Mariana Mazzucatos Buch Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum, Verlag Antje Kunstmann, München 2014 (Original: The Entrepreneurial State. Debunking Public vs. Private Sector Myths, 2013) vertritt mit Nachdruck die These, der Schlüsselfaktor für die Entstehung von Innovationen seien nicht die Kräfte des Marktes, sondern die staatliche Industriepolitik. Laut Mazzucato, die als RM Phillips Professor in the Economics of Innovation an der University of Sussex lehrt, sind profitorientierte Unternehmen nicht viel mehr als Trittbrettfahrer staatsfinanzierter Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten.
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Mazzucato behauptet, ihre Argumente für die Wirksamkeit staatlicher Forschungs- und Entwicklungsausgaben gründeten auf der Evidenz der Fakten. Bei näherem Zusehen erweist sich ihre Beweiskette jedoch als ziemlich brüchig. Dies vor allem, weil sie sich eines sehr weitgefassten Begriffs von „Industriepolitik“ bedient, der auch die unbeabsichtigten Folgen staatlicher Interventionen miteinschließt. Zudem konzentriert sie sich nur auf die USA des 20. Jahrhunderts, meint aber auf dieser Grundlage allgemeingültige Gesetze aufstellen zu können. Letztlich misslingt es ihr aber, den Beweis dafür zu erbringen, dass einzelne staatliche Interventionen, deren Nützlichkeit sie so sehr rühmt, tatsächlich mit der Absicht vorgenommen wurden, die von ihr gepriesenen Ergebnisse zu erzielen.
Mazzucatos Buch ist mit widersprüchlichen Behauptungen gespickt. Sie präsentiert eine idyllische Sichtweise der Industriepolitik ...
Dieser Artikel will aufzeigen, warum Mazzucatos Argumente zugunsten der notwendigen Rolle des Staates bei der Förderung einer innovationsorientierten Ökonomie nicht zu überzeugen vermögen. Das grundlegende Problem ist, dass ihre Arbeit auf einem ökonomischen Denken beruht, das die Unvermeidlichkeit von Zielkonflikten (trade-offs) beim Einsatz knapper Ressourcen sowie die Rolle der Nachfrage und der Konsumenten in einer modernen Marktwirtschaft nicht berücksichtigt. Deshalb identifiziert sie unzulässigerweise bloßen technischen Fortschritt mit (unternehmerischer) Innovation. Doch nur letztere führt zu marktfähigen Produkten und damit zu wirtschaftlichem Wachstum.
Die Idee des Unternehmerstaates
Bücher erzählen Geschichten, und Geschichten müssen nicht unbedingt raffiniert ausgedacht oder bis in Detail ausgefeilt sein, um einen hohen Grad an Popularität zu erlangen. Manchmal reicht es, wenn sie mit tiefverwurzelten Vorurteilen übereinstimmen und diese bestätigen. Genau das scheint bei Das Kapital des Staates der Fall zu sein. Mazzucatos einflussreiche und preisgekrönte Arbeit fand weite Beachtung und wurde als Wendepunkt der Innovationsforschung gepriesen (z.B. Upbin 2013 und Madrick 2014). Martin Wolf (2013) beurteilte das Buch als eine erfolgreiche Rechtfertigung der Rolle des Staates bei der Investitionsförderung, von der er befand, sie sei ungebührlicherweise „aus der Geschichte hinausgeschrieben“ worden. Basierend auf Das Kapital des Staates zog Wolf den Schluss, dass „die Nichtanerkennung der Rolle des Staates für die Förderung von Innovationen wohl die größte Bedrohung des Wohlstandswachstums sein könnte[1]. Ein Mangel an adäquater staatlicher Unterstützung für Forschung und Entwicklung (F&E), so meinte er, könnte das Innovationstempo verlangsamen[2].
Mazzucato ist eine eindrucksvolle Rednerin und versierte Schreiberin; ihr Ruf gründet auf ihrer Entzauberung des angeblichen Mythos’, Innovationen würden aus Marktinteraktionen hervorgehen. Sie behauptet, dass gewinnorientierte private Unternehmer zu viel Anerkennung für Innovationen erhielten, während der Staat beständig beschuldigt werde, den technologischen Fortschritt durch Überregulierung des privaten Sektors abzuwürgen.
Mazzucato ist überzeugt, dass dieses staatskritische Narrativ in hohem Maße ideologisch ist und ihm die empirische Grundlage fehlt. Im Gegensatz dazu vertritt sie die These, dass enorm viele bahnbrechende Innovationen weder aufsehenerregenden Startups noch weitsichtigen Risikokapitalinvestoren zu verdanken seien. Der weitsichtigste und am wenigsten risikoaverse aller Investoren, behauptet sie, sei gerade der Staat. Nicht dem freien Markt, sondern der staatlichen Industriepolitik komme deshalb das Verdienst für die Entwicklung einiger der hervorragendsten modernen Technologien zu – von lebensrettenden Medikamenten bis hin zum iPhone.
Bei ihrer Lobeshymne auf die Industriepolitik konzentriert sich Mazzucato auf die USA. Dies ist eine strategische Entscheidung: Die Vereinigten Staaten von Amerika bilden für viele die Verkörperung der Idee der freien Marktwirtschaft. Daher zeige, laut Mazzucato, der Nachweis, dass der Erfolg der US-Industrie mehr als allgemein anerkannt dem Staat zu verdanken sei, dass es des Staates bedürfe, um F&E-Aktivitäten eine „auftragsorientierte Zielgerichtetheit“ (mission oriented directionality) zu verleihen. Mazzucato vermeidet es hingegen, sich mit den zahlreichen Fällen eigenständiger Industriepolitik in Europa auseinanderzusetzen.
Der vermeintliche Erfolg der amerikanischen Industriepolitik soll beweisen, dass der Staat es sei, der vor allem auf neue Technologien setzt und dadurch die Märkte der Zukunft schafft. Diese These ist genau betrachtet alles andere als neu. Nicht wenige Autoren vertraten bereits vor Mazzucato die Meinung, der Staat habe fast zu allen Zeiten Anstöße zu Innovationen und deren Verbreitung auf dem freien Markt gegeben (Uselding 1993, S. 163)[3]. Doch Mazzucatos Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Autorin wiederholt der Überzeugung Nachdruck verleiht, staatliche Interventionen würden das Hervorbringen von Innovationen nicht nur begünstigen, sondern seien dafür auch notwendig.
