«Aber Sie sind ja Marxist!» Wer fühlte sich nicht beschimpft, würde er so betitelt. Marx hat einen schlechten Ruf, «Marxisten» haben einen noch schlechteren. Es gibt zwar gegenwärtig eine Marx-Renaissance – in manchem habe der Mann doch recht gehabt, und eigentlich sei er ganz aktuell. Für die meisten aber bleibt «Marxist» ein Schundprädikat.
Natürlich ist man heute für soziale Gerechtigkeit und beklagt die zunehmende soziale Ungleichheit. Und ja, der Kapitalismus muss gebändigt werden, sonst werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer. Zudem: Wir in den reichen Ländern leben doch alle auf Kosten der armen Länder. Und die grossen Konzerne, ja die Unternehmer überhaupt: Die bereichern sich doch nur auf Kosten der Normalbürger. Und jetzt die Digitalisierung und die zunehmende Automatisierung! Auf der Suche nach Kapitalrendite wird das gierige Kapital immer mehr Arbeitsplätze vernichten. Lässt man kapitalistischer Profitgier freien Lauf, dann geht es mit der Welt notwendigerweise bergab, ja wir zerstören gar unseren Planeten!
Das alles haben wir in mehr oder minder zugespitzter Form schon irgendwo gelesen – und manches davon ist in unseren Köpfen hängengeblieben. Und viele – Intellektuelle, Politiker, aber auch engagierte Wohlstandsbürger – glauben und verkünden es. Sogar sich als bürgerlich und liberal verstehende Anhänger der «sozialen Marktwirtschaft» sprechen heute diese Sprache, ganz zu schweigen von Sozialisten, Linksliberalen, sozial umtriebigen Kirchenführern.
Doch handelt es sich dabei um Legenden, die Marx geschaffen oder kolportiert hat. Marx hat – gewiss: auf geniale Weise – das Kunststück geschafft, mit seiner aus Versatzstücken falscher ökonomischer Theorien zusammengezimmerten Geschichtsphilosophie das Denken selbst derjenigen zu prägen, die sein Programm eigentlich ablehnen.
Er hat das zustande gebracht, indem er die Kräfte, denen sich der Wohlstand verdankt, als Triebkräfte der Verelendung der Massen beschrieb. Denn Ursache des modernen Massenwohlstandes, der sich infolge der Globalisierung immer mehr auf dem ganzen Planeten ausbreitet, ist just das von Marx im ersten Band seines Hauptwerks als «von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blut- und schmutztriefend» beschimpfte «Kapital».
Zwar erwartete Marx den notwendigen Zusammenbruch des Kapitalismus als Vorbedingung für eine humane Gesellschaft der Zukunft. Wir Heutigen jedoch wollen lediglich seine angeblich selbstzerstörerische, die Reichen auf Kosten der Armen bevorteilende Struktur korrigieren.
Wir sind Anhänger eines modifizierten «Wohlstandsmarxismus» und seiner Sicht der Geschichte, die da lautet: Die Ausbeutung der Lohnabhängigen durch das Kapital und deren zunehmende Verelendung konnten nur durch den Druck der Gewerkschaften und umverteilende Sozialpolitik gestoppt werden. So sei es möglich geworden, den Kapitalismus, seine inhärent unsoziale Tendenz zur Monopolisierung und Konzentration von Reichtum und wirtschaftlicher Macht zu korrigieren. Markt und Wettbewerb «sozial» einzudämmen und zu zügeln: Das sei heute noch, auch auf globaler Ebene, der Weg zum sozialen Fortschritt. Sie alle sind von einem tiefen Misstrauen gegenüber Kapitalismus und freien Märkten durchdrungen und verkennen deren wohlstandschaffende Kraft, die historisch ausser Frage steht.
Marx’ blinder Fleck: Die Arbeit des Kapitals
Marx hatte gelehrt, dass der Anstieg der Produktivität dem Arbeiter nichts nütze; nur dem Kapitalisten bringe er mehr Profit. Er sah nicht, dass allein Produktivitätssteigerungen zu Reallohnsteigerungen und Arbeitszeitverkürzungen führen und die zum Leben notwendigen Güter besser und erschwinglicher machen.
Die meisten Konsumenten waren im 19. Jahrhundert Bauern und Arbeiter, deren Lebensstandard dadurch allmählich anstieg. Nach und nach wurde, was einst Luxuskonsum war, zum Massenkonsum. Auch heute kommen ständig Güter und Dienstleistungen auf den Markt, die es vordem nicht oder nur für die Reichsten gab. Was dem entgegenwirkt, sind zumeist staatliche und politische Fehlleistungen, wie etwa die letzte Finanzkrise: Sie geht – entgegen gängiger Ansicht – auf das Konto des Staates, der die Banken per Gesetz zur unverantwortlichen Kreditvergabe verpflichtet und ihnen eine Staatsgarantie gegeben und so ihre Gier angestachelt hat.
