Der Staat darf kein barmherziger Samariter sein, sonst verstößt er gegen die Gerechtigkeit

Erst als im Mai dieses Jahres ein bisher der breiten Öffentlichkeit unbekannter, aus den USA stammender Kardinal zum Papst gewählt worden war, machte auch hier in Europa ein Tweet des US-amerikanischen Vizepräsidenten JD Vance Schlagzeilen, mit dem dieser Anfang Februar 2025 die neue Einwanderungspolitik der Regierung Trump zu rechtfertigen versucht hatte: Jeder Mensch, so Vance, müsse zuerst die Mitglieder seiner eigenen Familie lieben, dann den Nachbarn, dann die Gemeindemitglieder, schließlich die Mitbürger – erst dann den Rest der Welt, also auch die Einwanderer. Das sei das christliche Konzept der Ordnung der Liebe. Und danach müsste sich auch die staatliche Einwanderungspolitik richten.

Migrationspolitik: Ein Fall für christliche Nächstenliebe?

Es gab Widerspruch von verschiedenster Seite, eben auch von Kardinal Prevost, dem jetzigen Papst Leo XIV. Dieser postete auf X einen Artikel aus dem National Catholic Reporter, in dem, mit Rückgriff auf das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter, argumentiert wurde, christliche Nächstenliebe sei universal, schließe niemanden aus und das christliche, auf Augustinus zurückgehende Konzept der „Ordnung der Liebe“, sei hier nicht einschlägig.

Die Frage, die Jesus im Evangelium gestellt wurde, lautete „Wer ist mein Nächster?“  Seine Antwort war das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Für den zufällig vorbeigehenden Mann aus Samaria war der Nächste der verletzt am Boden liegende und ausgeplünderte Jude. Die Juden betrachteten die Samariter als Abtrünnige im Glauben und sie verkehrten nicht mit ihnen. In der „Ordnung der Liebe“ stand also der Jude beim Samariter wohl ganz hinten. Wie aus dem Gleichnis hervorgeht, hatte er übrigens dringende Geschäfte zu erledigen.

Die Debatte um Einwanderungspolitik unter dem Titel des barmherzigen Samariters oder der christlichen Nächstenliebe zu führen, war von Anfang an ein Irrweg. Aufgabe des Staates ist nicht, Barmherzigkeit zu üben, sondern die öffentlichen Angelegenheiten, die in seine Kompetenz fallen, nach den Maßstäben der Gerechtigkeit zu ordnen.

Für die Frage der Flüchtlings-, Asyl- und Migrationspolitik – im Grunde drei verschiedene Dinge – hat sich auch im deutschen Sprachraum in der innerkirchlichen, zuweilen aber auch in der politischen Diskussion, der Verweis auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter eingebürgert. Migrationspolitik wurde damit zu einer Frage der christlichen Nächstenliebe. Damit kam die Diskussion, auch unter Theologen und eben auch in den USA, auf ein falsches Geleise. Der Konvertit JD Vance ist auch in dieser Frage eifrig auf den scheinbar so christlichen Zug aufgesprungen.

Staatliche Einwanderungspolitik, Politik überhaupt, hat jedoch nichts mit Nächstenliebe oder Barmherzigkeit zu tun. So war Angela Merkels Aufhebung der Rückweisung an der Grenze papierloser Immigranten 2015 kein Akt der Barmherzigkeit, sondern im besten Fall Zeichen der Schwäche und Überforderung, im weniger guten Fall politische Unklugheit und Effekthascherei, im schlimmsten – aber leider wohl wahrscheinlichsten – Fall, purer Machtinstinkt: das eiskalte Kalkül, durch die Schaffung von Fakten der eigenen Politik fortan eine Art monopolartige Alternativlosigkeit zu verschaffen und Kritiker in die böse Ecke der Unmenschen zu stellen. Allerdings war das Kalkül, wie wir heute wissen – und schon damals viele anmahnten – politisch und ökonomisch verantwortungslos, in mancher Hinsicht gar destruktiv.

Nächstenliebe finanziert sich nicht aus Steuergeldern

„Der Staat ist kein Individuum wie der Samariter im Gleichnis Jesu“ schrieb der evangelische Wiener Theologe Ulrich H. J. Körtner sehr treffend. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher hat einmal in ihrer unvergleichlich deutlichen Art gesagt warum: Der barmherzige Samariter tat – und tut auch heute noch – Gutes mit seinem eigenen Geld. Der Staat bzw. die Politiker tun alles, was sie tun, Gutes und Schlechtes, mit dem Geld anderer Leute. Dazu kommt: Weder diejenigen, die Steuern bezahlten, haben dies aus Nächstenliebe getan (sondern im Idealfall aus Gerechtigkeit, in jedem Fall jedoch unter Strafandrohung), noch geben Politiker Geld aus Nächstenliebe aus (sondern um gesetzliche Vorgaben zu erfüllen oder einfach um sich bei den Wählern beliebt zu machen).

Damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind Tugenden, und Tugenden sind immer Haltungen von Personen, sie bewegen sich „auf einer individualethischen Ebene“ (Körtner). Sie prägen freie menschliche Entscheidungen und sind Ausdruck der inneren Einstellung. Sie sind Ausdruck und Einheit von Gesinnung und Verantwortungssinn, die unser Verhalten gegenüber uns selbst, anderen Personen und den Umgang mit Problemen und Konflikten prägen und damit bestimmen, ob wir gute oder eben schlechte, böse Menschen sind.

Das alles lässt sich nicht auf den Staat übertragen. Natürlich können auch öffentliche Amtsträger und Repräsentanten von Institutionen gut oder böse sein. Sie können sich ihren Mitmenschen gegenüber – Mitarbeitern, Untergebenen, Vorgesetzten – in ethischer Hinsicht auf verschiedene Weise verhalten. Sie können Lügner oder wahrheitsliebend, ehrlich oder betrügerisch, loyal oder illoyal, arbeitsam oder faul, hilfsbereit oder nur auf den eigenen Vorteil bedacht, knausrig oder großzügig sein – und vieles anderes mehr. Gerade ihre persönliche Großzügigkeit kann sich jedoch nicht daran messen, wie großzügig sie mit Steuergeldern umgehen, wie viel öffentliche Schulden sie gar in Kauf nehmen, um anderen Gutes zu tun. Jeder sieht, wie absurd eine solche Beschreibung der Tugend der Großzügigkeit und auch der Nächstenliebe wäre. Und wie ruinös eine Politik, der ein solches Selbstverständnis eigen wäre.

Der Staat handelt zum Wohl der Allgemeinheit, gemäß Kriterien der Gerechtigkeit

Öffentliche Amtsträger, Politiker, Beamte haben sich – in ihrer Eigenschaft als solche eben – an die Gesetze zu halten und sind dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet, in deren Interesse die Gesetze gemacht werden. Nicht aber wenden sie sich dem einzelnen Geschundenen und Malträtierten zu, den sie am Wegesrand finden. Dafür gibt es die Zivilgesellschaft, die Caritas, die Kasse von Pfarrern und Bischöfen, und eben das Portemonnaie jedes einzelnen Bürgers. Dazu gehören natürlich auch Politiker und Amtspersonen, aber als Privatleute und mit ihrem eigenen Geld eben, ohne sich der Mittel der Staatsgewalt und der Staatsfinanzen zu bedienen. Es wäre keine Tugend, sondern eher Veruntreuung anvertrauten Gutes. Über jene, die das ihnen anvertraute Gut veruntreuen, gibt es im Evangelium harte Worte.

Die Debatte um Einwanderungspolitik unter dem Titel des barmherzigen Samariters oder der christlichen Nächstenliebe zu führen, war von Anfang an ein Irrweg. Aufgabe des Staates ist nicht, Barmherzigkeit zu üben, sondern die öffentlichen Angelegenheiten, die in seine Kompetenz fallen, nach den Maßstäben der Gerechtigkeit zu ordnen. Gerechtigkeit bedarf freilich der Ergänzung durch Nächstenliebe und Barmherzigkeit – das aber eben mit eigenem Geld! Meine Nächstenliebe darf den Steuerzahler nichts kosten, mich selbst aber schon.

Nächstenliebe und Gerechtigkeit bedingen sich gegenseitig – aber auf verschiedenen Ebenen

