Sicher ist die direkte Demokratie nicht Heilmittel für alle Mängel der Politik. Und auch die direktdemokratischen Elemente in der Schweiz sind nur ein Teil eines größeren Ganzen, denn die Schweiz ist auch eine parlamentarische, repräsentative Demokratie. Das letzte Wort hat jedoch immer das Volk – der «Souverän». Sei es, weil gewisse Geschäfte aufgrund der Verfassung einer Volksabstimmung unterliegen, sei es, dass das Volk eine solche verlangen kann –indem es, wie man sagt, «das Referendum ergreift». Ja, es kann sogar mittels einer Verfassungsinitiative direkt die Verfassung ändern.
Die direkte Demokratie: ein Modell für Europa?
Wäre das vielleicht ein Modell für Europa? Es wird zwar oft gesagt, nur wenige wissen allerdings, was direkte Demokratie genau heißt, was sie beinhaltet und was sie von den Bürgerinnen und Bürgern verlangt. Für das hochüberschuldete Europa allerdings könnten Elemente einer direkten Demokratie durchaus attraktiv und heilsam sein.
Denn eines ist sicher: Ein direktdemokratisch, und das heißt auch immer: gemäß dem Subsidiaritätsprinzip organisierter Staat ist weniger verschuldet und hat einen ausgeglichenen Haushalt. Plant in der Schweiz der Bund, ein Kanton oder eine Gemeinde Steuererhöhungen und teure Bauvorhaben, wird meistens das Referendum ergriffen. Das Volk ist weit weniger ausgabenfreudig als die Verwaltung. Deswegen ist die Schweiz weniger verschuldet als die meisten (rein) repräsentativen Demokratien.
Das Schweizer Modell: Volksrechte und Subsidiarität
Die einzige direkte Demokratie ist weltweit die Schweizerische Eidgenossenschaft– so lautet die offizielle Bezeichnung der Schweiz. Sie ist aber auch eine repräsentative Demokratie mit so weit ausgebauten Volksrechten, dass sie eben allgemein als „direkte Demokratie“ bezeichnet wird. In der Schweiz haben die Bürger vergleichsweise einen starken Einfluss auf Entscheidungen der staatlichen Organe auf der Ebene des Zentralstaates, der Gliedstaaten und der Gemeinden. Wegen der grossen Zahl von Geschäften, über die das Volk abstimmen muss, findet damit in der Schweiz etwa die Hälfte aller weltweit abgehaltenen Volksabstimmungen statt – in absoluten Zahlen!
Sehr wichtig ist zudem das Subsidiaritätsprinzip. Danach sollten (höhere) staatliche Institutionen nur dann regulativ eingreifen, wenn die Möglichkeiten der Kantone und der Gemeinden oder privater Personen allein nicht ausreichen, eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Eher sollten die übergeordneten Instanzen den unteren helfen, die ihnen eigenen Aufgaben zu erfüllen. Das geht nur, wenn die niedrigeren staatlichen Ebenen, also die Kantone und Gemeinden, entsprechende finanzielle Kompetenzen haben und die damit verbundene Verantwortung tragen.
Ein ausgeklügeltes und dezentrales System
Im Schweizer Steuersystem haben die Kantone eine hohe Steuerautonomie. Der Bund darf nur Steuern erheben, wenn ihm dies die Bundesverfassung zeitlich begrenzt gestattet. Die von Volk und Ständen – also den Kantonen – 2021 angenommene Finanzordnung gibt dem Bund weiterhin das Recht, die direkte Bundessteuer und die Mehrwertsteuer bis Ende 2035 zu erheben. So legen in der Schweiz der Bund, die 26 Kantone und die rund 2‘170 Gemeinden den Steuerfuss für ihre Steuern selbständig fest. Es gibt also Bundes-, Kantons- und Gemeindesteuern.
Der 1848 gegründete Bundesstaat kam noch ohne eigene Steuern aus. Er hatte nur die Zolleinnahmen. 1915 wurde von der Bundesversammlung eine befristete Kriegssteuer beschlossen, und 1940 wurde eine zeitlich befristete Wehrsteuer eingeführt. Erst 1958 wurde die Kompetenz des Bundes, direkte Steuern zu erheben, in der Bundesverfassung verankert. 1982 wurde die Steuer in „direkte Bundessteuer“ umbenannt. Heute ist die direkte Bundessteuer nach der Mehrwertsteuer die zweitwichtigste Einnahmequelle des Bundes.
Das weit verbreitete Finanzreferendum zwingt die Behörden wegen der eventuellen Volksabstimmung über die Steuersätze die Ausgaben für öffentliche Projekte vernünftig und massvoll zu planen.
Die Festlegung des Steuerfusses geschieht durch die Parlamente (in kleinen Gemeinden durch die Gemeindeversammlungen). Beschlüsse der Parlamente unterliegen dem Referendum, das die Bürger innerhalb einer bestimmten Frist mit der notwendigen Anzahl Unterschriften verlangen können (auf Bundesebene sind dies 50‘000 Unterschriften im Zeitraum von 100 Tagen seit der offiziellen Publikation; die Anzahl Unterschriften in Kantonen und Gemeinden variiert je nach der Einwohnerzahl). In den Kantonen und Gemeinden wird das Referendum natürlich am häufigsten gegen Steuererhöhungen ergriffen.
