Kritische Theorie der „Corona-Diktatur“: Philosophie auf Abwegen

Er ist studierter Philosoph und Germanist, Gymnasiallehrer, Schriftsteller, Autor eines Romans, der bei Piper erschienen ist und in sechs Sprachen übersetzt wurde. Vor allem aber ist er Betreiber des YouTube-Kanals „KaiserTV“ mit gegenwärtig 239 000 Abonnenten. Gemeint ist Gunnar Kaiser, seit Jahren bekannt als Verteidiger der politischen und wirtschaftlichen Freiheit und als Kritiker kulturrevolutionärer Programme wie sie von Anhängern der Neuen Rechten, insbesondere der identitären Bewegung verbreitet werden.

Gunnar Kaiser ist während der vergangenen Jahre als ein philosophisch beschlagener und redegewandter Kritiker von Machtanmaßungen des Staates aufgetreten. Doch wo steht er heute?

Doch vor einem Jahr plötzlich der Skandal: Die liberale, in Potsdam ansässige Friedrich-Naumann-Stiftung distanzierte sich öffentlich von der „Person Kaiser“, nachdem sie diese kurz zuvor als Moderator eines Gesprächs über Cancel-Culture engagiert hatte. Wie man leider zu spät gemerkt habe, so vor einem Jahr der Stiftungsratsvorsitzende und renommierte Ökonomieprofessor Karl-Heinz Paqué im NZZ-Streitgespräch mit dem in Ungnade Gefallenen, habe dieser „Sympathien für die verschwörungstheoretische Gedankenwelt“. Mit seiner Kritik am Plan des WEF eines „Great Reset“ habe er „einen Weltmasterplan zur Beseitigung der Demokratie und der Marktwirtschaft aufgespürt“ und damit bewege er sich „weit jenseits der liberalen Demarkationslinie“.

Kein „Corona-Leugner“, sondern nur Verteidiger von Freiheitsrechten?

In den Kommentaren der NZZ gab es darauf einen regelrechten Shitstorm gegen Paqué. War da aber von Seiten der Naumann-Stiftung vielleicht doch eine berechtigte Intuition? Insbesondere, weil Kaiser schon damals, wie Paqué ihm vorwarf, von einer „Corona-Diktatur“ und einem „Corona-Kult“ sprach, dem wir angeblich alle folgten. Kaiser verteidigte sich: Er sei keineswegs ein „Corona-Leugner“, sehe aber „eine bedenkliche Einschränkung unserer Freiheitsrechte, weil wir den Fokus nur noch auf die Bekämpfung der Pandemie richten. Andere Grundwerte unserer Gesellschaft sollten wir aber nicht über Bord werfen.“ Wer konnte ihm da nicht zustimmen? Und in der Tat: Hatten die immer wiederkehrenden Lockdowns nicht genau diesen Effekt?

Philosoph Gunnar Kaiser während seines Videos „Das Impferium schlägt zurück – Die Ethik des Impfens“. (Bild: YouTube, Screenshot)

Gunnar Kaiser ist während der vergangenen Jahre als ein philosophisch beschlagener und redegewandter Kritiker von Machtanmaßungen des Staates aufgetreten. Doch wo steht er heute? Ich hätte mich mit dieser Frage nie beschäftigt, wenn ich nicht auf ein Video vom letzten 23. November mit dem Titel „Das Impferium schlägt zurück – Die Ethik des Impfens“ aufmerksam gemacht worden wäre, in dem Kaiser sich als Philosoph und Ethiker an seine Follower richtet. Das Video verzeichnet 23 240 Likes und hat 2493 Kommentare, alle durchwegs begeistert: „Brilliant“, „großartig“, „ein intellektueller Leckerbissen“ oder: „Deine Gedanken, Worte und deine Art, sie zu transportieren, sind ein Kraftort für viele.“

Philosophie in der Blase: Falschinformationen, Irreführungen, NS-Vergleiche

Angesichts so vieler Lobeshymnen wird man skeptisch. Kein einziger kritischer Kommentar, die perfekte Blase. Sprechen hier die Anhänger eines Gurus? Was vermittelt er ihnen? Kaisers Botschaft lautet: Es gibt eine Menge von Gründen, die zu einer gerechtfertigten Skepsis gegenüber den Impfstoffen führen – lasst also die Hände davon, ich verteidige eure Freiheit gegenüber den Anmaßungen einer Macht, die im Interesse der Pharmaindustrie und aufgrund eines biopolitischen Masterplans eine neue Moral und eine neue Gesellschaft der totalen Kontrolle errichten will! Dabei wird mit Anklängen an Max Horkheimers „Kritik der instrumentellen Vernunft“ und am Ende mit Michel Foucaults „Biopolitik“ argumentiert.