Angesichts des Publikationserfolges von Mazzucatos Buch und der anerkennenden Kritiken, die es erhielt, lohnt es sich, die darin vorgebrachten Argumente genauer unter die Lupe zu nehmen. Halten sie einer näheren Prüfung stand? Gelingt es der Autorin, überzeugende Argumente dafür vorzubringen, dass Industriepolitik der eigentliche Innovationsmotor ist? Oder erzählt sie eine Geschichte, die letztlich einfach nur tiefsitzende Vorurteile bestätigt?
2012 behauptete US-Präsident Barack Obama in einer Ansprache, die als die „You didn‘t build that“-Rede Bekanntheit erlangen sollte, der private Sektor schulde dem Staat größeren Dank, als er ihm üblicherweise zukommen lasse (Obama 2012). Selbstverständlich stimmt es, dass niemand, nicht einmal der kreativste Zeitgenosse, ohne Kooperation mit anderen Menschen viel zu erreichen vermöchte. Trotzdem ist es sehr kühn zu behaupten, Innovationen verdankten ihre Existenz grundsätzlich dem Staat. Ich werde zeigen, dass Mazzucatos Buch diese These unbeabsichtigt ad absurdum führt.
Wie wir sehen werden, ist Mazzucatos Buch mit widersprüchlichen Behauptungen gespickt. Sie präsentiert eine idyllische Sichtweise der Industriepolitik, lehnt es jedoch ab, ausgerechnet in jenen Fällen industriepolitische Erfolge anzuerkennen, bei denen mit besonderem Stolz auf diese verwiesen wird, nämlich in den meisten europäischen Sozial-Demokratien. Stattdessen setzt sich die Autorin zum Ziel, den Nachweis zu erbringen, dass gerade in den Vereinigten Staaten die Industriepolitik ausschlaggebend war – selbst in jenen Fällen, in denen gar keine offen deklarierte Industriepolitik verfolgt wurde.
Ich werde ihre Bemühungen im Kontext des ihrer Meinung nach auszufechtenden „Kampfes um Worte“ („discursive battle“) betrachten und anschließend ihre wichtigsten Argumente untersuchen, die – falls ihre Hauptthese stichhaltig ist – die angeblich segensreiche Natur der Industriepolitik beweisen sollen. Ich werde zeigen, dass sie unbeabsichtigte und beabsichtigte Folgen verwechselt und wie ihre Sicht moderner Volkswirtschaften auf verhängnisvolle Weise die entscheidende Rolle des Konsumenten ausklammert.
Der Mythos des Unternehmerstaates als Antwort auf die Austeritätspolitik
Als Kritiker muss man zumindest anerkennen, dass Mazzucato aus ihren Motiven keinen Hehl macht. Ihre Arbeit versteht sich als Beitrag zum Ideenkampf um die Rolle des Staates in der Gesellschaft – und damit vor allem als intellektuelle Munition für die Gegner fiskalpolitischer Sparmaßnahmen. Ihre Kernbehauptung ist, dass die gegenwärtige Krise in Europa keine haushaltspolitische Krise ist. Im Gegensatz zu den Befürwortern der Austeritätspolitik sieht sie keine Notwendigkeit für die Einschränkung öffentlicher Ausgaben. Tatsächlich hält sie die allgemein vertretene Meinung, die Krise in Europa sei wesentlich haushaltspolitischer Natur, für ein bloßes Konstrukt von Ideologen, die „die Rolle des Staates darauf [beschränken], ‚Marktversagen‘ zu reparieren“ (Mazzucato 2014, S. 13).
Mazzucato setzt sich entsprechend zum Ziel, dieses Narrativ zu korrigieren. Sie setzt ihm eine „Vision des Staates“ entgegen, die „Begeisterung weckt und neue Horizonte eröffnet“ (Mazzucato 2014, S. 14). Hat die breite Öffentlichkeit den Staat einmal als Hauptinnovationsquelle erkannt, wird sie gemäß Mazzucato ein ungerechtfertigtes Zurückfahren öffentlicher Aufgaben nicht befürworten. Bemerkenswert ist, dass Mazzucato einen Staat, der lediglich Marktversagen korrigiert, als Minimalstaat bezeichnet – obwohl doch die Kategorie des ‚Marktversagens’ gerade auch Interventionen im Gesundheits- und Bildungswesen, der Wettbewerbspolitik, Umweltauflagen, Energiepolitik und vieles mehr rechtfertigt, ja geradezu fordert. Mit einem Minimalstaat hat das rein gar nichts zu tun!
Das Kapital des Staates ist die erweiterte Version einer Monographie, die ursprünglich vom britischen Think-Tank „Demos“ veröffentlicht wurde (Mazzucato 2011). Mit ihrem Buch nun möchte Mazzucato „die britische Regierung zu einem Kurswechsel bewegen: keine Kürzungen staatlicher Programme mehr, angeblich um die Wirtschaft ‘wettbewerbsfähiger’ und ‘unternehmerischer’ zu machen, sondern Rückbesinnung auf das, was der Staat tun kann und tun muss, um eine nachhaltige Erholung von der Finanzkrise zu gewährleisten“ (Mazzucato 2014, S. 12). Aus ihrer Sicht besteht das Problem darin, dass „der Staat kein gutes Marketing in eigener Sache“ betreibt (Mazzucato 2014, S. 33).
Nach Mazzucatos Meinung neigen Ökonomen aus ideologischen Gründen dazu, das Problem von Staatsversagen zu übertreiben und dabei zu vergessen, dass gerade staatliche Interventionen durch „Visionen“ und „Ambitionen“ motiviert sein können, die einer innovativeren Volkswirtschaft förderlich sind. Dieselben Ökonomen, schreibt Mazzucato, nehmen auch an, der Staat habe sich, will er seine Kompetenzen nicht überschreiten, auf die Korrektur von Marktversagen zu beschränken. Dieses ordnungspolitische Konzept, das sie fälschlicherweise als das der Public-Choice-Schule ausgibt, hält sie hingegen für ungeeignet, um das Entstehen von Innovationen im Laufe der Geschichte zu verstehen. Deshalb vermögen dieses Konzept auch keine normative Orientierung dafür zu bieten, wie unsere Gesellschaften weiterhin innovativ bleiben können[4].
