Die gegenwärtige Finanz- und Schuldenkrise in Europa wird nach Markus Krall in einem totalen Desaster für Europa enden (Dr. Markus Krall: Der Draghi Crash, München 2017). Das zu Recht viel gelobte Werk sieht aber nur die große Katastrophe als „Lösung“. Die Wirklichkeit ist zum Glück hoch komplex. In dem „Durchwursteln“, als das die heutige Politik beschrieben wird, zeichnen sich andere Auswege ab. Die plausibelste Variante ist wohl eine steigende Inflation, die sogar von der EZB herbeigewünscht wird. Dabei wird Europa aber viel vom einstigen wirtschaftlichen und politischen Glanz einbüßen.
Immer mehr Nullen
Nach einer Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom Oktober vergangenen Jahres betragen die schlechten Kredite in den Büchern der europäischen Banken ca. 960 Milliarden US-Dollar. Für Markus Krall ist das eher optimistisch. Er rechnet allein für Italien mit rund 550 Milliarden Euro und für ganz Europa mit mehr als 1.500 Milliarden Euro. Dazu kommen gemäß Krall noch einmal ca. 1.000 bis 1.500 Milliarden Euro notleidender Kredite, die noch nicht fällig sind, aber mit großer Wahrscheinlichkeit verloren sein werden. Mit steigenden Zinsen wird die Zahl der Unternehmenspleiten dramatisch zunehmen: Viele Unternehmen können sich nur dank der tiefen (in keiner Weise marktgerechten) Zinsen über Wasser halten. Steigen die Zinsen „tauchen sie unter“, gehen also über kurz oder lang Konkurs.
Wie weiter?
Krall ist überzeugt, die EZB werde so weitermachen wie bisher. Er glaubt aber nicht, dass dies ewig dauern kann, der „Draghi-Crash“ sei dann unvermeidlich. Er meint damit, dass ein großer Teil der Banken wegen des riesigen Berges an notleidenden Krediten Konkurs gehen werde. Eine Rettung durch den jeweiligen Staat, wie dies zuletzt in Italien mit der Bank „Monte dei Paschi“ geschah, könnten auch die Staaten nicht mehr tragen. Einziger Ausweg sei ein umfangreiches Maßnahmenpaket: 1) Umwandlung der Schulden der Euro-Staaten in Aktien, 2) Verbesserung der Risikotragfähigkeit der Banken durch Deregulierung und bessere Kapitalisierung, 3) Stabilisierung der Lebensversicherungen und Pensionskassen, 4) Reformierung der Governance des Euro und 5) Rückkehr zu marktgerechten Zinsen. Für die erste Maßnahme schlägt Krall zudem vor, dass eine europäische privatwirtschaftlich geführte und organisierte Schulden- und Privatisierungstreuhand geschaffen wird.
Komplexe Realität
Dieses auf den ersten Blick bestechende Rettungspaket wäre politisch nur realisierbar, wenn Politik und Öffentlichkeit tatsächlich zur Überzeugung gelangten, dass ein Crash ansonsten unvermeidbar wäre und so verheerend ausfiele, dass absolut keine andere Lösung mehr möglich wäre. Einzelne Mitgliedstaaten werden sich beispielsweise mit allen Mitteln wehren, der Treuhandgesellschaft staatliche Unternehmen (z.B. Eisenbahnen, Elektrizitätsgesellschaften, Mineralölfirmen etc.) zur Privatisierung zu überlassen, wobei die Erlöse direkt durch die Treuhandgesellschaft zur Schuldentilgung verwendet würden. Es zeichnen sich bereits Wege zum weiteren Durchwursteln ab.
Denn inzwischen verzeichnen alle Euro-Länder ein Wachstum, das sogar etwas höher ist als in der Schweiz oder in den USA. Damit verbindet die EZB die Hoffnung auf ein Anziehen der Inflation. Dies würde dann eine kleine Erhöhung der Zinsen erlauben. An der Dauer dieses Wachstums sind aber Zweifel angebracht, da die Produktionsstruktur in einzelnen Ländern wegen der „hyperkeynesianischen“ Politik sehr verzerrt sein dürfte. Wie schon oben erwähnt, haben wegen der niedrigen Zinsen Unternehmen überlebt und produzieren weiter, die unter normalen Bedingungen längst Konkurs gegangen wären. Immerhin liefert diese Entwicklung der Politik neue Ausreden, um mehr oder weniger weiter zu fahren wie bisher.