Man ist erstaunt und überrascht. Da wird auch vor der mRNA-Impfung als „Gentherapie“ gewarnt, doch seit wann ist eine Impfung eine „Therapie“ und was hat die RNA, die allein die Bildung von Antikörpern stimulieren soll und schon bald nach der Impfung abgebaut wird, mit dem Genom, also der DNA, zu tun, mit der sie gar nicht in Berührung kommen kann?

Kaiser behauptet weiter, der französische Infektiologe Professor Éric Caumes habe schon im Dezember 2020 vor den ungewöhnlich starken Nebenfolgen der mRNA-Impfstoffe gewarnt, wobei dieser in Wirklichkeit nur die an sich normalen kurzfristigen Nebenwirkungen des Stichs (wie Fieber, Schüttelfrost usw.) ungewohnt heftig nannte, heute aber, ein Jahr danach, die Franzosen zum Impfen aufruft, ja sogar eine allgemeine Impfpflicht als diskussionswürdig erachtet. Kaiser suggeriert hingegen, der Professor habe vor Langzeitfolgen gewarnt. Damit verdreht er Caumes’ Position völlig.

Kaiser will seinen Zuschauern weismachen, sie würden vom „Impferium“ als Versuchskaninchen missbraucht, ähnlich wie das die Nazis mit KZ-Insassen taten.

Recht eigentlich demagogisch aber erscheint, dass Kaiser seinen Zuschauern weismachen will, sie würden vom „Impferium“ als Versuchskaninchen missbraucht, ähnlich wie das die Nazis mit KZ-Insassen taten. Dazu führt er den Nürnberger Kodex ins Feld, der 1946/47 gegen „verbrecherische medizinische Experimente“ und Zwangssterilisationen erlassen wurde, ein Kodex, gegen den, so Kaiser, mit der Impfkampagne verstoßen werde! Die Impfkampagne jedoch mit den NS-Praktiken zu vergleichen ist ein unsäglicher Missgriff, wie es auch nicht angeht, in diesem Zusammenhang gleich noch – völlig unbegründet – das Schreckgespenst von Zwangsimpfungen von Schwangeren an die Wand zu malen.

Philosophisches Irrlicht: Gesagt wird, was das Publikum hören will

Aber auch als Philosoph irrlichtert Gunnar Kaiser. Die Philosophie, so erklärt er, habe bezüglich der gegenwärtigen Herrschaft der Biotechnologen die Aufgabe zu fragen: „Wer oder was liefert uns die Kriterien für diese willkürliche Selektion von Menschen, wer nennt uns die Grenzen…?“ Doch für eine, wie Kaiser formuliert, „willkürliche“ Selektion kann es gar keine ethischen Kriterien oder Grenzen geben. Mit dem Wort „willkürlich“ wird in eine vordergründig sachlich formulierte Frage eine Wertung bzw. Abwertung eingeschmuggelt, die die Antwort bereits vorwegnimmt.

Diese Methode zielt auf ein Publikum, das gesagt bekommt, was es hören will, wobei er mit mahnendem Verweis auf die „Heiligkeit des Lebens“ auch christlich-religiöse Kreise anspricht und mit geschickten Seitenhieben auf die Praxis von Tierversuchen den Tierschützern nach dem Mund redet. Das Publikum bedankt sich dafür mit weit über zweitausend überschwänglichen Dankeskommentaren.

Nicht alles, was Kaiser sagt, ist einfach falsch. Er operiert oft mit Halbwahrheiten. Natürlich können auch Geimpfte, werden sie infiziert, ansteckend sein. Und die Wirkung der Impfung lässt schneller nach als man zunächst hoffte. Jedoch heißt das nicht, dass Geimpfte gleich gefährlich wie die Ungeimpften sind, denn sie tragen, sind sie infiziert, eine weit geringere Virenlast. Und mit dem Booster-Stich dürfte auch der Schutz wieder auf das anfängliche erwartete Niveau ansteigen. Schließlich: Es sind überwiegend Ungeimpfte, die jetzt auf den Intensivstationen liegen!

Entscheidendes wird ausgeblendet

Wichtiger jedoch ist: Kaiser blendet in seiner scheinbar objektiven und erschöpfenden Auflistung der „utilitaristischen Argumente“ und des „Solidaritätsargumentes“ aus, dass die sich auf die Gesamtbevölkerung richtende Impfstrategie nicht nur auf den Selbstschutz (utilitaristische Begründung) und auch nicht allein auf den Schutz der Risikogruppen und des Gesundheitssystems (Solidaritätsargument) abzielt, sondern die Eindämmung der Pandemie als ganzer (Stichwort Herdenimmunität) bezweckt. Dafür bedarf es, gemäß Professor Caumes, einer Impfquote von ca. 95 Prozent der Bevölkerung.