In einem neueren Artikel (Mazzucato 2014a, S. 8) findet sich eine konzise Zusammenfassung der Argumentation: „Um gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen, ist das Rahmenkonzept des Marktversagens problematisch; denn es vermag jene verschiedenen Typen transformativer, zielorientierter Investitionen nicht zu erklären und zu rechtfertigen, die in der Vergangenheit die Richtung bestimmt, öffentliche und private Initiativen koordiniert, neue Netzwerke erzeugt und den gesamten technoökonomischen Prozess angetrieben haben – und damit also nicht nur die Korrektur von Marktversagen in bereits bestehenden Märkten, sondern die Schaffung neuer Märkte bewirkten.“[5]
Erwähnenswert ist die oft eigenwillige Art, in der Mazzucato gegensätzliche Denkschulen beschreibt. Zum einen setzt sie den Ansatz, der politische Interventionen des Staates mit Marktversagen begründet, weitgehend gleich mit der wirtschaftspolitischen Konzeption einer freien Marktwirtschaft. Das ist jedoch unzutreffend.[6] Zwar vermag – wie sie richtig vermerkt – die Public-Choice-Theorie die Entstehung von Innovationen nicht zu erklären, doch ist das ja auch gar nicht, was diese Theorie bezweckt. Ziel der Public-Choice-Theorie ist aufzuzeigen, wie in der konkreten Wirklichkeit politische Entscheidungen zustande kommen. Und das gelingt dieser Theorie sehr gut.
Für eine zielführende Argumentation müsste Mazzucato zweierlei beweisen: Erstens, dass die Geschichte des modernen Kapitalismus eine Fundgrube von Beispielen für die Allgegenwart staatlicher Interventionen ist (wie niemand bestreitet, ist jedoch gerade das Gegenteil der Fall ); zweitens müsste sie nachweisen, dass ein bestimmter Typ staatlicher Eingriffe – nämlich Industriepolitik – gemessen an seinem erklärten Ziel, Innovation zu fördern, tatsächlich erfolgreich war.
Stehen nun die historischen Beweise, die Mazzucato liefert, auf solider Grundlage? Oder bestehen sie nur aus Ex-Post-Beurteilungen einer bunten Vielzahl politischer Maßnahmen, die gar nicht zur Förderung bestimmter Forschungsprogramme in Gang gesetzt wurden? Das Folgende wird versuchen, diese Fragen zu beantworten.
Industriepolitik
Mazzucato behauptet bekanntlich nicht nur, staatliche Interventionen könnten die Innovationsfähigkeit der Menschen stimulieren. Sie will beweisen, dass staatliche Interventionen notwendiger Bestandteil einer innovationsfördernden Volkswirtschaft sind. Dabei liegt ihr Augenmerk fast ausschließlich auf technologischen Innovationen[7].
In Mazzucatos Erzählung ist der Held die Industriepolitik. Doch verläuft ihre Geschichte nicht so gradlinig, wie dies auf den ersten Blick erscheint. Ihr Problem ist die sogenannte naturalistic fallacy, der naturalistische Fehlschluss d.h. das unzulässige Schließen vom Sein auf das Sollen. Mazzucatos Erzählung beruht auf einem Übermaß an normativen Annahmen darüber, was sein sollte, die aber allein auf der Grundlage von Feststellungen über das gemacht werden, was tatsächlich der Fall ist.
Denn Mazzucato unterstellt, der Staat habe seine Fähigkeit, eine unternehmerische Rolle zu spielen, bereits unter Beweis gestellt. Dies nämlich „bei den meisten radikalen, revolutionären Innovationen, die den Kapitalismus vorangetrieben haben – von Eisenbahnen über das Internet bis aktuell zur Nanotechnologie und Pharmaforschung“, wo ihr gemäß „die frühesten, mutigsten und kapitalintensivsten ‚unternehmerischen‘ Investitionen vom Staat“ kamen (Mazzucato 2014, S. 13).
Ausgerechnet die Erwähnung der Eisenbahn ist in diesem Zusammenhang jedoch erstaunlich, gleichzeitig aber auch charakteristisch für ihren Ansatz. Während moderne Großprojekte wie Hochgeschwindigkeitszüge tatsächlich überwiegend vom Staat finanziert werden, wurden Eisenbahnprojekte als „Innovation“ – d.h. zu der Zeit, als sie noch eine Innovation waren – in hohem Maße vom privaten Sektor getragen. Erst später wurden die Eisenbahnen in Italien, den USA und England, also dort, wo die Pionierarbeit geleistet worden war, verstaatlicht. Allein diese Entwicklung zeigt, dass der Staat kein Frühinvestor in Eisenbahngesellschaften war.
Dieser Exkurs offenbart eines der Hauptprobleme von Mazzucatos Buch. Sie behauptet, eine allgemeine Regel, ein überall geltendes Gesetz entdeckt zu haben, das lautet: um eine innovative Volkswirtschaft hervorzubringen, bedarf es eines starken, aktiven Staates. Mit Beispielen, die lediglich den letzten fünfzig Jahren entstammen, ist es jedoch kaum möglich, einen Anspruch auf die Begründung einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit zu erheben.
Um es auf den Punkt zu bringen: Staatliche Ausgaben haben während des 20. Jahrhunderts in praktisch allen westlichen Demokratien in einem derartigen Ausmaß – nämlich von etwa 10 % auf über 40 % des Bruttoinlandsprodukts – zugenommen, dass man sich wirklich wundern müsste, wären in diesem Zeitraum keinerlei Innovationen daraus entsprungen [8]. Bei einem derart außergewöhnlichen Wachstum der Staatsausgaben ist es unwahrscheinlich, dass öffentliche Ausgaben nicht auch öfters ihren Weg in innovative Unternehmen finden.
