Sinne Fukuyamas im Wettbewerb mit anderen Ordnungsprinzipien obsiegt hätte. Die Frage „Was bleibt?“ mussten wir in allen Bereichen mit einer reichhaltigen To-Do-Liste beantworten. Praktisch überall und immer geht es dabei um die Auseinandersetzung mit einem Zeitgeist, der in die gegenläufige Richtung zieht, hin zur Bevormundung der Menschen und letztlich hin zu ihrer Bewirtschaftung.
Was steckt denn eigentlich hinter diesem Zeitgeist, oder umgekehrt gefragt, weshalb hat es die Freiheit so schwer, sich zu artikulieren? Gewiss, es gibt zunächst schlicht die handfesten Interessen. Wer Stakeholder an einem System ist, das durch neue technische Entwicklungen herausgefordert und längerfristig vielleicht sogar einmal in Frage gestellt ist, der setzt sich verständlicherweise zur Wehr. Schon früh warnten wir die Enthusiasten der Blockchain-Community vor entsprechenden hinhaltenden Rückzugsgefechten gefährdeter Institutionen – bis hin zur Kriminalisierung bestimmter Blockchain-Anwendungen.
Aber solch bewahrendes Denken allein macht noch keinen Zeitgeist aus. Der Grund, weshalb Freiheit im weitesten Sinne gegenwärtig unattraktiv erscheint, muss tiefer liegen. Wir vermuten, dass es sich um eine beinahe natürliche Reaktion handelt angesichts der insgesamt gegebenen, geradezu säkularen Emanzipationskraft praktisch aller technischen Neuerungen. Nehmen wir das Smartphone als Beispiel: Quer durch alle soziale Schichten hindurch und über alle Kontinente hinweg und unbesehen aller Menschenrassen ist heute, von den ärmsten Schluckern vielleicht noch abgesehen, doch jedermann in die Lage versetzt worden, sich selbständig zu orientieren, sei es über Wikipedia oder beliebig viele News-Channels; jeder kann darüber hinaus völlig frei in alle Welt hinein in Ton und Bild kommunizieren, kann Transaktionen vornehmen, kann sich damit im öffentlichen Verkehr bewegen – und so weiter und so fort. Das ist faszinierend, vor allem weil sich die Verteilungsfrage im Falle des Smartphones eben gerade nicht stellt: Der Zugewinn ist so gleichmäßig verteilt wie keine menschliche Errungenschaft zuvor.
Das ist offenbar aber auch beängstigend. Denn damit drohen Vormachtstellungen zu erodieren, ideologische oder religiöse „Gegebenheiten“ wegzufallen, die Selbstverständlichkeit wirtschaftlicher Pfründen eliminiert zu werden. Emanzipation hat auch Verlierer(innen). Die potentiellen Verlierer befürchten, mit dieser Emanzipation könnte sich das „krumme Holz“, aus dem der Mensch geschnitzt sei (Kant), weitestgehend und endgültig den Korrekturversuchen seiner Mitmenschen entziehen. Denn das war ja zu allen Zeiten die große Rechtfertigung jeglicher Pseudoeliten, ob geistlich, adelig oder technokratisch: dass man den Menschen vor sich selber schützen müsse. Ein gewisses Maß an Knechtschaft sei deshalb nicht nur vertretbar, sondern nach übergeordneten Gesichtspunkten geradezu imperativ. Kunststück, wird fast allerorten nach zusätzlicher Transparenz und nach zusätzlicher Kontrolle geschrien, und Kunststück, hat das Vertrauen in die ausgleichende Wirkung des freien Austauschs zwischen krummen Hölzern aller Art einen dermaßen schweren Stand. Es geht um Interessen. Die Priesterinnen und Priester dieser Welt bangen um Vorrecht und Vormacht.
Der Standpunkt der Freiheit wird es deshalb weiterhin schwer haben. Gegen den Zeitgeist zu kämpfen, ist mühselig und frustrierend. Wir haben ihn nun eine Weile geführt und müssten die Feder mit gemischten Gefühlen beiseitelegen – wäre da nicht die völlig gegenläufige Erfahrung, die wir in den vergangenen Jahren mit völlig ideologiefreien, jungen, unternehmerischen Menschen gemacht haben. Unvoreingenommen bis unverfroren erstreiten sie sich ihren Platz an der Sonne, scheitern da und dort, rappeln sich auf, beginnen von neuem, machen es noch einmal noch besser – diese unternehmerischen Leute stimmen zuversichtlich. Sie alle sind mit der zusätzlichen Emanzipation der Menschen beschäftigt. Ja, krumme Hölzer sind sie allemal: intelligent, energiegeladen, ab und zu etwas überheblich, manchmal auch naiv und allzu gutgläubig, nie aber selbstbemitleidend oder ungerechtfertigterweise fordernd. Insgesamt eine neue Elite, die weitertragen wird als alle langweiligen Leimsieder, wo immer solche walten. Denn sie wollen Freiheit, nicht Knechtschaft, und leben diesen Anspruch tagaus, tagein.
Die Originalfassung dieses Beitrags mit dem Titel „Was ist, was bleibt“ (bergsicht Ausgabe 34, Dezember 2018) findet sich bei www.bergsicht.ch. Die bergsicht Nr. 34 ist die letzte Ausgabe dieser Publikation. Wir danken Dr. Konrad Hummler für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung einer für die Website des Austrian Institute adaptierten und leicht gekürzten Fassung, die wir auch als Austrian Institute Paper Nr. 23 (PDF) zum Download anbieten.
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