Religion ist nicht die Ursache von Gewalt – es sei denn, sie wird politisch

Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist der Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt in den Medien erneut Thema. Den religiösen „Normalverbraucher“ betrifft das allerdings wenig. Denn dieser hält weder Henkersbeile noch Maschinengewehre in der Hand, er zündet in der Regel auch nicht Scheiterhaufen an oder träumt von Massenvernichtungswaffen, um das Heil der Menschheit zu befördern. Viel eher widmet er sich in seiner religiösen Praxis verschiedenen Formen des Gebetes und nimmt an den rituellen Handlungen seiner Glaubensgemeinschaft teil. Und wenn er sich aus religiösem Impetus betätigt, dann tut er das eher caritativ als kriegerisch.

Vielen Zeitgenossen scheinen religiöse Wahrheitsansprüche besonders anfällig für Gewaltanwendung zu sein. Denn im Unterschied zu wissenschaftlichen Wahrheiten erheben Religionen einen Totalitätsanspruch. In der Tat stehen am Anfang der großen Offenbarungsreligionen Akte der Gewalt. Doch lohnt es sich, genauer hinzuschauen.

Doch wurden im Namen der Religion auch Scheiterhaufen angezündet, Kreuzzüge veranstaltet und gemordet. Man denke etwa an die Donatisten in der christlichen Antike und, im Hochmittelalter, die Katharer beziehungsweise Albigenser. Letztere wurden in blutigen Kriegen bekämpft, nicht allein aus religiösen Gründen, sondern weil sie eine akute politische Gefahr darstellten.

Vielen Zeitgenossen scheinen jedoch religiöse Wahrheitsansprüche besonders anfällig für Gewaltanwendung zu sein. Denn im Unterschied zu wissenschaftlichen Wahrheiten erheben Religionen einen Totalitätsanspruch. Jan Assmann wurde für seine These bekannt, monotheistische Religionen seien intrinsisch gewalttätig, weil sie auf „einem emphatischen Wahrheitsbegriff, der die Kategorie der Unvereinbarkeit impliziert“, beruhten.

Der barmherzige Gott

In der Tat stehen am Anfang der großen Offenbarungsreligionen Akte der Gewalt. Doch lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Die von Jahwe verlangte Opferung von Abrahams Sohn Isaak wurde bezeichnenderweise auf Geheiß desselben Gottes nicht durchgeführt, denn der Gott Abrahams war „ein barmherziger und gnädiger Gott“. Er machte Abraham aufgrund seines Gehorsams zum Stammvater einer universalen Verheißung. Der grausame Kreuzestod von Jesus von Nazareth wiederum steht gemäß christlichem Selbstverständnis deshalb im Zentrum, weil er aus freien Stücken gewählt und nicht getan, sondern erlitten wurde. Dies aus Liebe Gottes zu den Menschen, die sich im menschgewordenen Gottessohn und schließlich am Kreuz offenbart.

Wer es nicht ohnehin schon weiß, kann es von René Girard lernen: Dadurch, dass sich der Gekreuzigte selbst zum Sündenbock und Opfer macht, erlöst er die Menschheit – erlöst sie auch von Gewalt als Mittel der Gottesverehrung. Denn das grausame Geschehen legitimiert niemanden, anderen Ähnliches anzutun – im Gegenteil.

Töten im Namen Allahs

Im Islam findet sich dafür keine Entsprechung. An seinem Beginn steht der Empfang eines Buches aus den Händen des der jüdischen Tradition entstammenden Erzengels Gabriel und die durch den Propheten persönlich vorgenommene Massakrierung der Juden von Medina, welche die in dem Buch enthaltene Botschaft und ihren Propheten Mohammed abgelehnt hatten. Denn ein barmherziger und gnädiger Gott ist Allah nur für die Gläubigen. Während die frühen Christen nach Widerstand gegen ihre Predigt in den jüdischen Synagogen den Staub von ihren Füssen schüttelten und weiterzogen, griff Mohammed zum Säbel.