Doch wie sah es im 19. Jahrhundert aus? Wurde die Industrialisierung nicht durch Innovationen und Entdeckungen angetrieben, und das weitestgehend unabhängig von umfangreichen öffentlichen F&E-Investitionen? Die industrielle Revolution nahm in Großbritannien ihren Anfang, und dort konzentrierten sich Staatsausgaben hauptsächlich auf die Landesverteidigung und die Bedienung der Schulden zwecks Kriegsführung (Hartwell 1981). Wie Mokyr (1999, S. 46) schreibt, ist es tatsächlich „schwer, in Großbritannien vor und während der industriellen Revolution eine bewusst auf die Förderung eines langfristigen Wirtschaftswachstums abzielende Politik auszumachen. … In Großbritannien vermied der öffentliche Sektor unternehmerische Aktivitäten weitgehend“.[9]
Welchen Zweck auch immer diese Verallgemeinerung verfolgen soll, wonach öffentliche Ausgaben zur Förderung von Innovationen nötig gewesen seien, vermag Mazzucato mit ihrer Schlussfolgerung nicht zu überzeugen, so lange sie lediglich einen sehr beschränkten historischen Zeitraum berücksichtigt – zumal wenn dieser Abschnitt der Geschichte generell, und kaum zufällig, ein solcher mit überbordenden öffentlichen Ausgaben war.
Ferner sollte Mazzucato, um ihren Standpunkt zu untermauern, glaubhaft darlegen, dass die Innovationen, die sie für die Folge staatlicher Interventionen hält, das Resultat eines absichtsvollen und geplanten Vorgehens sind. Klar scheint, dass sie selbst davon überzeugt ist, denn über die gegenteilige Position sagt sie: „Wir hören ständig, der Staat solle sich in wirtschaftlichen Belangen zurückhalten, weil er nicht in der Lage sei, ‚Gewinner‘ zu erkennen, egal, ob es sich um neue Technologien, aufstrebende Branchen oder bestimmte Firmen handelt“ (Mazzucato 2014, S. 32).
Aus ihrer Sicht wäre die Vorgehensweise des Staates bei F&E-Investitionen jedoch gerade „Zielgerichtetheit“, also nicht nur die Förderung innovativer unternehmerischer Tätigkeit, sondern das Aufspüren und Bestimmen jener Bereiche, in denen Innovationen zu erwarten sind (vgl. Mazzucato 2014a: S. 4). Ihr Narrativ ist das eines „selbstbewussten Staates, der fähig und willens war, mit mutigen Visionen die Richtung des Wandels zu definieren und auf der Ebene von Behörden und Ministerien entsprechende institutionelle Strukturen zu schaffen“ (Mazzucato 2014a: S. 7[10]).
Mazzucatos Buch nennt viele Beispiele für die Rolle, die die Politik bei der Innovationsförderung spielte. Jedoch sind diese Innovationen oft wohl eher als positive externe Effekte staatlicher Interventionen zu sehen, denn als absichtlich geplante Resultate industriepolitischer Maßnahmen. Das ist aber ein Problem für jemanden, der für eine Politik argumentiert, die im Voraus die „Gewinner erkennt“. Zunächst wäre vielmehr zu zeigen, dass und wie die Gewinner tatsächlich im Voraus vom Staat erkannt wurden; denn nur dies entspräche der „auftragsorientierten Zielgerichtetheit“, für die Mazzucato plädiert.
Das Kernstück von Mazzucatos Buch bilden das vierte und das fünfte Kapitel, die sich mit dem „Unternehmerstaat in den Vereinigten Staaten“ beziehungsweise dem „Staat hinter dem iPhone“ beschäftigen. Um Mazzucatos Thesen angemessen beurteilen zu können, sind die von ihr in diesen beiden Kapiteln angeführten Beispiele unter die Lupe zu nehmen.
Hat der Staat das Internet erfunden?
Um zu zeigen, dass die USA ein unternehmerischer Staat sind, präsentiert Mazzucato vier vermeintliche Erfolgsgeschichten: die „Defense Advanced Research Projects Agency“ (DARPA), das Programm „Small Business Innovation Research“ (SBIR), die Verordnung über Orphan-Arzneimittel und die Nanotechnologie. Was diese Beispiele gemeinsam haben, ist „ein proaktives Vorgehen des Staates, um einen Markt zu schaffen mit dem Ziel, Innovationen voranzutreiben“ (Mazzucato 2014, S. 91). Gemeint ist, der Staat habe visionär Innovationen konzipiert und dann zielstrebig deren Entwicklung vorangetrieben. Private Unternehmen seien bestenfalls später auf den fahrenden Zug aufgesprungen.
Tatsache ist, dass nach dem Zweiten Weltkrieg – im Kontext der, wie es damals hieß, „ständigen Kriegsanstrengungen“, auf die zur Zeit des Kalten Krieges das Land seine Kräfte konzentrierte, – in den USA die Grundlagenforschung weitgehend verstaatlicht war. Gemäß Mazzucato war es dem Manhattan-Projekt gemäß „Aufgabe des Staates, zu entscheiden, welche Technologien sowohl militärisch wie kommerziell nutzbar waren“ (Mazzucato 2014, S. 100). So gesehen hat die DARPA nicht nur Forschung finanziert, sondern sie „unterstützte die Einrichtung von Fachbereichen für Informatik, griff Start-up-Firmen finanziell unter die Arme, leistete Beiträge zur Halbleiterforschung und zu Forschungen zu Mensch-Maschine-Schnittstellen und koordinierte die Anfänge des Internets“ (Mazzucato 2014, S. 101). Mazzucato sieht die DARPA als Musterbeispiel für Effizienz. Sie habe eine „dynamische und flexible Struktur“, die es „erlaubte, den verstärkten Einfluss des Staates zu nutzen, um echte Konkurrenz innerhalb des Netzes zu erzeugen. […]. Die Verantwortlichen der DARPA bahnten geschäftliche und technologische Kontakte zwischen Forschern an Universitäten und Unternehmern an, die neue Firmen gründen wollten […].“ (Mazzucato 2014, S. 102). Doch wie ist dieser bemerkenswerte Erfolg zustande gekommen?
Mazzucato geizt mit der Nennung administrativer und organisatorischer Details. Ebenso wenig klärt sie darüber auf, wie die Kriterien für die Vergabe von Zuschüssen aussahen, was der Beitrag der DARPA effektiv bewirkte oder wie entsprechende Behörden organisiert waren. Sie will uns überzeugen, dass es entscheidend ist, „dass der Staat vorangeht und den Firmen ein Modell vorgibt, dem sie folgen können“ (Mazzucato 2014, S. 104f.). Doch bleibt dies eine reine Behauptung. Wie das zustande kam, zeigt sie nicht.