Das in Kantonen und Gemeinden weit verbreitete Finanzreferendum zwingt die Behörden wegen der eventuellen Volksabstimmung über die Steuersätze die Ausgaben für öffentliche Projekte vernünftig und massvoll zu planen. So werden auch die Finanzpolitik und das Handeln der politischen Behörden im Allgemeinen von der Bevölkerung besser verstanden. Die Exekutiven des Bundes, der Kantone und Gemeinden bemühen sich auch, die Finanzvorlagen so auszuarbeiten, dass ein Referendum vermieden werden kann, und bei einer obligatorischen Volksabstimmung wird alles getan, um eine Zustimmung zu erreichen.
Es ist daher nicht überraschend, dass die Schweiz deutlich weniger verschuldet ist als die meisten Mitgliedländer der EU. Auch Defizite der öffentlichen Haushalte sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Regelmässig werden auch Überschüsse erzielt. Die Stimmbürger wissen aus eigener Erfahrung, dass sie nicht dauernd mehr ausgeben als sie sich leisten können. Diese Erfahrung übertragen sie bei Abstimmungen auf den Staat. Daher wurde auch die Schuldenbremse für den Bundeshaushalt in der Volksabstimmung im Jahr 2001 mit über 80% Zustimmung angenommen. Das sind die finanziellen Vorteile der direkten Demokratie. Oft wird eingewendet, Entscheide dauerten wegen des ausgeprägten Föderalismus wesentlich länger als in einer Demokratie mit deutlich niedrigeren Kompetenzen, vor allem, wenn es ums Geld geht. Das ist sicher so, aber fast ebenso sicher sind dann die Defizite und Schulden höher. Dazu genügt ein Blick auf die Lage in zahlreichen europäischen Ländern, vor allem am Mittelmeer (einschliesslich Frankreich), auf Japan und die USA. Den Bürgern bleiben dann vorerst nur ein Achselzucken und das Warten auf die nächsten Wahlen.
Wichtig für die direkte Demokratie ist das Subsidiaritätsprinzip. Von Abstimmungen auf lokaler Ebene sind die Bürger meist unmittelbarer betroffen als auf Bundesebene. Dafür benötigt das Stimmvolk gesunden Menschenverstand und ein hinreichendes Urteilsvermögen. Vorab die Finanzkompetenzen der Gemeinden und der Kantone sind für die Abstimmenden sehr direkt spürbar. Dies erklärt auch die überwältigende Zustimmung von über 80% zu einer Verankerung der Schuldenbremse in der Bundesverfassung. So ist die Finanzpolitik in der Schweiz (und in Liechtenstein) wohl unbewusst im Sinne der österreichischen Schule der Nationalökonomie ausgestaltet, nicht wegen der überall ausgabenfreudigen Exekutive, sondern wegen der Abstimmungen, die auch schon als blosse «Drohung» die Politik disziplinieren.
Ein Blick auf die Nachbarländer
Wie steht es bei den Nachbarländern der Schweiz? Im Fürstentum Liechtenstein ist die direkte Demokratie im Wesentlichen gleich ausgestaltet wie in der Schweiz. Allerdings bedürfen Gesetze der Unterzeichnung durch den Fürsten. Lehnt er dies ab, kann das Gesetz nicht in Kraft treten. Dies ist bis heute erst einmal geschehen und betraf das Jagdgesetz. Ausserdem hat das Fürstenhaus festgehalten, dass es einer Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs nicht zustimmen würde. Eine Unterzeichnung des Fürsten braucht es dagegen nicht für die Abschaffung der Monarchie, oder wenn eine Gemeinde aus dem Staat Liechtenstein austreten will!
Auf Bundesebene kennt Österreich die Volksabstimmung, die Volksbefragung und das Volksbegehren. Seit 1945 gab es die Volksabstimmungen über die Inbetriebnahme des AKWs Zwentendorf und 1995 über den Beitritt zur Europäischen Union sowie eine Volksbefragung über die Wehrpflicht. Volksbegehren gab es zahlreiche. Damit kann nur eine Behandlung des Begehrens im Nationalrat erreicht werden. Volksbegehren sind keine Akte der Volkssouveränität, haben also keinen direktdemokratischen Entscheidungscharakter.
Direktdemokratische Elemente sind in Deutschland auf allen politischen Ebenen vorgesehen und durch das Grundgesetz abgedeckt. Sie haben aber bis heute politisch kaum eine Rolle gespielt. In Italien gab es seit 1970 rund 70 und in Frankreich 17 Volksabstimmungen seit 1851. Wo Volksabstimmungen aber nicht vom Volk selbst verlangt, sondern von der Regierung «gewährt» oder gar von ihr initiiert werden, haben sie eher plebiszitären Charakter. Sie sind dann ein Mittel des Staates, um eine bestimmte Politik zu legitimieren – man denke an das Brexit-Referendum, das dann aber nicht wie von der Regierung erwartet herauskam.Solche «Referenden» entsprechen nicht Volksrechten, denn diese schränken die Macht der Regierung ein.
Genau darum geht es bei der direkten Demokratie: um die Einschränkung staatlicher Souveränität und Macht. Sie ist eine Art Gewaltenteilung zwischen Volk und Regierung und führt deshalb zu einer Politik, die zusammen mit den klassischen repräsentativ-parlamentarischen Elementen weniger von den unmittelbaren Interessen der Bürger abgekoppelt ist, ganz besonders was den Umgang mit Steuergeldern betrifft.
Vielleicht also doch ein Modell für Europa oder zumindest für einzelne europäische Staaten?