Eine zeitlang dachten wir, die Bedrohungen der Freiheit für unsere westlichen, demokratischen Gesellschaften kämen nur von außen. Und mit Corona machen wir eine Art Zeitreise zurück: Grenzen waren im Lockdown wieder dicht, der öffentliche Raum leergefegt, das gesellschaftliche Leben stillgestellt, der freie Austausch von Personen, die Versammlungs-, Bewegungs- und Reisefreiheit waren ausgesetzt und sind erneut eingeschränkt. Die Wirtschaft liegt danieder. So lebte es sich in der geschlossenen Gesellschaft hinter dem Eisernen Vorhang vor 1989. Viele erfahren erstmals in ihrem Leben solch drakonische Einschränkungen ihres Lebensstils und ihrer individuellen Freiheit – und hätten doch gerne die Party weitergefeiert.
Ulrike Ackermann hat sich kürzlich in ihrem neuen Buch „Das Schweigen der Mitte: Wege aus der Polarisierungsfalle“ mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten und dem in Bedrängnis geratenen Deutungsmonopol der Intellektuellen befasst. Mehr Infos dazu befinden sich unten.
Die staatlich-administrativ verfügten rigiden Maßnahmen zur Bekämpfung der weltweiten Seuche flankieren eine Krise, wie sie die westlichen Demokratien seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt hatten. Und deren Folgen völlig ungewiss sind, ökonomisch, politisch, gesellschaftlich und die Zukunft der EU betreffend. Zudem bescheren uns die Corona-Krise und die Versuche ihrer Bewältigung einen immensen Paternalisierungsschub. Der Staat schwingt das Zepter und die Rückkehr zu Eigenverantwortung und Bürgersinn ist ins Stocken geraten.
Es ist der größte Stresstest, den die liberalen Gesellschaften seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu bestehen haben. Angesichts der Wucht der bedrohlichen Pandemie verblassen offensichtlich die jüngst vergangenen Krisenerfahrungen und Debatten darüber: Finanzkrise, Euro-Schuldenkrise, die islamistischen Terroranschläge, die verheerenden Folgen des Syrien-Krieges, die alte und erneut aufflammende Migrationskrise, der Brexit, die Krise der Volksparteien und der Erfolg rechter und linker Populisten in ganz Europa und den USA stellen die liberalen Demokratien und ihre Institutionen in der Zwischenzeit auf eine harte Probe. Sie spielen gerne mit Katastrophen- und Untergangszenarien und werben für radikale Lösungen. Daran hat auch die Corona-Krise nichts geändert.
Illustre Querfronten zwischen links und rechts: Der Aufstand gegen die globalisierte Moderne
Schaut man sich die Zusammensetzung der Demonstrationen gegen die staatlichen Schutzmaßnahmen und Freiheitsbeschränkungen an, findet man auch dort illustre Querfronten zwischen links und rechts. Diese politischen Ränder eint ein ausgeprägt antiwestliches Ressentiment: Die Skepsis gegenüber der Globalisierung, durchsetzt von Antikapitalismus, Europaskepsis, Putin-Verehrung, der Wunsch nach starker Führung und einer harten Hand, das Misstrauen gegenüber der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und stattdessen der Wunsch nach direkter Volksherrschaft und die Lust an der Revolte. Sie kritisieren den Individualismus und feiern das Kollektiv.
Es handelt sich dabei auch um einen Aufstand gegen die globalisierte Moderne und die von ihr bescherte grenzenlose, konfliktreiche Unübersichtlichkeit der Welt. Die Revolte richtet sich gegen das kosmopolitisch-urbane, global vernetzte sogenannte Establishment. Umgekehrt kann man in den europäischen Hauptstädten und amerikanischen Metropolen beobachten, wie die Funktionseliten und die politische Klasse ihre Bodenhaftung eingebüßt haben. Deshalb sind es eben nicht nur populistische Ressentiments, Skepsis gegenüber Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit, die die europäischen Gesellschaften und ihre gewachsenen sozialen Ordnungen erschüttern.
