„Doux commerce“ oder die friedensschaffende Kraft des Handels: Nur eine gefährliche Illusion?

Handel schafft Frieden zwischen den Staaten, schrieb Montesquieu, und das fanden auch Adam Smith, Immanuel Kant, ja alle optimistischen Aufklärer. Besonders zwischen modernen, komplexen Volkswirtschaften zerstört ein Eroberungskrieg alles, was Reichtum ist – der Handel mit einem solchen Land bringt daher immer mehr als ein Krieg. Doch seit Februar 2022 gehen die dreißig Jahre lang aufgebauten Handelsbeziehungen zwischen West und Ost in die Brüche. Russland machte den Schnitt, erklärte den Krieg. Zerstörungen, Sanktionen und Rüstungskosten machen in West und Ost nun alles zunichte.

Wenn die These vieler Kulturpessimisten widerlegt werden soll, dass der Wohlstand verweichlicht, dann haben demokratische westliche Gesellschaften zwar die ökonomischen Triebfedern des Wohlstands – den Markt, das Eigentum – zu pflegen, sind dabei aber dennoch fähig, die Freiheit, die Anstrengung, die Härte im Notfall höher zu werten.

Von kühlem Rechnen, von ökonomischen Überlegungen wie Produzenten, Handelsfirmen, Auslandsinvestoren sie pflegen, ist nichts mehr zu sehen. Leider entfaltet sich dieser Wahnsinn des Krieges gegen den rationalen Bürgersinn nicht zum ersten Mal – weit gefehlt.

Vermeintlich friedenssichernde Handelsbeziehungen

Die zwei Weltkriege trat Deutschland los ohne Kriegsziel, die Führungscliquen phantasierten erst nach anfänglichen Erfolgen darüber. Die Folgen waren ökonomisch vernichtend, im vollen Wortsinne. Während die alliierten Staaten beide Kriege mit Schuldscheinen bezahlten (der Staat führt Krieg, der Staat bezahlt), drehten die autokratischen wilhelminischen wie auch die nazistischen Staatsspitzen an der Geldpresse – alles ging zu Lasten des schließlich verarmenden eigenen Volkes.

Vor allem 1914 hatte die europäische Gesellschaft – seit 1815 Frieden gewohnt und verwöhnt durch beispiellosen Wirtschaftsaufschwung – einen Krieg nicht für möglich gehalten. Zu verbindend hielt man die wirtschaftlichen Verflechtungen der „ersten Globalisierung“. Doch schon die Kriege Napoleons und seiner Führungsclique hatten die vermeintlich friedenssichernden Handelsnetze zerrissen. Die Kontinentalsperre, eine Art Supersanktionen gegen England, war ein Mittel des Krieges, und zog Napoleons Riesenheer dann in die Eiswüsten Russlands hinein, um sie durchzusetzen. Die andauernden Kriege Ludwigs XIV. dienten der Stillung von dessen Landhunger oder dynastischer Glorie, sie ruinierten Frankreich wie die Angegriffenen. Auch der Siebenjährige Krieg Friedrichs, des sogenannt Großen, zerstörte Werte, schuf keine.

Kriege aus ökonomischen Gründen

So fänden denn Kriege nie aus ökonomischer Überlegung statt? Nicht doch, natürlich gab es Kriege aus ökonomischen Gründen, aber nicht zugunsten von Handels- oder Investitionsverflechtungen, sondern aus dem umgekehrten Grund – wegen „Nicht-Habens“ oder weil gerade keine ökonomischen Verflechtungen auf dem Spiel standen. Vor dem Industriezeitalter wurden eigentliche Schatzräubereien oft zu Kriegsursachen – nach 378 n. Chr. pressten die Barbaren vor den Mauern Konstantinopels und Roms Tonnen von Gold ab – andere ökonomische Werte waren in den Steppen, in Agrargesellschaften nicht zu verwerten.

