Newsletter November 2021: Was heißt, mit dem Virus leben zu lernen?

Vor wenigen Monaten schrieb ich in unserem Newsletter, wir müssten lernen, mit dem Virus zu leben. Und Politiker sollten den Mut haben, dem Bürger zugunsten eines freien und selbstverantwortlichen Lebens das Tragen von Risiken zuzutrauen. Eine Überlastung des Gesundheitssystems sei kaum mehr zu befürchten.

Offenbar war das etwas voreilig. Warum man es in Deutschland und Österreich nicht geschafft hat, eine erneute Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, ist schwer zu beantworten. Ich bin kein Gesundheitsexperte. Auf der einen Seite hängt es sicher mit der niedrigen Impfquote zusammen. Aber als Grund wird auch angegeben, es fehle an Personal, insbesondere in der Intensivpflege. Viele hätten den Dienst quittiert. Die Folge ist: Es gibt weniger Intensivbetten als vor einem Jahr. Das ist eigentlich ein Skandal. Hat die Politik versagt? Ich würde sagen: Ja und Nein. Das Problem ist vielschichtiger.

Zunächst: Der Krankenpflegeberuf ist offenbar nicht attraktiv genug, sonst würde man eigentlich erwarten, dass in Zeiten wie den jetzigen – nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch wegen der enormen Wichtigkeit, die dem Gut „Gesundheit“ in unserer Gesellschaft zukommt – eine riesige Nachfrage nach Arbeitskräften im Krankenpflegebereich vorhanden sein sollte. Und wo die Nachfrage nach Arbeitskräften hoch und das Angebot dafür knapp ist, sollten daraus auch entsprechend hohe Löhne resultieren.

Dennoch klagen die Pflegeberufe über miserable Entlohnung, wenn auch das Personal in der Intensivpflege besser bezahlt wird. Doch offenbar spielt in diesem Bereich das Preissystem des Marktes nicht. Es dominieren bürokratische Mechanismen, denen es an Flexibilität und Anpassungselastizität mangelt. Gewiss: Monetäre Anreize sind nicht das Einzige, was wichtig ist. Und das Ethos des Pflegeberufs geht weit über die Motivation, Geld zu verdienen, hinaus. Den Mangel an Pflegekräften allein mit der schlechten Entlohnung zu erklären, würde zu kurz greifen.

Angesichts dessen, was wir in den vergangenen Monaten über die enorme physische und psychische Belastung der Beschäftigten in der Intensivpflege und über die gerade heldenhaften Leistungen, die diese erbringen müssen, erfahren haben, sollten wir uns aber dennoch fragen: Wie viel sind wir eigentlich bereit für diese immer wichtiger werdende Dienstleistung zu bezahlen? Denn die Bezahlung drückt auch Wertschätzung aus und impliziert Sozialprestige. Und das sind normale und gesunde Anreize.

Offenbar gibt es eine Fluchtbewegung aus dem Beruf. Hat man schon begonnen, die Fluchtursachen zu erforschen? Interessieren diese überhaupt jemanden? Oder ist es einfach leichter, damit zu rechnen, alles wieder einmal zuzusperren mit dem Argument: „Wir müssen das Gesundheitssystem vor Überlastung schützen.“ Ja, hier hat die Politik versagt. Sie hat einen zweiten Corona-Sommer verschlafen.

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit, denn womöglich haben auch Patienten und ihre Angehörigen versagt. Wie man immer wieder hört, ist die aufopfernde Arbeit in den Pflegeberufen in der Regel frustrierend. Die dort Tätigen erhalten in der Regel wenig Anerkennung und Dank, sondern eher das Gegenteil: Man begegnet nur Forderungen, es wird reklamiert oder man wird am Ende von denen, für die man sich bis zur Erschöpfung abrackert, sogar beschimpft.

Zudem muss es für das Pflegepersonal auch frustrierend sein zu sehen, wie viele Menschen hospitalisiert werden, die das eigentlich selbst hätten verhindern können. Vor kurzem veröffentliche Zahlen aus der Schweiz zeigen deutlich: Je nach Altersgruppe werden, relativ zu deren Größe, gegenwärtig sage und schreibe rund sieben- bis zwanzigmal mehr Ungeimpfte als Geimpfte hospitalisiert!

Deshalb erwägt man jetzt in einigen Ländern, eine Impfpflicht einzuführen. Das ist ein komplexes Thema. Es gibt allerdings historische Präzedenzfälle für solche Zwangsmaßnahmen. Angesichts der klar belegten Effizienz der Impfung für die Entlastung des Gesundheitssystems, womit dann auch keinerlei Lockdowns mehr nötig wären, will die Politik jetzt die nicht Impfwilligen zur Solidarität zwingen.

Dieser Schuss, der auch aus Gründen des Grundrechtsschutzes problematisch ist, wird höchstwahrscheinlich nach hinten hinaus gehen. Denn wer sich partout nicht impfen lassen will, vor allem wem dies sein Freiheitsverständnis, sein prinzipielles Misstrauen gegenüber dem Staat und damit sozusagen seine eigene Identität verbieten, wird auch bereit sein, dafür die entsprechenden Einschränkungen oder gar Strafen auf sich zu nehmen. Und darauf sogar stolz sein. Vielleicht wird er oder sie gar ein T-Shirt oder eine Medaille mit der Aufschrift „Ungeimpft“ tragen. Das wäre skurril, dennoch aber die vorhersehbare und verständliche Gegenreaktion.