Die großen gesellschaftlichen Debatten werden heute nicht aus der politischen Mitte herausgeführt, sondern entzünden sich von den Rändern her.
Es sind ganz neue und reale Probleme, nicht etwa nur diffuse Ängste der Bevölkerung, neue Verwerfungen und soziale Spaltungen, die unsere bisher liberalen und offenen Gesellschaften samt ihrer demokratischen Institutionen und das politische Gefüge im Kern berühren. Die alte politische Klasse hat auf diese neuen Herausforderungen bisher keine überzeugenden Antworten gefunden. Die Kluft zwischen den alten, staatstragenden Volksparteien und der Bevölkerung ist im Laufe der vergangenen Jahre immer größer geworden.
Die großen gesellschaftlichen Debatten werden heute nicht aus der politischen Mitte herausgeführt, sondern entzünden sich von den Rändern her und münden fast umgehend in Polarisierungen. Obwohl das ideologische Rechts-Links-Schema überwunden schien, greift es immer noch.
Polarisierungen und wachsender Moralisierungsdruck
Ins Zentrum der erneuten Rechts-Links-Konfrontation ist nun vor allem der Streit über das Selbstverständnis der Nation, ihre Grenzen, ihren Zusammenhalt, gesellschaftliche Minderheiten und ihr Umgang mit ihnen gerückt. Die Polarisierungen in diesen Debatten sind flankiert von einem wachsenden Moralisierungsdruck. Denkverbote und ideologische Scheuklappen machen eine argumentative und rationale Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Krisen und Herausforderungen immer schwieriger.
Die Selbstzweifel an der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation, bis hin zum westlichen Selbsthass, werden immer lauter.
Die Selbstzweifel an der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation, bis hin zum westlichen Selbsthass, werden immer lauter. Sie sind nicht nur rechten und linken Rändern eigen, sondern zunehmend in Universitäten, Redaktionsstuben und Kulturinstitutionen beheimatet, wie der Streit über Rassismus und Kolonialismus zeigt. Und dies in einer Situation, in der die über Jahrhunderte mühsam errungenen westlichen Freiheiten und Lebensweisen weltweit unter immer stärkeren Druck geraten sind.
Bereits seit einigen Jahren tobt dieser Kulturkampf, der immer aberwitzigere Züge annimmt. Historische Bücher werden umgeschrieben, weil das Wort „Negerkönig“ anstößig ist. Die Diskurspolizei ist auch an den Universitäten unterwegs. Alte Filme werden aus dem Verkehr gezogen, weil sie aus heutiger Sicht rassistisch sind. Statuen vom Sockel geholt. Berühmte Bilder werden abgehängt, weil sie sexistisch seien. Es sind Eingriffe zugunsten eines vermeintlich gerechten, politisch korrekten Regimes, das es jeder Ethnie, jedem Geschlecht und jeder Religion recht machen will. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, nach Reinheit und Säuberung hat sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgebreitet. Verletzte Gefühle einer Gruppe wiegen plötzlich schwerer als die Prinzipien und Ausübung der Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. Obwohl doch gerade sie Antrieb und Resultat eines jahrhundertelangen Kampfes waren und als hohe Güter unsere Lebensweise auszeichnen.
Gegenaufklärung: Vom selbstbestimmten Individuum zum neuen Stammesdenken
Inzwischen steht auch schon der Aufklärer Immanuel Kant wegen Rassismus am Pranger, weil er in seinen Frühschriften wie andere seiner Zeitgenossen die weiße „Race“ als vollkommenste der Menschheit ansah. Eine „Kritik der weißen Vernunft“ wird deshalb angemahnt. Doch dem späteren Kant verdanken wir gerade die wegweisende Definition von Mündigkeit und die Entfaltung dessen, was die Würde des einzelnen Menschen ausmacht.
