Zur Lösung der Probleme der hoch verschuldeten Euro-Staaten, vor allem Griechenlands und Italiens, wurde oft argumentiert, das Beste wäre ein Austritt dieser Länder aus der Euro-Zone. In einigen Ländern glaubt die Bevölkerung, an allen Problemen sei der Euro schuld, heute vor allem in Italien. Neuerdings ist nun die Idee lanciert worden, Deutschland solle das Euro-System verlassen und wieder eine eigene Währung einführen.
Als ein großes Problem der Euro-Krise werden heute die so genannten Target-Salden angesehen. Target ist die Abkürzung für die englische Bezeichnung des Zahlungssystems, über das die grenzüberschreitenden Zahlungen zwischen den Banken im Euroraum abgewickelt werden. Wenn beispielsweise ein italienisches Unternehmen deutsche Waren kauft, gibt es seiner Hausbank den Auftrag, den deutschen Lieferanten zu bezahlen. Die italienische Bank belastet damit ihr Konto bei der italienischen Zentralbank, die den Betrag an die europäische Zentralbank (EZB) weiterleitet, und diese schreibt das Geld der deutschen Bundesbank gut. Die deutsche Bundesbank macht schließlich eine Gutschrift zugunsten der Bank des deutschen Lieferanten. So entsteht eine Schuld der Italienischen Zentralbank gegenüber der EZB und entsprechend eine Forderung der deutschen Bundesbank an die EZB. Diese Forderungen der deutschen Bundesbank an die EZB wurden früher durch Kapitalflüsse kompensiert, sodass die Positionen der verschiedenen Zentralbanken gegenüber der EZB meist glattgestellt waren. Heute haben Investoren aus Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden wenig Interesse, in den Problemländern (Griechenland, Italien, Spanien, Portugal) zu investieren, d.h. die Kaptalflüsse zur Kompensation der Exportüberschüsse sind viel zu gering. Damit bleiben die Zentralbanken der Länder mit einem positiven Target-Saldo auf ihren Forderungen gegenüber der EZB sitzen.
Sind die Target-Salden eine Falle?
Gegenwärtig erreichen die Forderungen der deutschen Bundesbank den unvorstellbaren Betrag von rund tausend Milliarden Euro. Für Luxemburg beläuft sich dieser Saldo auf etwa 220 Mrd. und für die Niederlande auf gut 100 Milliarden Euro. Gemessen an der Bevölkerungszahl und am Bruttoinlandprodukt ist dieser Saldo für Luxemburg noch deutlich höher als für Deutschland. Heute ist ein großer Teil dieser Forderungen als verloren zu betrachten. Nach allgemeinen Bilanzierungsregeln müsste eine Geschäftsbank in ihrer Bilanz eine Rückstellung für derart unsichere oder gar wertlose Aktiva verbuchen.
In Deutschland hat der emeritierte Wirtschaftsprofessor Hans-Werner Sinn in seinem Buch „Die Target-Falle“ (München 2012) und seither in verschiedenen Fachbeiträgen die Gefahren dieser riesigen Forderungen für die deutsche Bundesbank und für den deutschen Steuerzahler dargestellt. Er wurde dafür auch heftig kritisiert. Sowohl Hans-Werner Sinn als auch seine Kritiker haben – oder wollten – übersehen, dass es keine Vorschriften zur Tilgung der Target-Salden gibt. Die Target-Forderungen können nicht fällig gestellt werden. So sind sie wohl auch schwer einzuklagen. Es ist erstaunlich, dass die Kritiker von Prof. Sinn nicht Klartext reden, indem sie klar darauf hinweisen, dass diese Salden kaum einzutreiben sind. Sinn selbst weist wenigstens darauf hin, dass diese Forderungen nicht fällig gestellt werden können. Die EZB und damit wohl auch einige der Kritiker von Sinn gehen offensichtlich davon aus, dass diese Forderungen eben bis zum Sankt Nimmerleinstag stehen bleiben, weil sie ja nicht eingeklagt werden können. Wenn dann die Problemländer eines Tages blühende Volkswirtschaften haben werden, wird ja sowieso alles anders sein…
Wirklich aufblühen können die Volkswirtschaften der Problemländer aber nur, wenn einige dringende Reformen verwirklicht werden, vor allem auf dem Arbeitsmarkt. Ein Kündigungsschutz jenseits der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, ausgehend von sozialen Erwägungen statt der ökonomischen Realität, gehört in die Mottenkiste. Die politischen Schwierigkeiten, solche Reformen anzugehen, sind auch das Ergebnis vulgärkeynesianischen Denkens: Geld drucken erspart die Mühsal heilsamer Reformen. So ist es klar, dass die Problemländer immer mehr Geld von ihren eigenen Notenbanken drucken lassen, statt es sich zu normalen Zinsen in anderen Ländern leihen zu müssen. Es bleibt dann aber auch Tatsache, dass sie Waren und Dienstleistungen aus Ländern mit einem Handelsbilanzüberschuss importieren, die diese Länder selbst bezahlen!