In der Schweiz wird jetzt ein Experiment gemacht: Trotz Anstieg der Infektionen und Hospitalisierungen soll es keine landesweiten strengeren Vorschriften von oben geben. Die Kantone sollen selbst schauen, heißt es. Es wird also dezentral agiert. Zudem appelliert die Regierung an mehr Selbstverantwortung des Einzelnen. Ob das funktionieren wird? Niemand kann es wissen.

Aber Selbstverantwortung und individuelle Verhaltensanpassung sind fundamental. Wenn alle, ganz besonders auch die sich oft in falscher Sicherheit wähnenden Geimpften, ihr Verhalten an die real existierende Gefahr anpassen würden – Abstand halten, im Bedarfsfall nach eigener Einschätzung eine Maske tragen, dies sogar freiwillig, auch wenn es nicht vorgeschrieben ist, Hände desinfizieren oder waschen, sich testen lassen – könnten wir zum jetzigen Zeitpunkt den Irrsinn von Lockdowns vielleicht dauerhaft vermeiden. Wir werden es auf die Dauer ohnehin müssen, denn schon ist die neue Virusvariante „Omikron“ im Anzug und wie viele Varianten noch kommen und wie gefährlich sie sein werden, wissen wir nicht. Jedoch immer wieder alles zusperren: das geht einfach nicht!

Wir sollten also, wie anfangs gesagt, auf jeden Fall lernen, mit dem Virus zu leben. Es kann nicht einzig darum gehen, die Pandemie zu überwinden, sondern auch das normale Leben, die Wirtschaft, das Bildungssystem, das kulturelle Leben sind in Gang zu halten. Und ich wiederhole auch dies: Politiker sollten den Mut haben, dem Bürger zugunsten eines freien und selbstverantwortlichen Lebens das Tragen von Risiken zuzutrauen. Noch einmal: Wir wollen keinen Babysitter-Staat!

Das funktioniert aber nur, wenn alle die von dem Virus ausgehenden Gefahren ernst nehmen. Und wenn den Pflegekräften, besonders jenen auf den Intensivstationen, die gesellschaftliche Wertschätzung entgegengebracht wird, die sie verdienen – mit welchen Mitteln auch immer, aber sicher auch mit höheren Löhnen und besseren und wenn möglich auch flexibleren Arbeitsbedingungen (ohne gewerkschaftliche, kollektivvertragliche und sozialpartnerschaftliche Verkrustungen).

So viel aus meiner Sicht zu diesem reichlich komplexen Thema. Und ehrlich gesagt: Ob ich in meinem Urteil überall richtig liege, bin ich mir keineswegs sicher.

Doch nun zu ganz anderem: Was finden Sie im unteren Teil dieses Newsletters? Sie finden ein neue Studie des Ökonomieprofessors Gunther Schnabl von der Universität Leipzig und seinem Mitarbeiter Nils Sonnenberg über die Wirkungen der Negativzinspolitik der EZB auf das Bankensystem – lassen Sie sich die Lektüre nicht entgehen.

Danach zwei Artikel von mir selbst: Ein Kommentar zum verfehlten, nun aber wohl schon aufgegebenen 1,5-Grad Ziel der gegenwärtigen Klimapolitik und deren schädlichen Folgen (geschrieben noch vor der Klimakonferenz in Glasgow und ursprünglich in der „Welt am Sonntag“ erschienen); wie auch eine prinzipielle Stellungnahme zu der Frage, ob Liberale eigentlich Anarchisten sind, die jegliche staatliche Freiheitsbegrenzung zugunsten der Sicherung der Freiheit ablehnen müssen – eine Ergänzung zu dem oben Gesagten (ein Artikel, der ursprünglich in der NZZ veröffentlicht wurde).

Olivier Kessler, Direktor des  Liberalen Instituts in Zürich, stellt das neue, von ihm herausgegebene Buch  „Liberalismus 2.0: Wie neue Technologien der Freiheit Auftrieb verleihen“ vor.

Und Sie finden neue Videos von Vorträgen der Austrian Academy 2021: Karl-Friedrich Israels Vorträge über die „Grundlagen der Geld- und Zinstheorie“ und über „Die ökonomischen und sozialen Folgen der gegenwärtigen Geldpolitik“; sowie Werner Plumpes zweiteilige Ausführungen zum Thema: „Kapitalismus, Freiheit und Menschenwürde: Ist der Kapitalismus ein ethisches Problem?“.

Unsere Vortragsveranstaltung vom 22. November im „Haus der Industrie“ (Österreichische Industriellenvereinigung) für die Alumni der Austrian Academy (mit beschränktem Zugang auch für Nicht-Alumni) zum Thema „Warum Bitcoin boomt“ mit Nikolaus Jilch von der Agenda Austria musste leider wegen des Lockdowns abgesagt werden. Wir hoffen, sie zu einem günstigeren Zeitpunkt nachholen zu können.

Mit allen guten Wünschen und sehr herzlichen Grüßen

Ihr

Martin Rhonheimer
Präsident Austrian Institute

m.rhonheimer@austrian-institute.org

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Dieser Newsletter wurde am 29. 11. 2021 an alle Abonennten unseres Newsletters versandt. Anmeldung für den Newsletter hier.

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