Der Ausgang aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ war die Selbstermächtigung des Individuums, mit dem Ziel seiner Emanzipation aus kollektiven Zwängen, flankiert von Solidarität und Gemeinsinn. Die Errungenschaft aus dieser zivilisatorischen Leistung über Jahrhunderte hinweg war die Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht – gerade unabhängig von Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Geschlecht oder Religion. Diese Ideale aus der amerikanischen und französischen Revolution sind bis heute nicht vollständig eingelöst, aber immer noch treibende Kraft für die Ausweitung der Chancengerechtigkeit.
In den sich selbst bestätigenden Communities, verstärkt durch die neuen Medien, ist ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus zu beobachten. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen.
Inzwischen scheint unsere Gesellschaft allerdings auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung zu regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und der Hordenbildung mit gefeierten Anführern. In den sich selbst bestätigenden Communities, verstärkt durch die neuen Medien, ist ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus zu beobachten. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen. Die fremdenfeindliche Identitätspolitik der Rechten favorisiert einen Kollektivismus, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht und die universalistischen Prinzipien der Aufklärung und die Idee einer offenen Gesellschaft verwirft.
Linke Identitätspolitik – antiwestlich und antiliberal
Antiwestlich und antiliberal geriert sich aber auch eine Identitätspolitik von links, die an den Hochschulen und im Kulturbetrieb Raum gegriffen hat. Eigentlich begann es im Zuge der Neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren durchaus emanzipatorisch. Mutig schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten. Sie machten auf historische und aktuelle Benachteiligungen aufmerksam und begehrten auf gegen Sexismus und Rassismus. Doch dann breitete sich mit dem Lob der kulturellen Vielfalt und Differenz ein ideologisch gewordener Multikulturalismus aus, der die freiheitlichen Errungenschaften der westlich-europäischen Zivilisation zunehmend relativierte.
Immer neue soziale Gruppen, die sich als Opfer von gesellschaftlicher Diskriminierung verstanden, entwickelten ihre jeweils unterschiedlichen Opfernarrative und forderten besondere Rechte für sich. Eine regelrechte Opferkonkurrenz entstand. Ihr jeweiliger Bezugspunkt ist eine kollektive Identität, die abgeleitet wird aus realer oder vermeintlicher Benachteiligung, der Erfahrung von Unterdrückung oder Verfolgung, die teils Jahrhunderte zurückliegen: Frauen, sexuelle Minderheiten, die LGBT-Community, Migranten, ethnische und religiöse Minderheiten.
Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communties entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen lautstarken moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen.
Es geht dabei um Wiedergutmachung erfahrenen Leids und den Wunsch nach sozialer und kultureller Wertschätzung. Entstanden ist daraus über die Jahrzehnte eine ausgeprägte Identitätspolitik, die ausdrücklich die jeweils kollektiven religiösen, kulturellen, sexuellen und ethnischen Zugehörigkeiten ins Zentrum stellt. Nicht für Individuen werden Rechte eingefordert, sondern für die jeweiligen Opferkollektive, die Sonderrechte beanspruchen, um bisherige gesellschaftliche und historische Benachteiligung zu kompensieren. Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communties entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen lautstarken moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen. Wenn ständig in Täter- und Opferkategorien gedacht und agitiert wird, schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt immer mehr und leistet weiterer Polarisierung Vorschub. Hauptfeind Nr. 1 ist der alte, heterosexuelle, weiße Mann, der entmachtet werden soll.
Neuer Rassismus von Links und totalitäre Entsorgung der Vergangenheit
Paradoxerweise wird der wohlfeile Antikolonialismus und Antirassismus selbst rassistisch, wenn er die ethnische Herkunft und Hautfarbe zum essentiellen, identitätsstiftenden Zugehörigkeitskriterium der von der Mehrheitsgesellschaft vorgeblich diskriminierten Opferkollektive macht. Erschreckend ist zudem die Rigidität und Wut, die den Wunsch nach Reinigung begleiten: Sprache, Geschichte, Bücher, Plätze, Erinnerung sollen von allem Bösen gesäubert werden. Das ursprüngliche Ansinnen ist totalitär geworden und wäre letztlich eine Entsorgung der Vergangenheit. Und der „Schuldkomplex“ (Pascal Bruckner) verleitet angesichts der Gräuel des Kolonialismus und der Sklaverei die Mehrheitsgesellschaft zu paternalistischer Überkompensation gegenüber den nachgeborenen „Opfern“ – angetrieben vom Wunsch, die Schuld zu tilgen.