Ihr Hauptargument für diese These scheint darin zu bestehen, dass die DARPA de facto weithin als die „Erfinderin“ des Internets anerkannt wird. Doch die Schlüsselfrage ist diejenige nach der Innovationen hervorbringenden Intentionalität. Hat sich die amerikanische Regierung das, was später das kommerzielle Internet werden sollte, ausgedacht, es also beabsichtigt?
Es lässt sich nicht leugnen, dass der Staat Universitäten unterstützte, um die Ideen und die Hardware zu entwickeln, die dann einmal die Grundlagen des Internets bilden sollten, wie den FTP- (File Transfer Protocol) und den TCP/IP (transmission control protocol/Internet protocol)-Standard. Die Grundidee hinter dem Internet ist die der Datenpaketvermittlung, einer digitalen Netzwerkkommunikationsmethode, bei der die Daten in Blöcken, Pakete genannt, in geeigneter Größe übertragen werden. Dieses Konzept wurde von zwei MIT-Forschern namens Joseph Carl Robnett Licklider und Leonard Kleinrock entwickelt, die schließlich am ARPANET arbeiteten, jenem Netzwerk, das zur Grundlage des Internets wurde. Im Nachhinein betrachtet, hatte die DARPA also einfach die richtigen Leute für den Job gewählt (Chandler 2005, S. 170).
Es sei daran erinnert, dass der TCP/IP-Router für das ARPANET von einem privaten Unternehmen, namentlich Cisco, entwickelt wurde (Chandler 2005; S. 172). Ebenso wurden die Lichtwellenleiter, die dem Internet die Reichweite von Millionen von Haushalten ermöglichten, von Corning Glass Works, ebenfalls ein privates Unternehmen, entwickelt. Zwei weitere Punkte dürfen nicht übersehen werden: Die staatlichen Ausgaben, die angeblich die Entwicklung des Internets zur Folge hatten, waren eigentlich Teil des Verteidigungsbudgets, und diese Gelder wurden einfach in das Hochschulsystem der USA hineingepumpt.
Der Historiker Price Fishback (2007, S. 516) ist zwar der Ansicht, dass „niemand die enormen Nachwirkungen des militärisch bedingten Engagements bei der Entwicklung des Internets leugnen“ könne.[11] Weiter meint er aber: „Die Rolle des Militärs war eindeutig ausreichend, um die frühen Technologien zu entwickeln, doch war dies wohl nicht notwendig. Die Anerkennung für diese Technologien ist jenen Leuten geschuldet, die die Forschung betrieben haben“ (S. 521)[12]. Die relevante Frage ist somit, ob die Entwicklung des Internets das Resultat „auftragsorientierter Zielgerichtetheit“ seitens der Regierung war oder ob sie eher als positiver externer Effekt staatlicher Intervention zu sehen ist.
Nach Fishback (2007, S. 519) hatte die militärische Finanzierung „einen Spill-over Effekt für die Entwicklung des kommerziellen Internets“[13];denn ihr Ziel war nicht, die einzelnen Projekte allzu streng zu kontrollieren. Zudem förderte sie stark die Verbreitung von Forschungsergebnissen und bot kleinen Unternehmen finanzielle Unterstützung. Dies deutet darauf hin, dass hinter der Entwicklung des Internets ein nur geringes Maß an „auftragsorientierter Zielgerichtetheit“ steckte.
Weiterhin stellt Mazzucato bei der Verteidigung der DARPA sowie mit ihrer These, in Wirklichkeit habe der Staat das Internet erfunden, die einzelnen amerikanischen Universitäten als homogene Einrichtung und zudem als willige Befehlsempfänger des Staates hin. Dies träfe auf das Hochschulsystem einiger kontinentaleuropäischer Länder wohl eher zu, als auf das US-amerikanische Universitätswesen.
Wie Mazzucato betont auch Nathan Rosenberg (2000) die wichtige Rolle der amerikanischen Universitäten bei der Entwicklung von Prototypen und generell bei der Grundlagenforschung. Im Unterschied zu Mazzucato anerkennt er jedoch, dass diese schnell auf die Bedürfnisse von Wirtschaft und Gesellschaft reagieren und somit eine größere Flexibilität an den Tag legen, als ihre europäischen Pendants.
Gerade das Wettbewerbsumfeld, in dem US-Universitäten operieren (Rosenberg 2000, S. 38), könnte eine Erklärung für deren hohe Forschungsproduktivität liefern. Es ist sicherlich erwähnenswert, dass die öffentlichen Förderungen an Institutionen fließen, die miteinander um Kapital (öffentliche Zuschüsse oder private Spenden), um die besten Produktionsfaktoren (Lehrkräfte) sowie um Kunden (Studenten) konkurrieren.
Hier geht Mazzucato, wie so oft, davon aus: wenn etwas richtig läuft, ist es das Verdienst des Staates. Doch in der realen Welt erklärt allein die Tatsache staatlicher Finanzierung noch nicht, was auf niederen institutionellen Ebenen geschieht. Staatliche Gelder, die in einem wettbewerbsfähigen Umfeld investiert werden, können ganz andere Wirkungen haben, als solche, die einer strikt hierarchischen Top-down-Logik gemäß ausgegeben werden.
Lässt sich Industriepolitik dezentralisieren?
Bei der Behandlung der DARPA spricht Mazzucato von einer „dezentralisierten Industriepolitik“ (Mazzucato 2014, S. 103). Was sich hinter dieser terminologischen Innovation versteckt, ist jedoch ein in sich widersprüchlicher Begriff. In der Realität ist etwas entweder „Industriepolitik“ oder es ist dezentralisiert. Selbst wenn wir uns einer sehr weiten Definition des Begriffs „Industriepolitik“ bedienen, müssen wir uns darauf einigen, dass wir nur dann von Industriepolitik sprechen können, wenn „die Regierung bewusst versucht, die Industrie zu fördern“ (Robinson 2009, S. 3)[14]. Natürlich kann es sein, dass, wie bei jedem menschlichen Handeln, eine bestimmte Politik unbeabsichtigte Folgen nach sich zieht, die als positiv zu werten sind. Jedoch sind unbeabsichtigte Folgen – Nebenfolgen – eben genau das: sie sind unbeabsichtigt. Und obwohl sich Mazzucato für „auftragsorientierte Zielgerichtetheit“ hinter staatlich gelenkten Innovationen stark macht, verwechselt sie des Öfteren unbeabsichtigte oder Nebenfolgen mit beabsichtigten Folgen.