Nächstenliebe setzt Gerechtigkeit voraus. „Nächstenliebe“ mit Steuergeldern zu praktizieren, ist eine Ungerechtigkeit, genauso wie barmherzige Spenden mit gestohlenem oder veruntreutem Geld keine Akte der Nächstenliebe, also der Tugend sind. Was Angela Merkel unter dem Anschein der Barmherzigkeit und des Gutmenschentums 2015 getan hat, war – unabhängig von ihren Absichten – eine Ungerechtigkeit höchsten Grades und deshalb auch weder Nächstenliebe noch Barmherzigkeit. Denn was sie 2015 tat, tat sie mit dem Geld ihrer Mitbürger – wie wir heute wissen: in der Höhe eines zwei- oder gar dreistelligen Milliardenbetrags –, ohne deren Zustimmung und ohne jede demokratische Legitimation, und ohne dabei auch nur einen Cent aus der eigenen Tasche beizusteuern. Der Samariter hingegen brachte den geschundenen Fremden, den er am Wegesrande aufgelesen hatte, in eine Herberge und bezahlte die Pflege aus eigener Tasche, nachdem er zunächst mit eigenen Mitteln seine Wunden gewaschen und verbunden hatte; und nach seiner Geschäftsreise kam er noch einmal zurück, um dem Wirt etwaige Mehrausgaben zu erstatten.

Staatliches Handeln ist, so sagt es die christliche Gesellschaftslehre und der Commonsense, auf das Gemeinwohl gerichtet. Worin dieses im Einzelnen besteht und wie es auch bestimmt werden mag: Der Maßstab für staatliches Handeln ist jedenfalls die Gerechtigkeit in ihren verschiedenen Dimensionen. Nicht die Gerechtigkeit als Tugend des Einzelnen, sondern die Gerechtigkeit – oder „Fairness“ – der öffentlichen Hand bzw. öffentlicher Institutionen hinsichtlich der „durch das Gemeinwohl geforderten verhältnismäßigen Gleichheit bei der Austeilung von Lasten und Begünstigungen“ (Johannes Messner). Klassisch nannte man das „distributive Gerechtigkeit“. Da gibt es immer noch genug zu debattieren und zu streiten.

Der Verweis auf das christliche Liebesgebot ist in diesem Kontext jedenfalls irreführend. Auch der Sozialstaat muss sich im Rahmen der distributiven Gerechtigkeit, und nicht der Nächstenliebe und Barmherzigkeit bewegen. „Es ist“, so der Soziologie und Sozialethiker Hans Joas 2016 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, „ein Missverständnis des christlichen Liebesgebotes, wenn es so aufgefasst wird, als setze es die Forderungen der Gerechtigkeit und politischen Klugheit außer Kraft.“ Erliegt man diesem Missverständnis, so verfällt man dem politischen Moralismus und damit dem „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ (Hermann Lübbe).

Auch jede Ungerechtigkeit verstößt gegen die Liebe

Staatliches Handeln im Horizont der Gerechtigkeit lässt sich also auch als Vorbedingung christlicher Liebe beschreiben. Politiker, die nicht auf das Allgemeinwohl und die Erfordernisse der politischen Klugheit bedacht handeln, die sich um ihren Amtseid nicht scheren, mit dem sie sich verpflichtet haben, auf dem Boden der Verfassung und des geltenden Rechts ihren Mitbürgern zu dienen, verstoßen gegen die Gerechtigkeit und damit ipso facto auch gegen die Liebe zu ihren Mitmenschen. Sie tun dies auf eine Weise, wie es nur öffentliche Amtspersonen tun können: Indem sie ihr Land und seine Sozialsysteme durch Überbeanspruchung destabilisieren, indem sie Nichtzahlenden Vorteile über solche verschaffen, die ihr Leben lang Steuern und Abgaben bezahlt haben, und anderes mehr. Wenn ich das aus meiner eigenen Tasche tue, ist das schön und barmherzig. Wenn ich es mit dem Geld der anderen mache, ist es ungerecht und verstößt damit gegen die Liebe.

Wie der große Theologe und Kirchenlehrer Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert lehrte, ist jede ungerechte Tat automatisch, weil ungerecht, auch ein Verstoß gegen die Liebe. Um dafür ein weiteres Beispiel zu nennen: Dadurch, dass Politiker mit einer unverantwortlichen Einwanderungspolitik die Qualität der Schulbildung drastisch vermindern, verstoßen sie schwerwiegend gegen das Wohl der Allgemeinheit und damit gegen die Gerechtigkeit ihren eigenen Bürgern gegenüber. Natürlich ist auch das, allein schon, weil es ungerecht ist, zusätzlich ein Verstoß gegen das christliche Liebesgebot. Ganz abgesehen davon – darauf hat der Migrationsexperte Paul Collier von der Universität Oxford in seinem Buch „Exodus“ hingewiesen – trägt eine unverantwortliche Einwanderungspolitik à la Merkel zum Braindrain armer Länder bei, fördert also die Abwanderung der Bestqualifizierten und bewirkt so das Gegenteil dessen, was für die Eindämmung der unkontrollierten Migrationsströme das Wichtigste wäre: die Bekämpfung der „Fluchtursachen“.