Wege zu einer Lösung: Wachstum durch billiges Geld?
Den Kern der extremen Target-Salden bilden die nicht dem jeweiligen Risiko angepassten Zinsen. Wegen der niedrigen Zinsen verdienen die Banken pro Kredit weniger als bei normalen Zinsen. So haben viele wider besseres Wissen zügellos Kredite vergeben, denn das Geld bei der Zentralbank liegen lassen ist für die Banken nicht interessant, weil dieses Geld nicht verzinst wird. Damit wird das Volumen der faulen Kredite erhöht, weil viele Schuldner die heutige Zinslast noch tragen können. Mit irgendwann wieder steigenden Zinsen schaffen sie es dann nicht mehr. Die Zentralbank als „lender of last resort“ wird aber wahrscheinlich weiterhelfen und neues Geld drucken, statt die Bank in Konkurs gehen zu lassen.
Eine „Lösung“ ist die heute praktizierte Strategie der EZB, die oben im Zusammenhang mit den Target-Salden bereits teilweise beschrieben worden ist. Die EZB geht wie erwähnt davon aus, dass die Länder mit positiven Target-Salden (Forderungen gegenüber der EZB), wie etwa Deutschland, Luxemburg, Niederlande oder Finnland, keine andere Wahl haben, als diese Forderungen ruhen zu lassen. Zur Linderung hofft die EZB sehnlichst auf eine maßvolle Inflation, obwohl sie dies natürlich nicht zugibt. Eine Inflation lässt die Schulden eines Landes kleiner werden, die Schuldenquote im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt sinkt. Ein damit einhergehendes Wachstum, auch wenn es gering ist, wirkt in der gleichen Richtung. Das Vertrauen der Investoren nimmt langsam wieder zu. So braucht es dann einfach Geduld, bis die Schuldenquote auf ein tragbar scheinendes Niveau sinkt. Dazu braucht es außerdem in den Problemländern Strukturreformen, die eine langsam sinkende Staatsquote mit sich bringen sollten.
Die Anzeichen eines höheren Wachstums in den Problemländern in der ersten Hälfte 2018 haben sich zumindest in Italien wieder verflüchtigt, es erlebt bereits wieder eine leichte Rezession. Das Rezept der gegenwärtigen Regierung Italiens, die Wirtschaft mit einer höheren Staatsverschuldung anzukurbeln, wird trotz des Kompromisses mit der EU sicher nicht erfolgreich sein, weil die Regierung dringend notwendige Reformen, die oft schmerzhaft sind, vor sich herschieben wird. Außerdem sind aus Sicht der Österreichischen Schule der Nationalökonomie staatliche Investitionen längerfristig schädlich, weil sie die Produktionsstrukturen weiter verzerren. Die augenfälligste Folge sind überrissene private und öffentliche Bauprogramme. Im Übrigen ist die private Investitionsneigung in diesen Ländern gering, was ja hinreichend ausdrücken sollte, dass eine Ankurbelung der Wirtschaft mit billigem Geld nicht mehr funktioniert. Das zeigt sich auch in der auf einem niedrigen Niveau verharrenden Inflation. Diese heutige Praxis der EZB ist leider der wahrscheinlichste Weg, der sicher keine Lösung der Probleme bringt.
Problemländer-Exit aus der Eurozone?
Ein zweiter Weg könnte der Austritt der Problemländer aus der Eurozone sein. Die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP ist in Griechenland, Spanien und Portugal seit zwei Jahren leicht zurückgegangen und wird dies gemäß Prognosen der EU weiter tun. In Italien wird sie, geht es nach dem Willen der gegenwärtigen Regierung, noch weiter zunehmen. Deswegen bestand ein Konflikt zwischen der EU und Italien. Nun wurde aber ein „fauler Kompromiss“ gefunden: Italien hat im Budgetstreit mit der EU ein wenig eingelenkt (Defizit nur 2,0 statt 2,4% des BIP, erwartetes Wachstum des BIP nur 1,0 statt 1,5%). Im Gegenzug verzichtet die EU-Kommission vorerst darauf, die Einleitung eines Defizitverfahrens zu empfehlen.
In Italien hat eine Gruppe um den gegenwärtigen Europaminister Paolo Savona einen „Plan B“ entwickelt, der einen raschen Austritt des Landes aus der Euro-Zone vorsieht. Dabei sollen aber die öffentlichen Schulden respektiert werden, ebenso Gesetze und internationale Abkommen. Außerdem will man die EU-Partnerländer möglichst kurz vor dem Austritt informieren. Die neue Lira würde anfangs einem Euro entsprechen. Es wird dann eine Abwertung von 15 – 25% erwartet. Dieser Plan wurde schon 2015 vorgestellt. Allerdings hat Savona, einst Ökonomieprofessor und Währungsspezialist, kürzlich den Euro für Italien als „unverzichtbar“ bezeichnet, was aber auch Teil seiner Strategie sein könnte… Ein Austritt Griechenlands oder Spaniens wäre wegen der deutlich niedrigeren Schulden bei der EZB weniger dramatisch. Auch ein Austritt Italiens ist nicht auszuschließen, je nach Entwicklung der Kräfteverhältnisse in der italienischen Politik.