Die Strategie zielt also darauf, dass das Virus, statt ständig gefährlich zu mutieren, endemisch und damit zu einem Virus wird, mit dem wir, wie mit anderen Viren, werden leben können – und müssen. Dies aber ohne, dass das Gesundheitssystem, die Wirtschaft, das Bildungswesen und der Kulturbetrieb in ständiger Gefahr schweben und die Menschen nicht mehr in Freiheit ihr eigenes Leben leben können. Die düstere Alternative dazu ist, wie zu früheren Zeiten, die Herdenimmunität zum Preis einer gewaltigen Zahl von Todesopfern zu erlangen.

Impfbefürworter: „Gläubige“ eines staatlich inszenierten Kults?

Statt solche Risikoabwägungen vorzunehmen und die wahren Gründe der gegenwärtigen Impfstrategie zur Sprache zu bringen, verteufelt – oder überhöht – Gunnar Kaiser die Impfbefürworter zu „Gläubigen“ einer „Religion“, sieht im Ganzen einen gefährlichen, staatlich inszenierten „Kult“. Das kommt einer Verschwörungstheorie schon sehr nahe, auch wenn Kaiser vor einem Jahr von einer „Corona-Diktatur“ gesprochen hatte und Diktatoren, sind sie einmal an der Macht, keine Verschwörer, sondern sehr sichtbar sind.

Was Gunnar Kaiser seinen Followern vermittelt, ist eine aus bekannten, ursprünglich neomarxistischen, kultur-, zivilisations- und technologiekritischen Versatzstücken von Horkheimer bis Foucault zusammengemixte Herrschaftstheorie.

Was Gunnar Kaiser seinen Followern vermittelt, ist eine aus bekannten, ursprünglich neomarxistischen, kultur-, zivilisations- und technologiekritischen Versatzstücken von Horkheimer bis Foucault zusammengemixte Herrschaftstheorie. Kaiser ist damit – wie auch viele libertäre Impfkritiker – zum Ideologen geworden. Er sucht durch Aufklärung seine Zuhörer aus den Fängen der sie entfremdenden Impf-Mächte zu befreien, die sie durch „Biopolitik“, die Herrschaft der Biotechnologie, im Interesse der Pharmaindustrie und mit den Mitteln einer ihr entsprechenden neuen Moral zu gefügigen Mitläufern einer total kontrollierten Gesellschaft machen wollen. Auch wenn diese neue Version einer „kritischen Theorie“ – wie auch ihr Frankfurter Original – selbst keine Verschwörungstheorie ist, so dürfte unter den 23 240 ihm Applaudierenden doch wohl nicht wenige sein, die genau solchen Theorien huldigen und sich durch Kaiser darin bestätigt fühlen. Die Geister, die er damit ruft, wird er nicht so schnell wieder loswerden.

Verteidigung der Freiheit – aber auf dem Boden Realität und ohne Ideologie

Man kann nicht leugnen, dass die Politik vieles verschlafen hat, oft erratisch war, und Corona zum verlockenden Spiel mit dem Feuer einer sich ständig ausweitenden Staatsmacht geworden ist. Gunnar Kaiser spricht legitime Ängste und tatsächlich existierende Probleme an. Gerade deshalb aber wird er seiner Verantwortung als Philosoph und Ethiker nicht gerecht.

Denn wer im gegenwärtigen Zeitpunkt das Impfen für ein moralisches Gebot hält, muss kein „gläubiger“ Anhänger einer gesetzlichen Impfflicht sein und noch weniger huldigt er einer menschenverachtenden „Biopolitik“ oder Impf-Religion, wie Kaiser unterstellt. Schon gar nicht ist, wer in der gegenwärtigen Impfkampagne eine legitime Staatsaufgabe erblickt, ein Gegner der individuellen Freiheit. Diese wollen wir alle verteidigen, aber wir sollten das mit Argumenten tun, die auf dem Boden der Realität und frei von Ideologie bleiben.

 

Dieser Artikel ist zunächst unter dem Titel „Philosoph auf Abwegen“ in einer etwas kürzeren Version in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. Dezember 2021, auf S. 31 erschienen. Online unter dem Titel «Das Impferium schlägt zurück»? Wie Gunnar Kaiser als Philosoph auf Abwege geraten ist.

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