Ein Beispiel, das Mazzucato anführt, um die Effizienz dezentraler Industriepolitik in einem Unternehmerstaat zu beweisen, ist das SBIR-Programm. Unter Präsident Reagan ins Leben gerufen, stellt SBIR „Hightech-Firmen jährlich über 2 Milliarden Dollar an direkter Unterstützung zur Verfügung“ (Mazzucato 2014, S. 106). Es kann als Bereitstellen von steuerfinanziertem Risikokapital betrachtet werden (Wallstein 2001, S. 8), wenn auch auf seltsame Art: Die Bundesregierung sieht lediglich vor, dass alle staatlichen Stellen (inklusive Militär), die mit einem F&E-Budget von über 100 Millionen US-Dollar ausgestattet sind, 2,8 % ihres Budgets für die Innovationsförderung durch kleine und mittlere Unternehmen zur Verfügung stellen müssen[15].
Ihrer Aussage, das SBIR-Programm habe angeblich eine „einzigartige Rolle“ gespielt und „die Entwicklung Hunderter neuer Technologien vom Labor bis zur Marktreife begleitet“ (Mazzucato 2014, S. 106), müssen Mazzucatos Leser einfach Glauben schenken. Das Kapital des Staates bietet kein einziges Beispiel für eine neue Technologie, die wegen einer SBIR-Förderung durchgestartet wäre. Zudem ist schwer zu verstehen, wie das SBIR-Programm einer hinreichenden Definition von Industriepolitik gerecht werden könnte: Eine Vorschrift, wonach Bundesbehörden, deren Budget für außeruniversitäre Forschung und Entwicklung 100 Millionen US-Dollar übersteigt, Dritten Gelder zur Verfügung zu stellen haben, ist keine „auftragsorientierte Zielgerichtetheit“, ja nicht einmal eine Lenkung von Mitteln in eine bestimmte Richtung. Letztlich läuft es mehr oder weniger darauf hinaus, öffentlich-rechtlichen Körperschaften das Unterschreiben von Schecks vorzuschreiben.
Aus Mazzucatos Sicht ist die Tatsache, dass das SBIR-Programm heute umfangreicher ist als noch vor 20 Jahren und mehr Projekte finanziert, die Folge des Rückzugs von privatem Risikokapital. Ihrer Ansicht nach wird dieses „immer öfter nur kurzfristig zur Verfügung gestellt (…), um hohe Renditen zu erzielen“ (Mazzucato 2014, S. 107). Dies hieße, staatliche Programm würden immer nur dann umfangreicher, wenn man sie braucht und sie entsprechende Bedürfnisse hinreichend zu erfüllen vermögen. Doch dies ist, gelinde gesagt, keine sehr realistische Sicht der Vorgehensweise staatlicher Stellen.
Vito Tanzi (2012, S. 41-42) hat eine im Widerspruch zu Mazzucatos Sicht stehende Grundregel für langfristig getätigte öffentliche Ausgaben aufgestellt: „Die meisten vom Staat initiierten Programme neigen dazu, im Laufe der Jahre praktisch kontinuierlich und spontan zu wachsen und mit der Zeit immer teurer zu werden“[16]. Was, wenn die Mittel für SBIR nicht deshalb zugenommen hätten, weil sie nötig und ihr Einsatz erfolgreich war, sondern ganz einfach deshalb, weil dies generell der Logik staatlich finanzierter Programme entspricht?
Verdanken wir das iPhone und Orphan-Arzneimittel staatlicher Industriepolitik?
Das Kapital des Staates macht sich eine Sicht der Politik und der öffentlichen Verwaltung zu eigen, wonach der Staat tut, was er tun muss, und jeder Verdacht der Ineffizienz bestenfalls eine selbsterfüllende Prophezeiung ist. Wenn Mazzucato die Kurzsichtigkeit des privaten Sektors anprangert, scheint sie davon überzeugt, dass die Entscheidungsträger, die für den Staat und innerhalb des Staates Ressourcen zuweisen, durchwegs intelligent und weitsichtig agieren.
Dennoch ist es schwierig, sich des Eindrucks zu erwehren, dass es sich hier lediglich um einen Anschein von Weitsicht handelt, ein Schein, der dem Post-hoc-ergo-propter-hoc-Trugschluss entspringt, hier also dem Anschein der Verursachung positiver Ergebnisse, obwohl staatliche Industriepolitik die Ergebnisse gar nicht beabsichtigte. Ein klares Beispiel dafür bietet das Kapitel, in dem Mazzucato uns davon zu überzeugen versucht, das iPhone sei eine Erfindung der US-Regierung. Um darzulegen, dass wir die Touchscreengeräte der Industriepolitik zu verdanken habe[17], berichtet Mazzucato, wie staatliche Förderungen es Wayne Westerman, einem jungen PhD-Studenten der University of Delaware, ermöglichten, seinen Abschluss zu machen und danach Mitbegründer von FingerWorks zu werden, jenem Unternehmen, welches „die Technologie ersonnen [hat], die den Multi-Milliarden-Markt der mobilen elektronischen Geräte revolutionierte“ (Mazzucato 2014, S. 134).
Kann man wirklich ernsthaft behaupten, dass, sobald jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Doktorarbeit (Westerman 1999) in eine Geschäftsidee umwandelt, sich diese Idee damit als Produkt von Industriepolitik erwiesen hat? Ist das wirklich so, bloß weil die betreffende Universität staatlich finanziert und die Doktorarbeit zum Teil durch ein Stipendium der National Science Foundation gefördert wurde – was aber bei jährlich ungefähr zweitausend anderen Doktorarbeiten ebenso der Fall ist?
