Die EU nervt ihre 450 Millionen Einwohner, das sehen die Wahlkommentare der Medien, das sehen weniger die Politiker ein. Aber neben den großen Themen der Migration, der Inflation gibt es auch die kleinen, ins tägliche Leben schneidenden EU-Diktate.
Die EU-Kommission ist wohl geschmeichelt, wenn diese invasiven Maßnahmen bemerkt werden, denn einer der Zwecke ist es auch, die EU-Staatlichkeit direkt spüren zu lassen, täglich, viertelstündlich, bei allen 450 Millionen Einwohnern.
Im Moment tauchen mehr und mehr seltsame Verschlüsse der Plastik-Flaschen auf, man kann die Dinger kaum mehr richtig öffnen. Das schreibt aber eine Richtlinie des Jahres 2019 vor, welche diesen Sommer in Kraft tritt (RL 2019/904). Der abgrundtiefe Sinn der Schikane ist es, das Wegwerfen der Deckelchen als einzelnen Plastic-Müll zu verhindern.
Schutzdeckel und Fürsorge aus Brüssel
Eine andere tägliche und vielfache Last jedes Internetnutzers sind die obligaten Klicks, mit denen man die Cookies annehmen oder ablehnen soll. Auch dies eine lächerliche Bevormundung der Bürger, die doch selbst auf ihren Geräten bequem festlegen können, ob sie Filter gegen Cookies oder Tracker haben wollen oder nicht. Es braucht keinen solch allgemeinen, vorgeschriebenen Wall. Meine Filter im PC haben gerade heute schon mal 44 Tracker unterbunden – ohne den dicken Finger der EU-Kommission und ihrer Richtlinien. Schweizerische Webseiten kann man öffnen, auch ohne zu klicken, etwa jene der Regierung, während das Bundeskanzleramt den Bürger zuerst mit komplizierter Fragerei aufhält.
Die EU-Kommission ist wohl geschmeichelt, wenn diese invasiven Maßnahmen bemerkt werden, denn einer der Zwecke ist es auch, die EU-Staatlichkeit direkt spüren zu lassen, täglich, viertelstündlich, bei allen 450 Millionen Einwohnern. Die meist hochtrabenden Worte der meisten EU-Webseiten lassen daran keinen Zweifel – die Bürger müssen alle unter den umfassenden Schutzdeckel aus Brüssel und sollen ihn als Fürsorge schätzen.
Der europäischer Binnenmarkt braucht keine Zentrale
Vom Alltag nun zum Grundsätzlichen. Diese Regulierungswelle der EU hat Geschichte, sie fing einmal an, und es gab eine EU ohne sie, als genau gleich wirksamer Binnenmarkt. Denn eines der wenigen wirklich liberalen Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) statuierte 1979, dass die nationalen Gütervorschriften europagenügend seien und dass das, was national zirkulieren dürfe, auch europaweit vertrieben werden könne.
Der Streitpunkt war der französische Likör „Cassis de Dijon“, den Deutschland nicht zulassen wollte – aber der EuGH beseitigte damit alle Hürden des Binnenmarkts (Rechtssache 120/78). Auf einen Schlag war die EU (damals noch EWG) ein umfassender Freihandelsraum. Freihandelsräume brauchen keine Zentrale, keine weiteren Regulierungen. DIE EFTA oder der neue, riesige asiatische Freihandelsraum CPTPP haben ganz kleine Sekretariate.
„Gleich lange Spieße“: das Rasenmäher-Prinzip
Die EU-Kommission aber hatte größere Ambitionen – sie und die Verfechter eines regulierten Europa erreichten 1987 die „Einheitliche Europäische Akte“, eine Vertragsrevision, welche für Binnenmarktregeln nur noch eine Mehrheit, nicht die Einstimmigkeit der Mitglieder verlangte. Sofort trat die EU-Kommission eine Welle von Richtlinien los, um diesen Binnenmarkt zu regulieren, und die meist eine Mehrheit der Ministerräte fanden. Seither steigert sich diese Welle – neustens etwa in den Richtlinien zu den Lieferketten, Medizinprodukten, Digital Services, Nachhaltigkeitsberichterstattung (1144 Punkte), Überwachung der Autofahrer in der Fahrkabine, Reparaturen und Rücknahmen, und tausend anderes.
Eines der Argumente, neben – wie immer – der Sicherheit, neuestens auch der Umwelt, ist aber das „level playing field“, sind die gleich langen Spieße, welche alle Firmen des Binnenmarktes haben sollen. Als die EU das offene Cassis-de-Dijon-Prinzip durch lückenlose Regulierungen ersetzte, schritt sie vom „Wettbewerb der nationalen Lösungen“ zum Rasenmäherprinzip völlig gleicher Verhältnisse von Porto bis Tallinn. Und die zentralen Instanzen der EU haben damit unerhörte Macht gewonnen.
