Es mehren sich die Stimmen, die vor den wirtschaftlichen Folgen der militärischen Unterstützung der Ukraine und den Sanktionen gegenüber Russland warnen. Insbesondere Europa, so heißt es, würde sich damit nur ins eigene Fleisch schneiden und seinen Wohlstand aufs Spiel setzen.
Russland führt diesen Krieg bekanntlich hybrid. Und dieser Krieg hat schon seit langem begonnen. Nur, weil der Westen, sprich: die Nato, in der Ukraine nicht auch militärisch zurückschlägt, heißt das nicht, das wir uns nicht im Krieg mit Russland befinden.
Es besteht kein Zweifel: Die Kosten von militärischer Hilfe für die Ukraine und wirtschaftlicher Engpässe infolge der Sanktionen gegen Russland werden uns teuer zu stehen kommen. Und sie werden unseren Wohlstand mindern. Ob solche Opfer angemessen sind, hängt von der Beantwortung einer einzigen Frage ab: Handelt es sich beim russischen Annexionskrieg gegen die Ukraine lediglich um einen regionalen Konflikt, in dem wir den Angegriffenen aus Sympathie und Solidarität unterstützen, oder handelt es sich um eine Aggression, die den Westen, insbesondere Europa, also uns selbst, unser freiheitliches Selbstverständnis, unsere demokratische politische Kultur und langfristig auch unseren Wohlstand ernsthaft bedroht?
Krieg mit nichtmilitärischen Mitteln
Anders gefragt: Ist die russische Aggression gegen die Ukraine auch eine solche gegen Europa bzw. den Westen insgesamt? Russland führt diesen Krieg bekanntlich hybrid. Und dieser Krieg hat schon seit langem begonnen. Nur, weil der Westen, sprich: die Nato, in der Ukraine nicht auch militärisch zurückschlägt, heißt das nicht, das wir uns nicht im Krieg mit Russland befinden. Das ist kein Aufruf zur Verwischung der Grenzen zwischen militärischer Gewaltanwendung und nichtmilitärischen Mitteln. Noch weniger wird damit einem direkten Eingreifen der Nato in das Kriegsgeschehen das Wort geredet – im Gegenteil. Vielmehr geht es – in Abwandlung eines bekannten Wortes – um die Erkenntnis: „Wenn du Frieden willst, dann erkenne, dass du dich bereits im Krieg befindest.“
Das heißt: Erkenne zunächst, wie der Gegner seinen Krieg gegen dich führt – nicht mit Kanonen und Maschinengewehren, sondern mit Propaganda, Desinformation, Beeinflussung und Sabotage im Cyberspace, durch Spaltung der öffentlichen Meinung und Säen von Misstrauen und Schüren von Hass. Russland versucht mit massiven Eingriffen, unsere Demokratien zu destabilisieren, indem es Wahlkämpfe beeinflusst, und extreme, sowohl linke wie auch rechte Positionen, die der Polarisierung und Demokratieverdrossenheit Vorschub leisten, unterstützt. Die Nachweise häufen sich, dass dafür massiv russische Gelder fließen. Das alles ist hochgefährlich.
Gefährliche Abhängigkeiten
Zudem ist es Russland gelungen, Europa von seinen Rohstoffen abhängig zu machen. Nun ist es im Begriff, sich die ukrainische Kornkammer anzueignen und damit Kontrolle über die weltweite Ernährungssicherheit zu erhalten. Das kürzliche russische Angebot, Getreidelieferungen aus der Ukraine gegen die Aufhebung der Sanktionen freizugeben, ist eine leicht durchschaubare Falle. Putins Russland – ob es nur das seine ist, bleibe dahingestellt – will mit der Ukraine die geopolitische Hegemonie in Europa und mit seinem Zugriff auf die Kornkammer Europas auch diejenige in Afrika und anderswo erringen.
Der Feind sind die angeblich „dekadenten“ USA: ein Bild, das Antiamerikanismus erzeugt, der als Frucht jahrelanger russischer Propaganda und Desinformation nun nicht nur in linken Köpfen herrscht, sondern auch von rechter Seite verbreitet wird. Dass die USA im Gefolge des Zweiten Weltkrieges selbst eine Art Hegemonie etabliert haben und sich dabei nicht immer als Unschuldsengel gebärdeten, ist bekannt. Aber die Hegemonie des Dollars und der amerikanischen militärischen Überlegenheit ist eine, unter deren Schutz Freiheit und Wohlstand gedeihen können.
Imperiale Träume und ihre Gefahren
Natürlich schürt die russische Desinformation auch die Zweifel des Westens daran, ob es sich denn lohne, so viele Opfer zu bringen, um einen russischen Sieg gegen die Ukraine zu verhindern – einen Sieg, das muss man wissen, der erklärterweise zur Auslöschung der Ukraine als souveräner Staat und einer seit dem Mittelalter nach Westen hin orientierten Kulturnation führen würde; wie auch zur Eliminierung der politischen und kulturellen ukrainischen Elite, zu massenhaften Deportationen, die ja in den eroberten Gebieten schon begonnen haben, und zur Umerziehung des „Restvolkes“ mit der Gewalt der systematischen Zensur und autoritärer Herrschaft – man blicke nur auf das heutige Russland.