Wo JD Vance Recht hat und wo er und seine Kritiker Unrecht haben

Damit komme ich auf die unglückliche Äußerung von JD Vance, aber auch die verfehlte Reaktion seiner Kritiker zurück. Zur Ordnung der Liebe gehört auch die Ordnung der Gerechtigkeit, sie ist sogar die Grundlage dafür. Und so war es auch bei Augustinus und später bei Thomas von Aquin gemeint. Lieben müssen wir alle Menschen, die Universalität des Liebesgebots impliziert eben, dass der am Wegesrand Liegende eo ipso mein Nächster ist. Dennoch, und hier hat Vance recht, habe ich nicht eo ipso gegenüber allen Menschen dieselben Verpflichtungen. Doch geht es hier nicht um das Gebot der Nächstenliebe, hier haben sich Vance, aber auch seine Kritiker vertan, sondern um qualifizierte Gerechtigkeitspflichten gegenüber Nahestehenden. Gegenüber den Angehörigen der eigenen Familie, besonders den Kindern und Eltern, hat man spezifische und besondere Verpflichtungen, die man nicht gegenüber Nachbarn, Mitbürgern oder gar Menschen hat, die an die Türe des eigenen Landes klopfen. Es sind Pflichten der Gerechtigkeit: der Dankbarkeit, der Pietät und vor allem der Fürsorge und Solidarität. Und da die Gerechtigkeit Grundlage der Liebe ist, ist diese Ordnung der Gerechtigkeit automatisch Grundlage des „ordo amoris“, der Ordnung der Liebe.

Für die staatliche Migrationspolitik ist das aber ein irrelevanter, oder besser: ein unter der Schwelle seiner Verantwortlichkeiten liegender Gesichtspunkt. Denn der Staat hat wie gesagt keine Pflichten gegenüber konkreten Menschen oder Gruppen von Menschen, sondern gegenüber der Allgemeinheit seiner Bürger. Hier liegen seine Aufgaben, dafür haben Regierungsmitglieder ihren Amtseid abgelegt. Der Staat ist, wie Friedrich A. von Hayek treffend ausgeführt hat, keine Großfamilie, in der die ethischen Maßstäbe des Stammes oder der familiären Kleingruppe gelten können. Das würde zu Unfreiheit und Unterdrückung führen. Das staatliche Gemeinwesen ist auch nicht eine christliche Großfamilie, in der alle „Brüder“ und „Schwestern“ sind und die sich nach den Kriterien des Liebesgebots organisiert. Solche Versuche hat es im Laufe der Geschichte immer wieder gegeben. Sie blieben entweder Utopie oder endeten in Unterdrückung und Terror. Das wiederum haben die Kritiker von Vance übersehen.

Allerdings: Auch wenn der Staat aus guten Gründen die Grenzen dicht macht, habe ich als Einzelner, gegenüber dem über die Grenze gelangten mittellosen Immigranten, dem ich begegne, oder haben zivilgesellschaftliche Gruppen, religiöse Gemeinschaften usw., die nach der Logik der Kleingruppe oder der Freiwilligkeit konstituiert sind, Verpflichtungen der Menschlichkeit, die wir als Nächstenliebe bezeichnen können. Welche Verpflichtungen das im Einzelnen sind, wäre zu klären. Ich darf ja niemanden verhungern oder verbluten lassen, nur weil er illegal über die Grenze gelangt ist! Jedoch darüber zu bestimmen, wer über die Grenze des Landes kommt, wer sich also legal dort aufhält, ist Zuständigkeit des Staates, der politischen Behörden. Und dies nicht nach Maßstäben von Barmherzigkeit und Liebe, sondern nach Kriterien der auf das allgemeine, öffentliche Wohl zielenden Gerechtigkeit und der politischen Klugheit, die in einem demokratischen Gemeinwesen auch immer wieder neu zu verhandeln sind. Selbst Zurückweisung an der Grenze und Ausschaffung illegal Eingewanderter kann durchaus ein Gebot der Gerechtigkeit und politischen Klugheit sein. Dann verstößt sie auch nicht gegen das christliche Liebesgebot, sondern ist eher Vorbedingung dafür, dieses zu erfüllen.

 

Dieser Artikel ist zuerst unter dem Titel Der Staat darf kein barmherziger Samariter sein am 20. Juni 2025 im österreichischen Wirtschaftsmedium SELEKTIV erschienen.

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