Ein weiterer von Mazzucato ausgespielter Trumpf ist das 1983 verabschiedete Gesetz über sogenannte Orphan-Arzneimittel (Arzneimittel für seltene Krankheiten), das es kleinen Pharma- und Biotechnologieunternehmen ermöglichte, „ihre Technologieplattform zu verbessern und ihre Aktivitäten auszuweiten, so dass sie zu wichtigen Akteuren in der biopharmazeutischen Industrie werden können“ (Mazzucato 2014, S. 108). Einmal mehr müssen wir uns die Frage stellen, ob dies überhaupt unter Industriepolitik zu subsumieren ist. Die Idee des Orphan-Arzneimittelgesetzes ist, dass es unter normalen Umständen unwirtschaftlich wäre, hunderte Millionen oder Milliarden Dollar auszugeben für Entwicklung, Test und Approbation eines Medikamentes zur Behandlung einer Krankheit, die weniger als 200.000 Patienten betrifft. Daher bietet der Staat verschiedene „Anreize“, um das von ihm selbst diagnostizierte Marktversagen zu überwinden. Dies ist nicht nur in den USA der Fall; Orphan-Arzneimittelgesetze wurden, dem Beispiel der USA folgend, auch in anderen Ländern wie etwa in der EU seit 1999 erlassen.
In den USA bestehen diese Anreize in erster Linie in einer geringfügigen Ausweitung der für alle approbierten Medikamente sowie für Steuerfreibeträge auf F&E-Ausgaben geltenden Bestimmungen hinsichtlich der Marktexklusivität. Die Ausweitung der Marktexklusivität – sie ist keine Verlängerung des Patents – gibt dem Hersteller für sieben Jahre ab der FDA-Approbation das exklusive Verkaufsrecht für das Orphan-Medikament, auch wenn das Patent bereits abgelaufen ist. Dagegen besteht für Nicht-Orphan-Medikamente eine Marktexklusivität von fünf Jahren. Beträgt jedoch die Restlaufzeit des Patentes auf das Orphan-Medikament nach der Approbation durch die FDA mehr als sieben Jahre, ist die Marktexklusivität de facto irrelevant.
Damit nicht genug, denn in den USA steht für direkte staatliche Forschungsförderung nur ein relativ kleiner Betrag zur Verfügung. Im Fiskaljahr 2014 gewährte die US-Regierung lediglich 14,1 Millionen US-Dollar an Subventionen für die Forschung an Orphan-Medikamenten, wobei sich der pro Forschungseinrichtung typischerweise gewährte Subventionsbetrag auf etwa 100.000 US-Dollar beläuft[18].
Mazzucato präsentiert ihren „Kampf um Worte“ als einen Kampf gegen eine Vorstellung, gemäß der die aktive Rolle des Staates auf das Korrigieren von Marktversagen beschränkt bleiben soll. Das „Modell des ‘Marktversagens’, bei dem der Staat einfach die Lücke zwischen privater und gesellschaftlicher Rendite schließt“, stellt sie einem Modell gegenüber, in dem „Ausgaben für Forschung und Entwicklung in einer mehr ganzheitlich-holistischen Weise betrachtet werden“ (Mazzucato 2014, S. 21). Doch erweist sich gerade eine der von Mazzucato zur Untermauerung ihrer These präsentierten Erfolgsgeschichten – der Orphan Drug Act – in Wirklichkeit als klarer Fall eines bloßen Versuches der Überwindung von Marktversagen: Der Gesetzgeber war der Meinung, ein bestimmtes Gut werde vom freien Markt in unzureichender Menge bereitgestellt, und intervenierte deswegen, um auf diese Weise falsche Anreize zu korrigieren.[19]
Und die Unternehmer?
Man kann Mazzucatos Arbeit als Versuch verstehen, das große Rätsel des modernen Kapitalismus zu lösen: Woher kommen Innovationen? McCloskey ([2010] 2011, S. 52) vertrat die Ansicht, dass „der Weg zur modernen „Wirtschaftswelt“ … über Entdeckungen und eine durch eine neue Art des Sprechens unterstützte Kreativität“ verlief.[20] Es war das Unternehmertum, das bei der Entwicklung der modernen Wirtschaft eine zentrale Rolle spielte. Laut Kirzner (2000: 96) fällt „unternehmerische Entdeckungs- und Innovationsfreudigkeit“[21] in einer Marktwirtschaft genau dann auf fruchtbaren Boden, wenn hinreichende Anreize, ein Gefüge sie begünstigender Institutionen sowie eine sie willkommen heißende Kultur ihre Entfaltung ermöglichen.
Mazzucato bietet eine eigene Erklärung für den enormen Erfolg moderner Innovationen: staatliche F&E-Investitionen für neue Technologien. Doch geizt ihre angeblich so allumfassende Erklärung mit Details.
Als Beispiel sei ihr Vergleich der Erfahrungen Japans und der USA in den 1970er und 1980er Jahren angeführt. Mazzucato stützt sich dabei auf eine Publikation von C. Freeman (Freeman, 1995). Japans Wirtschaftsaufschwung wird damit erklärt, „dass neues Wissen durch eine eher horizontale wirtschaftliche Struktur floss, die aus dem Ministerium für internationalen Handel (MITI) sowie Forschung und Entwicklung an Universitäten und in Unternehmen bestand“ (Mazzucato 2014, S. 55). In den 1970er Jahren investierte Japan 2,5 % seines Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung, während die Sowjetunion 4 % investierte. Dennoch „wuchs Japan viel schneller […], weil die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sich über eine größere Zahl verschiedener Wirtschaftssektoren verteilten und nicht so stark auf das Militär und die Raumfahrt konzentriert waren wie in der Sowjetunion“ (Mazzucato 2014, S. 55). Mazzucato gibt wohl zu, dass es „in der Sowjetunion nicht [vorkam] beziehungsweise nicht erlaubt [war], dass Unternehmen vom Staat entwickelte Technologien vermarkteten“ sowie dass in „Japan starke Bindungen zwischen Nutzern und Produzenten“ bestanden (Mazzucato 2014, S. 55) – was bedeutet, dass es über eine Marktwirtschaft verfügte, in der das Angebot an Gütern und Dienstleistungen auf die Nachfrage reagierte. Jedoch erachtet sie diesen „strukturellen“ Unterschied als wenig relevant im Vergleich mit der „Zielgerichtetheit“, die eine strenge staatliche Koordination der japanischen Wirtschaft auferlegte. Kann die Existenz privater Unternehmen, die nach Profiten und Marktanteilen streben, wirklich als irrelevantes Detail betrachtet werden?