Als Nebenprodukt von Expansionen und Kriegen im Industriezeitalter erwachten dann gelegentlich Räuberinstinkte. Friedrichs Raub Schlesiens 1740 brachte ihm eine frühindustrielle Gegend ein. Oder die Kader der Deutschen Bank listeten schon vor dem Anschluss Österreichs die Aktienpakete auf, welche im Wiener Creditanstalt-Bankverein zu holen seien. Göring baute sich einen Mega-Konzern aus geraubten Firmen auf. Den Siegespreis im Deutsch-Französischen Krieg 1871 nahm sich Bismarck in Form von 5 Milliarden Goldfranken Tributzahlung und mit dem gerächten Landraub Ludwigs XIV.: Elsass-Lothringen.

Kolonien wurden fast immer in der Hoffnung auf ökonomischen Gewinn erobert. Doch wie schon Adam Smith feststellte, zog damals England keinen Nettogewinn daraus, sondern hatte nur viele Kosten. Deshalb trat er für die Freigabe aller Kolonien ein. Diese, so seine richtige Einschätzung, würden dann vor Begeisterung mit England beidseitig ersprießliche Handelsverträge abschließen – der „doux commerce“ würde siegen. Der 1999 verstorbene Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch (Universität Genf) hat in unserer Zeit den Nettoschaden von Kolonien für die Mutterländer belegt.

Kapitalisten sind keine Kriegstreiber, Staaten und Politiker jedoch wohl

Umstritten bleiben die ökonomischen Interessen der USA bei ihren Interventionen seit 1945. In Vietnam ging es ihnen um die langfristige Sicherung des Marktsystems gegen die Scheibchentaktik der Kommunisten (Domino-Theorie). Wenn den USA hingegen Ölinteressen im Irak oder an Bodenschätzen in Afghanistan unterschoben wurden, dann wurde übersehen, dass diese zwei Kriege je etwa tausend Milliarden kosteten, die damit nie einzubringen waren.

Vollends abschreiben muss man das beliebte Bild von „Kapitalisten“, welche zusammensitzen, Krisen und Kriege aushecken um der Gewinne halber, wie europäische Linke immer wieder annehmen. Diese Großkapitalisten rechnen zwar im Gegensatz zu Politikern tatsächlich immer, und das auf Kommastellen genau, aber gerade deshalb erscheint ihnen Frieden immer profitabler.

Damit scheint eigentlich die Lehre vom  friedenssichernden „doux commerce“, aber auch die gegenteilige Lehre, Kriege seien nur die Fortsetzung von Ökonomie, widerlegt. Denn jene, die Wirtschaft machen, und jene, die Kriege betreiben, sind ja nicht dieselben!

Die erwähnten Kriege wurden von den Führungsgruppen der Staaten erklärt, und die Motive unterscheiden sich krass von jenen der kühlen kapitalistischen Rechner in den Firmen. Ideologien spielten im 20. Jahrhundert eine hervorragende Rolle – die Weltrevolution des Kommunismus (vor allem in Asien), der Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, wonach die Politiker einheitliche Staaten gemäß Sprache, Volk, Geschichte herzustellen versprachen. Das stürzte gerade den Balkan vor 1914 in fast vergessene Kriege mit bis heute irreparablen Folgen. Dies ist auch Wladimir Putins Anliegen, er strebt die Größe Russlands innerhalb der maximal je erreichten Grenzen an. Dazu fördert er sogenannte Philosophen, welche mystisch-raunend die tragische, überlegene Größe der Slaven gegenüber den durch die Aufklärung verdorbenen Westlern und deren Dekadenz festschreiben.

Die Lehre vom „doux commerce“ (wie auch die mit ihr verwandte Lehre vom „kapitalistischen Frieden“) erweisen sich damit als Illusion – zumindest für den Fall solcher Regierungen, die ökonomische Aspekte bzw. die Prosperität ihres Landes nationalistischem oder imperialistischem Eifer, ideologischer Verblendung oder den Interessen des autokratischen Machterhalts der Regierenden unterordnen.

Verweichlichung durch ökonomischen Fortschritt?