Zur Ursprungserzählung des Islam gehört deshalb das Töten Ungläubiger im Namen Allahs – so steht es als Weisung auch im Koran. Die christliche Ursprungserzählung hingegen ist die aus Liebe vollzogene Selbsthingabe des menschgewordenen Gottes für die Erlösung aller Menschen – eines Gottes, der in Jesus von Nazareth, von einer jüdischen Mutter geboren, selbst Jude wurde und sich nicht auf eine neue heilige Schrift, sondern auf die Verheißung an Abraham und das Gesetz des Mose, die jüdische Thora, berief.

Judenverfolgung durch die Kirche?

Man wird einwenden, auch die Kirche habe doch schließlich die Juden verfolgt. Nein, die Kirche hat die Juden nicht verfolgt, sie brandmarkte sie einst als „Christusmörder“ und schuf damit eine Theologie, die auch zu Hass und Verfolgung durch Christen führte. Vor Verfolgungen aber versuchte die Kirche die Juden zu beschützen, sie sollten – ausgegrenzt und rechtlich diskriminiert – als Zeugen der christlichen Wahrheit weiterleben und wenn möglich bekehrt werden. Gleichzeitig beschützte die Kirche die Christen vor dem angeblich schädlichen jüdischen Einfluss auf sie.

Diese „doppelte Schutzherrschaft“ bedeutete eine, wie wir heute wissen, verhängnisvolle Ausgrenzung, aber mit Verfolgung hat sie nichts zu tun. Die großen Judenvertreibungen waren zumeist politische Akte der Staatsräson, man denke an die Vertreibung der Juden aus England und später aus Spanien. Hinter den Judenpogromen verbargen sich zumeist eher unreligiöse Interessen politischer Art wie auch ganz normaler Neid und Missgunst.

Brutalität der Inquisition oder Rechtsfortschritt?

Und die Inquisition, die Kreuzzüge? Wer diese als Gegenargument anführt, sollte sich zunächst über den Stand der Forschung informieren, deren Ergebnisse, wie man sie etwa in Arnold Angenendts Standardwerk „Toleranz und Gewalt“ nachlesen kann, allerdings bis jetzt weder in Schulbüchern noch in den Medien zu finden sind. Die Inquisition beispielsweise war weder extrem grausam, noch hat sie, wie etwa Voltaire behauptete, Zehntausende dem Henker ausgeliefert.

Für heutige Maßstäbe oft geradezu bestialisch grausam war der damalige Strafvollzug durch die weltliche Gerichtsbarkeit. Dieser lag gerade nicht in den Händen der Kirche und hatte seinen Ursprung im altgermanischen Strafrecht. Die spanische Inquisition der frühen Neuzeit war eine politische Veranstaltung des Staates mit Kollaboration der Kirche. Zwischen 1540 und 1700 wurden insgesamt 826 Todesurteile vollstreckt. Das alles ist immer noch schrecklich genug, ist aber keineswegs geeignet, einen Kausalzusammenhang zwischen Religion und Gewalt zu belegen.

Die viel früher – im Hochmittelalter – eingerichtete römische Inquisition entstand, um an der Stelle des Übels spontaner Lynchjustiz des über die teilweise gewalttätigen Ketzer erbosten christlichen Volkes ein geordnetes Ermittlungsverfahren („inquisitio“) gemäß dem damals geltenden römischen Recht einzuführen. Die römische Inquisition bewahrte mit Sicherheit weit mehr Menschen vor dem Tod, als sie aufgrund ihrer Urteile an die weltliche Strafgerichtsbarkeit überstellte.

Der Kieler Rechtshistoriker Hans Hattenhauer bezeichnete in seinem Standardwerk „Europäische Rechtsgeschichte“ den mittelalterlichen Inquisitionsprozess im Vergleich zum vorhergehenden germanischen Prozessrecht als rechtskulturellen Fortschritt und Humanisierung des Strafprozessrechtes. Mit der „inquisitio veritatis“, der „Erforschung der Wahrheit als einer Tatfrage“, habe, so Hattenhauer, das „Zeitalter der Rechtswissenschaft“ begonnen. Allerdings: Da man anstelle anonymer Denunziationen aufgrund von Fakten urteilen wollte, suchte man Geständnisse zu erwirken – wenn nötig auch mithilfe der Folter. Mit Verweis auf die Inquisition jedoch einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt zu behaupten, entspringt historischer Unwissenheit oder ist billige Polemik.