Sollte das gegenwärtig leichte Wachstum andauern, könnte die EBZ daher evtl. bereits im September eine leichte Anhebung der Zinsen verfügen. Dies brächte aber längerfristig die am meisten verschuldeten Länder in noch größere Schwierigkeiten. Sollte die EZB zudem ihren Ankauf von Anleihen solcher Länder bremsen, stünde für Griechenland oder Italien ein Staatsbankrott vor der Tür. Auch Frankreich, das sich gerne als „grande nation“ neben Deutschland sieht, würde immer weniger vernebeln können, dass es ebenfalls zu den Kranken in Europa gehört. Dann käme eine kräftigere Inflation sehr gelegen. Prof. Ernst Baltensperger nannte in einem Artikel in der Weltwoche vom 22.2.2017 die EZB in diesem Zusammenhang einen „malade imaginaire“. Europa leide nicht an einem Mangel an Geld, sondern an Strukturproblemen und fehlender Reformbereitschaft.
Inflation als „Heilmittel“…
„Weiter wie bisher“ geht nur mit Inflation. Sie bringt die Schuldenberge zum Schmelzen. Dies ist der wahre Grund, weshalb die EZB dauernd über die gegenwärtig tiefe Inflation jammert. Sie bauscht das Deflationsrisiko geradezu grotesk auf, während die Inflation von der Zentralbank herbeigesehnt wird: just von der Zentralbank, die eigentlich für einen stabilen Geldwert sorgen soll!
Die EZB – das darf man hoffen – will natürlich keine galoppierende Inflation, aber in den siebziger und achtziger Jahren betrug sie in vielen europäischen Ländern beinahe 10%, in einigen fast das doppelte. Mit 10%-Rendite verdoppelt sich ein Vermögen in rund 7 Jahren, und eine Schuld verliert umgekehrt in diesem Zeitraum die Hälfte ihres realen Werts. Das heißt ein Staat, der ein Volkseinkommen von 100 Einheiten (E) hat und Schulden von ebenfalls 100E, erlebt bei 10% Inflation in rund sieben Jahren ein Wachstum seines Einkommens auf nominal 200E, die Schulden bleiben aber bei 100E, also nur noch 50% seines Einkommens.
…mit schlimmen Nebenwirkungen
Trotz dieses positiven Effekts der Inflation schafft sie weit mehr Probleme als sie löst. Um nur einige zu nennen: Wer nicht ein großes Vermögen oder Schulden hat, gehört zu den Verlierern. Konsumenten, deren Einkommen nicht im Gleichschritt mit der Teuerung zunimmt – das ist die Mehrheit der Bevölkerung –, erleiden Kaufkraftverluste. Dauert z.B. eine Inflation von „nur“ 5-10% mehrere Jahre, werden Teile dieser Bevölkerungsschicht verarmen. Die Inflation schwächt auch die Wettbewerbsposition einer Volkswirtschaft auf dem Weltmarkt. Die Inflation ist also ein Heilmittel mit zu vielen und zu großen Nebenwirkungen.
„Dämmerung“ statt Crash
Europa wird ohne eine Radikalkur seine einstige Stellung in der Weltwirtschaft verlieren und ins Mittelmaß absinken. Krall stellt in seinem Buch die These auf, dass die Politik der EZB „Europa an den Rand seiner zivilisatorischen Existenz bringen wird.“ Das ist eine extreme Entwicklung, die nicht unmöglich, aber eher unwahrscheinlich ist. Plausibler scheint mir die Meinung von Beat Kappeler. Er sagte dazu schon 2014 in einem Vortrag: „Es ist in Euroland nicht plötzlich dunkel vor den Fenstern, sondern in fünf bis zehn Jahren herrscht sanfte Dämmerung. ‚Don’t cry for Argentina.‘ Aber schluchzt doch ein bisschen für Europa.“