Adam Smith bereits brachte dieses Thema auf. Es ist immer wieder aktuell: Wenn ökonomischer Fortschritt ein Volk in Sicherheit wiegt und im Genuss schwelgen lässt, verliert es den „kriegerischen Geist“, begnügt sich mit stehendem, eingekauftem Heer und bringt keine ökonomischen und persönlichen Opfer mehr für seine Freiheit. Wie wahr! Westeuropa beispielsweise hat sich auf seine ökonomischen Bande mit Russland verlassen, die Rüstung vernachlässigt und blind dem „doux commerce“ vertraut. Dass andere Länder – von Russland über den Iran zu den Taliban und Nordkorea – Politiker haben, welche darauf keine Rücksicht zu nehmen haben, entging Westeuropa.

Autoritäre Regimes betreiben Kriege, ohne Rücksicht auf ihre Völker oder auf Wähler nehmen zu müssen. Deren junge Burschen marschieren, wenn auch ohne Begeisterung, weil man sie einfach in die Gräben stellt – schieß oder stirb. Die liberalen westlichen Staaten brachten immerhin im 20. Jahrhundert nach gewisser Anlaufzeit die notwendige Härte für den Widerstand auf. Die heutigen Politiker würden die Wähler besser mit dieser Aussicht auf den wieder notwendigen Widerstand vertraut machen, anstatt mit immer neuen Schulden Probleme wie Ölpreise, steigende Kosten der Nahrungsmittel, die Energieversorgung der Industrie durch simple staatliche Durchfinanzierung zu anästhesieren.

Gegenüber Chinas Säbelrasseln zu Taiwan wird dies rasch zu klären sein. Taiwan wird ebenfalls als „abtrünnige Provinz“ aus der maximal je erreichten Ausdehnung definiert, wie Russlands Ukraine. Erstaunlicherweise arbeitet gerade der Geschäftssinn des „doux commerce“ gegenwärtig einer Konfrontation entgegen, denn viele Firmen ziehen ihre Filialen aus dem geopolitisch plötzlich unsicher erscheinenden China ab, sie scheuen den Finanzplatz dort, sie sehen sich nach anderen Lieferketten um. Auch die westlichen Investitionen in China fallen deutlich. Bevor man also Sanktionen ergreifen muss, zeigt man die ökonomische rote Karte, und hoffentlich wirkt sie auf Peking ein.

Primat der Freiheit und Überlegenheit demokratischer Gesellschaften

Doch wie die Geschichte zeigt, war den Autokraten seit jeher die Ideologie und der Landfraß wichtiger. Politiker freiheitlich-demokratischer Staaten sollten jedenfalls im Voraus davor warnen – sowie die Pfähle des Widerstands glaubhaft markieren und einschlagen. Für westliche Konsumenten wird dabei vieles teurer werden, Lieferketten könnten ins Stocken geraten: Das ist kein Grund zu klagen oder gar nachzugeben – aus Verweichlichung. Adam Smith sah es klar: Feigheit ist eine mentale Verstümmelung! („Wohlstand der Nationen“, Buch V, Kap. 1).

Wenn die These vieler Kulturpessimisten – und Adam Smiths – widerlegt werden soll, dass Wohlstand verweichlicht, dann haben demokratische westliche Gesellschaften zwar die ökonomischen Triebfedern des Wohlstands – den Markt, das Eigentum – zu pflegen, sind dabei aber dennoch fähig, die Freiheit, die Anstrengung, die Härte im Notfall höher zu werten. Dass dies nicht aussichtslos, ja im Gegenteil erfolgsversprechend erscheinen muss, zeigt die westliche Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine und die auch den Westen schmerzenden Sanktionen. Sie sind auch ein guter Anfang, um künftig dem Reich der Mitte den Griff nach Taiwan zu verleiden. In offenen Gesellschaften ist die Chance gegeben, dabei nur kleinere, aber korrigierbare Fehler zu machen, während Autokraten wie Putin oder Xi immer ganze Bündel möglicher Lösungen ausschließen müssen, pfadabhängig sind, und große  irreparable Fehler machen.

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