Sie können nun – wie einleitend an zwei Beispielen geschildert – das tägliche Verhalten von 450 Millionen detailliert regeln, und sie nerven. Sie können die europäischen Firmen in Zwänge nie gesehener Kontrollen und Berichtspflichten setzen, mit enormen Kosten einer intern aufzubauenden Bürokratie belasten. Der Euroraum wird zu einem Hochkostenblock, starr festgezurrt, der deshalb mit immer mehr Mauern gegen außen „geschützt“ werden soll. Adieu weite Welt.
Deutschlands Gang nach Canossa: Unterwerfung unter die Hoheit des EuGH
Das Wissen um diese grundlegende, verderbliche Entwicklung und ihre seinerzeitigen Weichenstellungen ist gering. Das Jahr 1979 mit dem Cassis-de-Dijon-Prinzip ist ferne, ist vergessen, die Bedeutung des Einschnitts wird von den Brüsseler Behörden bewusst heruntergespielt. Mit einem Bruchteil des Aufwands aber für die Regulierung wie heute könnte die Kommission jenen freien Marktzutritt gemäß Cassis-de-Dijon überwachen, den es vor 1987 schon gab. Aber fast ganz „Brüssel“ wäre dann unnötig.
Wie wenig die aktuelle europäische Entwicklung als Etappe in der Geschichte wahrgenommen wird, zeigt sich in einem kruden Vergleich: die meisten halbwegs Gebildeten des Kontinents, und Deutschlands insbesondere, können irgendwie schildern, was der „Gang nach Canossa“ bedeutete – der deutsche König Heinrich IV. anerkannte Gregor VII. als rechtmäßigen Papst, um dessen Bann zu lösen, vor der Burg Canossa, im Schnee stehend.
Doch wer hat wahrgenommen, dass im Frühjahr 2021 das deutsche Verfassungsgericht dem EuGH auf die Finger klopfte, er habe mit der Billigung der frivolen Geldschöpfung der Europäischen Zentralbank seine Kompetenzen klar überschritten („ultra vires“), also die EU-Verfassung gebrochen. Sofort klagte die EU-Kommission Deutschland wegen Verfassungsbruchs ein, wenn es die Hoheit des EU-Gerichts bestreite. Und siehe da, anfangs August 2021 knickte die deutsche Regierung ein, unterwarf sich per Briefpost, nicht im Schnee stehend, dem EuGH. Canossa war in ferner Feudalzeit, und nur der Regent beugte sich für sein Verhalten. Der Kotau Deutschlands aber unterwarf den ganzen Staat dem supranationalen EuGH. Das ist unbekannte Gegenwart, wird aber auch Geschichte.
Zurück zu den Grundsätzen des Binnenmarktes
Wenn größere Teile der Wählerschaft ihre Unbehaglichkeit mit der EU nun bei den Wahlen äußerten, dann gehen die Verantwortlichen besser zu den Grundsätzen zurück, sehen die sich steigernden Fehlentwicklungen an und betrachten besser die Geschichte der letzten 50 Jahre als eine, aber nicht die einzige Möglichkeit des Binnenmarkts und des Kontinents. Typisch für die Blindheit davor muss Präsident Macrons Beschluss nationaler Neuwahlen gelten. Er weicht mit einer reinen Formsache, national, den materiellen, europäischen Verwerfungen aus. Das hat der Kontinent nicht verdient, die Franzosen auch nicht.
P.S. vom 25.6.2024
Soeben kündigte Apple an, die neuen Möglichkeiten künstlicher Intelligenz nicht in die für die EU bestimmten Geräte einzubauen, weil der bekannte Wall an Regulierungen bestehe. Das sind bessere Übersetzungshilfen, sich korrigierende, vom Nutzer lernende Einstellungen, fokussierende Dienste etc., aber mit der Zeit auch ein Web-Suchdienst, der Google konkurrenzieren wird. Damit erweist sich die besserwisserische „Technologiepolitik“ der EU-Kommission als Schuss in den eigenen Fuß. Außerdem zeigt sich, dass die Milliardenbußen und Regulierungen gegen Apple, Google und die anderen US-Konzerne nicht mehr Wettbewerb schaffen, sondern die Techniken gleich abschaffen. Diese Tech-Giganten pflegen in den USA einen intensiven „oligopolistischen Wettbewerb“, in welchem sie sich nichts schenken, der aber den Fortschritt antreibt. Mit dem neuesten Entscheid von Apple drohen die Europäer gerade nicht einen adäquaten Suchdienst zu Google bei Apple zu bekommen, was aber die EU-Kommission mit ihren Riesenbußen und Regulierungen zu erreichen hoffte. Außerdem sinkt Europa im technologischen Stand vielleicht gar unter Niger, wo die Apple-Phones intakt erhältlich sein werden…