Was wir brauchen ist eine antitotalitäre Selbstaufklärung, die aus der politischen Mitte kommt und sich auf unsere Freiheitstraditionen besinnt.
Vermeintliche Täter und vermeintliche Opfer bleiben so in einer reziproken, komplizenhaften Dynamik gefangen, die einer sachlichen Aufarbeitung der Geschichte im Wege steht. Die Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation hat uns über die Jahrhunderte den besten Lebensstandard, den wir je hatten, beschert, sowie Partizipation und Freiräume erweitert. Freilich begleitet von grauenhaften Kämpfen, Katastrophen, Diktaturen, kolonialen Verbrechen, vielen Irrtümern und Inkonsequenzen. Wir können diese widersprüchliche Geschichte nicht glattbügeln oder retuschieren. Wir müssen mit ihr leben. Denn: „Aus so krummem Holze, aus dem der Mensch gemacht ist, kann nicht gerades gezimmert werden.“ (Immanuel Kant)
Selbstaufklärung aus der Mitte tut not!
Was wir brauchen, um dem Furor dieses identitären Fundamentalismus, der von Rechten, Linken und Islamisten gleichermaßen bedient wird, entgegenzutreten und zu entzaubern, ist eine antitotalitäre Selbstaufklärung, die aus der politischen Mitte kommt und sich auf unsere Freiheitstraditionen besinnt.
Das Mindeste, was wir aus der Corona-Krise lernen können, ist die Wertschätzung unserer Freiheiten und die Unterscheidung des Wichtigen vom Unwichtigen. Westlicher Selbsthass und die Geißelung der Globalisierung führen hingegen in die Sackgasse. Die Austragung von Konflikten, die Pluralität der Meinungen und Interessen, das Austarieren von Gemeinsinn und individueller Freiheit zeichnen unsere liberalen, offenen Gesellschaften aus. Deshalb müssen wir nicht erst nach der Krise sondern jetzt über Fehler und neue Ideen streiten, die Meinungsfreiheit mutig praktizieren, um zu den besten Lösungen zu gelangen.
Das neue Buch von Ulrike Ackermann „Das Schweigen der Mitte“:
Wenn die Demokratie in der Krise steckt und der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, geht es ans Kerngeschäft der Intellektuellen. Doch die hitzigen Debatten münden in fatale Polarisierungen. Kapitalismus oder Antikapitalismus, Migration oder Abschottung, Faschismus oder Antifaschismus – Zwischentöne sind selten geworden. Ulrike Ackermann plädiert in ihrem neuen Sachbuch für eine Rückbesinnung auf antitotalitäre und liberale Traditionen, um die politische Mitte intellektuell neu zu besetzen.
Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre Gruppeninteressen kämpfen. Wichtige Kontroversen über die politische Vertrauenskrise, Elitenversagen und Meinungsfreiheit werden nicht aus der politischen Mitte heraus geführt, sondern entzünden sich von den Rändern her. Deutschlands Intellektuelle wie Joachim Gauck, Uwe Tellkamp, Harald Welzer oder Thea Dorn streiten um die Meinungsführerschaft. Gelingt es ihnen, die ideologische und moralische Polarisierung aufzubrechen? Ackermann fordert eine antitotalitäre Selbstaufklärung, um dem Furor des Fundamentalismus, der von Rechten, Linken und Islamisten gleichermaßen bedient wird, entgegenzutreten.
Ulrike Ackermann: Das Schweigen der Mitte: Wege aus der Polarisierungsfalle. wbg Theiss, Darmstadt 2020. 206 Seiten. ISBN: 978-3806240573