Marx hatte mit seiner – auf der Arbeitswertlehre Ricardos basierenden – Theorie des vom Kapitalisten sich angeeigneten Mehrwerts der Arbeit das Instrument geschaffen, um uns für die eigentliche Leistung des «Kapitals» blind zu machen: die unternehmerische Leistung und die technologische Innovation. Sie ist es, die Wertschöpfung und Wohlstand erzeugt.
Marx hingegen präsentiert uns den Kapitalisten als geldgierigen Eigentümer von Produktionsmitteln, der Arbeiter beschäftigt – allein, um sich den «Mehrwert» ihrer Arbeit anzueignen und immer mehr «Kapital» zu akkumulieren. In seinem Gefolge werden auch heute Kapitalakkumulation und damit einhergehende soziale Ungleichheit als Voraussetzungen für die Erzeugung von Massenwohlstand verkannt oder gar als skandalös denunziert.
Für Marx war es die Arbeit des Arbeiters, die den Wert eines Produktes und seinen Mehrwert schafft, dessen er dann angeblich vom Kapitalisten beraubt wird. In Wirklichkeit jedoch schafft der Kapitalist den Mehrwert der Arbeit des Arbeiters. Das tut er nicht uneigennützig, denn er will Geld verdienen. Doch ohne die unternehmerische Vision des Kapitalisten, seine organisatorische Leistung, seine Antizipation von Bedürfnissen der Konsumenten und von Marktchancen, ohne die von ihm angestossenen technologischen Neuerungen und schliesslich ohne das von ihm getragene Risiko – Unternehmer, die sich verschulden, haben keine verborgene Schatztruhe – wäre die Masse der Menschen des 19. Jahrhunderts verhungert oder nie geboren worden.
Der Wert eines produzierten Gutes stammt nicht aus der dafür verwendeten Arbeit, sondern aus der Wertschätzung der Konsumenten. Ihre Bedürfnisse und Präferenzen zu entdecken und in produktive Arbeit umzusetzen, ist die Leistung des Unternehmers oder «Kapitalisten». Der Arbeiter, der für diese vom Kapital geschaffene Arbeit einen Lohn erhält, ist der Nutzniesser.
Der Kapitalismus war im 19. Jahrhundert für Hunderttausende die Rettung. Das grösste Elend herrschte auf dem Land. Wo es Industrien gab, ging es den Leuten besser. Trotz Elend und Kindersterblichkeit: Der Lebensstandard begann mit der Zeit selbst in den Industriestädten zu steigen, obwohl das Bevölkerungswachstum enorm war. Die kapitalistische Dynamik erlaubte immer mehr Arbeitern ein nach damaligen Massstäben würdiges Leben.
Noch nie zuvor hatte es eine nachhaltige Kombination von starkem Bevölkerungswachstum und steigendem Lebensstandard gegeben. Nur dank stetig ansteigender Arbeitsproduktivität wurde sie möglich. Auch die Überwindung der Kinderarbeit – ein jahrhundertealtes Übel – wurde dem modernen Kapitalismus nicht einfach abgetrotzt, sondern durch ihn erst erreichbar, auch wenn es hierfür einiger Jahrzehnte bedurfte.
Die Unternehmer: Wirksame Wohltäter
Viele Zeitgenossen sperren sich oft aus emotionalen Gründen, oder weil sie von persönlichen Abstiegsängsten geplagt sind, gegen ein nüchternes Bild der Geschichte. Deshalb interpretieren sie heutige Zusammenhänge einseitig. Sie denken auch in Fragen der Globalisierung und zunehmenden Automatisierung und Digitalisierung immer noch mit von Marx programmierten Gehirnzellen. Denn sie sind fixiert auf Ungleichheiten, gleichzeitig aber blind gegenüber der Tatsache, dass auf unserem Planeten Wohlstand und Lebensqualität permanent ansteigen, Armut sich global verringert – auch wenn es kurzfristig immer Verlierer gibt. Sie sehen nicht, dass die Lektion der Geschichte auch für die heute noch in Armut lebenden Länder gilt. Gesicherte Eigentumsrechte und die dadurch ermöglichte Entwicklung von Kapitalismus und Unternehmertum sind auch für sie der Weg zu einem Leben in Würde und Wohlstand.
Selbst Verfechter des freien Marktes erkennen oft nicht, welch grundlegendes Faktum Marx mit seinem Werk aus unserem Alltagsbewusstsein zu verdrängen vermocht hat: die «Arbeit des Kapitals», die Leistung des kapitalistischen Unternehmers. Da gibt es – wie überall – Versager, Betrüger und Schlitzohren. Beispiele dafür wird man immer finden, und der skandalhungrige Wohlstandsbürger stürzt sich genüsslich auf sie. Damit macht er es sich jedoch zu leicht. Die meisten Kapitalisten sind anständige, einfallsreiche, jedenfalls wirksame Wohltäter der Gesellschaft. Ihr Engagement, bei dem sie selbst am meisten zu verlieren haben, ist die Ursache des Wohlstands der breiten Massen – auch auf globaler Ebene.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. Mai 2018, S. 39. Online Version hier.