Religion und Politik: Islam und Christentum im Vergleich

Religionen können jedoch auch intrinsisch politisch sein. Genau hier unterscheiden sich Christentum und Islam grundsätzlich: Der Islam ist eine im eigentlichen Sinne „politische Religion“: Er ist als Religion auch ein Rechts- und Gesellschaftssystem; mit der Scharia etabliert er eine politisch-rechtliche und soziale Ordnung. Anders das Christentum: Dieses versprach von Anfang an allein und ausschließlich einen Weg zum ewigen Heil und vertritt gerade deshalb eine klare Arbeitsteilung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Die antik-christliche Zivilisation leitete zudem ihr Rechtssystem nicht aus ihren Heiligen Schriften ab, sondern behielt das bisherige römische Recht bei.

Zugegeben: Auch die christliche Kirche gestaltete aufgrund ihrer Lehre der Suprematie des Geistlichen über das Weltliche im Laufe der Geschichte politische Ordnungen mit. Sie identifizierte sich aber nie endgültig mit einer bestimmten politischen Ordnungsform und entwickelte auf der Grundlage des römischen ihr eigenes, das kanonische Recht.

Aufgrund der ursprünglich-christlichen Trennung von Religion und Politik, von geistlicher und weltlicher Gewalt – „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser, und Gott, was Gott gehört“ –, konnte sie ihre Vermischungen mit den irdischen Gewalten immer wieder mit Berufung auf ihre Ursprünge korrigieren, oft unter dem Druck von Reformbewegungen aus ihrem eigenen Innern. Für den Islam jedoch ist gerade die Einheit von Religion, Recht und sozialer Ordnung und das damit verbundene öffentliche Gewaltmonopol Ursprung und Wesensmerkmal. „Islamismus“ und „politischer Islam“ sind keine extremen Sonderformen des Islam, sondern Islam in Reinkultur.

Nicht Religion, sondern die Logik der Politik verursacht Gewalt

Allerdings kann jede Religion politisch und gewalttätig werden, sobald sie sich mit politischen Interessen verbindet – etwa mit solchen nationalistischer Art. Im Verbund mit Nationalismus wird Religion leicht gewalttätig, oder besser: Nationalismus wird genau dann besonders aggressiv und gewalttätig, wenn er sich religiös legitimiert. Politik verbindet sich dann mit religiös-kulturellen Totalitätsansprüchen und ist bereit – sei es im Namen des Kreuzes oder im Namen Allahs –, buchstäblich über Leichen zu gehen.

Als von seinem Wesen und Ursprung her politische Religion ist der Islam in dieser Hinsicht gleichsam strukturell gefährdet. Da es ihm vornehmlich um die Ausweitung seines Herrschaftsgebietes – „Haus des Islam“ genannt – und weniger um die innere Konversion der Beherrschten geht, tolerierte er zwar im Laufe der Geschichte Juden und Christen als „Schutzbefohlene“ (Dhimmi), eine Art Bürger zweiter Klasse. Aufgrund seiner politischen Logik führte dies schließlich jedoch fast überall zu deren Vertreibung oder Ausrottung.

Das lässt die These plausibel werden, das palästinensische Nationalbewusstsein habe nur insofern zum mörderischen Gegner eines jüdischen Staates werden können, als es mit dem religiösen Anspruch des Islam als einer intrinsisch politischen Religion verbunden war. Die politische, nicht die religiöse Komponente, sofern diese beim Islam überhaupt unterscheidbar sind, begründet demnach den Konflikt. Genährt vom rassistischen Judenhass der Muslimbrüder macht die Verbindung von Islam und palästinensischem Nationalismus die Hamas besonders gefährlich und generierte so die im letzten Oktober sich manifestierende brutale Gewalt.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. Februar 2024. S. 31, und auf nzz.ch.

Siehe zum Thema auch den Artikel des Autors „Töten im Namen Allahs“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. 9. 2014, S. 53.

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