Eine auf diese Weise von Russland beherrschte Ukraine würde der Verwirklichung des imperialen Traumes Putins einen wesentlichen Schritt näherbringen. Die baltischen Staaten mit ihrem hohen russischen Bevölkerungsanteil wie auch die Moldau könnten sich dem Einfluss Russlands nur schwer entziehen. Der Druck auf Polen würde steigen, zumal dort nun ein enorm hoher ukrainischer Bevölkerungsanteil existiert. Die sozialen Spannungen, die daraus voraussichtlich entstehen und von Russland sicherlich gefördert werden, wird Putin dann als Vorwand für Einmischungen und Druckversuche nutzen können. Und das wäre nur der Anfang.
Es liegt im ureigensten Interesse Europas, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt und Raum geschaffen wird, für einen Friedensschluss, auf dessen Grundlage die Ukraine als souveräner und demokratischer Staat weiterexistieren kann.
Jedenfalls wird sich die geopolitische Stärke Russlands, durch eine russifizierte Ukraine erweitert und vom Satelliten Weißrussland strategisch abgerundet, in Europa auf ungemütliche Weise bemerkbar machen. Zumal es ja dann in einer Welt, die den Frieden mit einem imperialen Russland gemacht hat, keinen Grund mehr gäbe, uns weiterhin der Abhängigkeit von seinen Erdöl- und Erdgasreserven zu widersetzen. Andernfalls könnte sich Russland ja seine Devisen aus China und Indien holen und gemeinsam mit diesen – allein schon wegen ihrer schieren Menschenzahl – schwergewichtigen geopolitischen Akteuren den Druck auf Europa erhöhen.
Was sagte Kissinger wirklich?
Bei nüchterner Abwägung zeigt sich: Es liegt im ureigensten Interesse des Westens und Europas im Besonderen, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt und Raum geschaffen wird, für einen Friedensschluss, auf dessen Grundlage die Ukraine als souveräner und demokratischer Staat weiterexistieren kann. Der greise Henry Kissinger meinte am vergangenen 23. Mai am WEF in Davos über Videozuschaltung in teilweise nur schwer verständlicher Rede (vgl. das nicht ganz fehlerfreie Transkript und den entscheidenden Ausschnitt aus dem Video): Idealerweise sollte man zum „Status quo ante“ zurückkehren. Und dann Russland in Ruhe lassen, denn alles andere wäre kein Krieg zur Befreiung der Ukraine mehr, sondern ein Krieg gegen Russland. Einverstanden!
Aber was meinte Kissinger mit „Status quo ante“ – worauf bezieht sich hier das „ante“, das Wort „vorher“? Anfang März 2014 hatte Kissinger in einem vielzitierten Artikel in der „Washington Post“ unter anderem gefordert, die Krim müsse der Ukraine zurückgegeben werden. Der Donbass war damals noch kein Thema. Der ukrainische Präsident Selenski fordert jetzt als Voraussetzung für Verhandlungen den Rückzug der russischen Armee hinter die Linien vor dem 24. Februar 2022. Auch das klingt vernünftig. Krim und Donbass wären dann Gegenstand der Verhandlungen.
Aber in der internationalen Presse wurde Kissingers Vorschlag einmütig ganz anders kommuniziert: Er fordere, so las man überall, die Ukraine müsse Territorien abtreten, und zwar den Donbass und die Krim, wenn nicht noch mehr. Die Wörter „Territorien“, „Donbass“ und „Krim“ kommen jedoch in Kissingers Äußerungen überhaupt nicht vor! Wer also hat Kissingers Botschaft manipuliert und mit der Verfälschung der Aussagen des 99-jährigen Greises die Leitmedien gefüttert, von denen dann alle anderen abschrieben? Folge war jedenfalls eine gegenüber den angeblichen Forderungen Kissingers wütende Reaktion des ukrainischen Präsidenten sowie das Triumphgeheul westlicher russlandfreundlicher Medien. So funktioniert russische Desinformation und Propaganda!
Im Interesse des Westens
Wer also hinsichtlich Sanktionen und Lieferung von Waffen die Kostenfrage aufwirft, sollte sich zunächst fragen, ob er verstanden hat, dass wir uns bereits im Krieg mit Russland befinden, oder ob er lieber die Augen vor der Realität verschließt. Es liegt im Interesse Europas, des Westens insgesamt, Putin zu stoppen. Und stoppen kann man ihn vorderhand nur in der Ukraine, indem man dafür sorgt, dass diese den Krieg so weit gewinnt, dass Russland zu Verhandlungen gezwungen wird, deren Ausgangsbedingungen für die Ukraine akzeptabel sind.
Dass wir unsere Freiheit in der Ukraine verteidigen, ist also kein idealistisch-moralistischer, rein gesinnungsethischer Appell, sondern Ausdruck verantwortungsethischer Wahrnehmung der eigenen Interessen. Wer sich im Krieg befindet, muss aber auch bereit sein, die entsprechenden Kosten zu tragen, die nötigen Opfer zu bringen und sich mit den daraus ergebenden Einschränkungen abzufinden. Das wiederum könnte angesichts unserer verwöhnten Wohlfühl- und Anspruchsgesellschaft auch heilsam wirken.
Dieser Artikel erschien zunächst geringfügig gekürzt unter dem Titel „Der Westen verteidigt seine Freiheit“ in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. Juni 2022, S. 31. Online auf nzz.ch unter dem Titel „Machen wir uns nichts vor: Der Westen befindet sich im Krieg mit Russland. Das bedeutet auch, Opfer zu bringen“.