Ein atmender Euro?
Ein dritter Weg, ein 16 Vorschläge umfassendes Programm von Hans-Werner Sinn, knüpft hier sozusagen an. Ein zentraler Punkt ist die Möglichkeit eines Landes, den Euro zu verlassen, um nach einer Gesundung der Wirtschaft wieder beizutreten: der „atmende Euro“. Einen weiteren Punkt dieses Programms bilden Vorschriften für die Abwicklung der Insolvenz eines Euro-Mitgliedlandes. Dazu kann zur Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit ein temporärer Austritt dieses Landes aus dem Euro möglich sein. Weiter soll die EZB nur noch Staatspapiere mit einem erstklassigen Rating kaufen dürfen, d.h. ihre Geldpolitik soll die Risiken stark reduzieren. Außerdem fordert Sinn, dass die Stimmrechte im EZB-Rat nach der Größe der Haftung der Länder vergeben werden. Entscheidungen des EZB-Rates, die einen umverteilenden Charakter haben, wären in Zukunft mit einer Mehrheit von 85 Prozent der Stimmen zu treffen. So sollen die reichen Euro-Staaten nicht mehr von den Problemländern überstimmt werden können. Target-Schulden müssten künftig durch Gold oder erstklassige Staatspapiere getilgt werden. Die übrigen Vorschläge sind geldpolitisch nicht relevant. Diese vernünftig scheinenden Vorschläge von Prof. Sinn könnten eine echte Lösung bringen. Sie sind aber wegen der vielen Entscheidungsträger kaum umsetzbar.
Austritt Deutschlands aus dem Euro?
Eine vierte Möglichkeit sieht gewissermaßen das Gegenteil vor: Deutschland als das größte und stärkste Mitglied der Eurozone soll den Euro verlassen! Diese Idee hat Ashoka Mody (62) in seinem kürzlich erschienenen Buch „Euro Tragedy – A Drama in Nine Acts“ (Oxford University Press 2018) entwickelt. Mody forscht und lehrt als Visiting Professor an der Princeton University. Zuvor war der gebürtige Inder beim Internationalen Währungsfonds Vize-Direktor für Forschung und Europa. In dieser Zeit war er direkt am Rettungsprogramm für Irland beteiligt. Für Deutschland wäre dieser Weg zwar schmerzhaft, aber das Land ist wirtschaftlich in einer so guten Verfassung, dass es diesen Schritt verkraften könnte. Mody glaubt, Länder wie die Niederlande und Österreich würden sich anschließen, weil sie in einem „Mittelmeereuro“ bei einem eventuellen neuen Rettungsprogramm viel zu zahlen hätten.
Diese nur scheinbar verrückte Lösung wäre bei Licht besehen weitaus einfacher zu verwirklichen als die anderen genannten Wege, weil sie nur die Entscheidung einer einzigen Regierung voraussetzt. Ein „Rest-Euro“ würde gegenüber der „neuen D-Mark“ klar abgewertet. Denn Deutschland hat sich seit 1995 im Vergleich zu den anderen Euroländern und dem Dollar stark verbilligt. Das hat die riesigen Exportüberschüsse Deutschlands verursacht, aber auch die Verbraucher geschädigt, weil sie die Importwaren teurer bezahlen müssen. Deutschland verschleudert seine Produkte zulasten des Wohlstandes der Bevölkerung. Zudem fördert die Unterbewertung den Ausverkauf von Immobilien, Aktien und Firmen an die Investoren aus China und anderen Ländern. Der Austritt Deutschlands würde durch einen mutigen aber vernünftigen Entscheid einer einzigen Regierung den Markt entfesseln und so den Weg frei legen für eine der ökonomischen Realität entsprechende Währungsordnung. Es würden sich wahrscheinlich neue Währungsräume bilden, z.B. neue D-Mark, Nord-Euro (Niederlande, Finnland etc.) und ein Süd-Euro (Problemländer, Frankreich). Diese neuen Währungen würden ohne Vorschriften betreffend Budgetdefizit, Schuldenquote etc. funktionieren. Der Markt wird schnell und im richtigen Maß auf Probleme in einem Währungsraum reagieren und viel disziplinierender wirken als Vorschriften, die dann, wie die Maastricht-Kriterien gezeigt haben, ohnehin nicht oder nur selektiv eingehalten werden.
Sicher bleibt: Der Euro hat nicht gehalten, was er versprochen hat, und er funktioniert nur noch dank massivem Bruch der Verträge, durch die er entstanden ist. Die Eurozone ist krank und eines Tages wird die Therapie erfolgen müssen. Die Frage ist nur, ob sie wie ein Schicksal, unkontrolliert, über uns kommen oder aufgrund einer bewussten Entscheidung und entsprechend kontrolliert geschehen wird. Wichtig ist jetzt vor allem, dass diese Diskussion stattfindet – sonst könnte es böse Überraschungen geben.