Es ist auch bemerkenswert, dass die japanische Regierung bis 1991 „weniger als 20 % der Forschung und Entwicklung und, bemerkenswerterweise, weniger als die Hälfte der universitären Wissenschaft finanzierte – eine absolute Ausnahme unter den OECD-Staaten, wo im Durchschnitt etwa 50 % der Forschung und Entwicklung und 85 % der universitären Wissenschaft staatlich finanziert wurden“ (Kealey 2008, S. 287)[22].
Vielleicht hätte Mazzucato der unterschiedlichen Art und Weise, wie in verschiedenen Ländern Staatsgelder alloziert wurden mehr Beachtung schenken sollen. In der Sowjetunion, um ein von ihr angeführtes Beispiel zu nennen, flossen über 70 % der F&E-Ausgaben in den Militär- und Raumfahrtssektor. In Japan, das sie der Sowjetunion entgegenstellt, machten diese beiden Sektoren weniger als 2 % der Forschung und Entwicklung aus (Mazzucato 2014, S. 57). Solch ein radikaler Unterschied in den Proportionen könnte daher rühren, dass die Empfänger staatlicher Subventionen in Japan private Unternehmen waren, die eher auf Konsumenten angewiesen sind, die ihre Produkte kaufen, als von spezifischen Subventionen des Staates. Es muss wohl nicht erwähnt werden, dass dies in der Sowjetunion nicht der Fall war.
Paradoxerweise führt Mazzucatos Fokussierung auf bahnbrechende Innovationen zu einer Minimierung der Rolle privater Unternehmen. Statt einen Beweis dafür zu liefern, dass marktwirtschaftliche Institutionen für die Gesellschaft nützlich sind, belegen gemäß Mazzucato Innovationen deren Irrelevanz. Was aus ihrer Sicht der private Sektor bestenfalls leistet, ist die „Neuverpackung“ und Vermarktung von Innovationen, die bereits durch den Staat geschaffen wurden. So sieht sie im Grunde Apple und das ist auch der Hauptgrund für ihre Forderung nach höheren Unternehmenssteuern: Private Unternehmen sollen „zurückgeben“, was sie vom Staat erhalten hat. Dabei fällt allerdings ganz besonders auf, dass Mazzucato die „letzte Meile“ von Innovationen offenbar als völlige Nebensächlichkeit betrachtet.
Das Kapital des Staates nennt mehrere Fälle von Innovationen, die, nachdem sie den „großen Strom“ öffentlicher Ausgaben überquert hatten, schließlich in den Geräten von Apple verwendet wurden. Mazzucato fragt: „Hat die US-Regierung den iPod ‘herausgepickt’?“ (Mazzucato 2014, S. 142). Ihre Antwort ist bejahend.
Doch kann man das nur schwerlich akzeptieren. Zwar mögen die Technologien hinter den Produkten von öffentlichen Ausgaben profitiert haben, doch waren sie bestenfalls eine unbeabsichtigte Folge staatsfinanzierter Forschung und Entwicklung. „Glück“ und „planvolles Entwerfen“ sind nicht dasselbe und sie werden auch im Zusammenhang mit der Rede über Industriepolitik nicht zu Synonymen. Zudem beweist Mazzucato nicht – und kann das auch nicht beweisen –, dass die Entwicklung einiger spezieller Technologien (wie GPS) deswegen erfolgte, weil die staatlichen Planer vorhersahen, wo diese einmal landen würden.
In einer Marktwirtschaft verwendet ein privates Unternehmen die Produktionsfaktoren entsprechend seiner Absicht, die Konsumentennachfrage zu befriedigen und zu antizipieren. Bahnbrechende Innovationen finden nicht im Vakuum statt und werden selten nur aufgrund brillanter Ideen und neuer technischen Errungenschaften verwirklicht. „Gadgets“ allein sind nicht das A und O von Innovationen. Eine neue Erfindung und ein neues Produkt allein sind noch keine unternehmerische Innovation, die zum wirtschaftlichen Wachstum und zur Wohlstandssteigerung beiträgt. Um erfolgreich zu sein, müssen Erfindungen und Produkte bei potentiellen Käufern auf Zustimmung stoßen und begeistern können; sie müssen also einer Nachfrage gerecht werden und damit eine immer wieder neue Anpassung der Verwendung der Produktionsfaktoren bewirken. Technischer Fortschritt allein genügt deshalb nicht, um die Regale mit neuen Produkten zu füllen.
Friedrich August von Hayek (1955, S. 98) bemerkte einmal, „im Vergleich mit der Arbeit eines Ingenieurs ist die eines Kaufmanns in gewisser Hinsicht ‘sozialer’, denn sie ist in höherem Maße mit den freien Aktivitäten anderer Menschen verwoben“[23]. Die Rolle des Unternehmers besteht nicht darin, Erfindungen zu machen, sondern Bedürfnisse des Konsumenten zu antizipieren und zu befriedigen. Innovationen wiederum sind sinnvoll wegen der Bedürfnisse und Wünsche, die sie befriedigen können. Dass der Staat normalerweise ein schlechter Unternehmer ist, ist nicht eine Unterstellung von Ökonomen oder politische Philosophen, sondern eine Tatsache, die sich damit erklärt, dass die Bedingungen, unter denen der Staat arbeitet, sich radikal von jenen unterscheiden, mit denen private Unternehmer konfrontiert sind. Marktwirtschaften sind dynamisch. Das müssen sie auch sein, um zu überleben. Staatlich gelenkte Volkswirtschaften, d.h. solche, die Nobelpreisträger Edmund Phelps (2013, S. 127) social economies nennt, „leiden an einem fatalen Mangel an Dynamik“[24].
Bisweilen scheint bei Mazzucato ein etwas anderes – womöglich ernsteres – Problem im Vordergrund zu stehen: das angeblich für die heutige Zeit charakteristische Stagnieren von Innovationen. Wie sie bemerkt betreiben „große Unternehmen (…) heute keine langfristige Grundlagen- und angewandte Forschung mehr“ (Mazzucato 2014, S. 228). Die spezifischen Probleme, die ein Abbremsen der Dynamik verursacht haben könnten, scheinen sie jedoch nicht zu beschäftigen. Der Investor und Autor Peter Thiel etwa meint, dass neueste technologische Innovationen eher aus „der Welt der Bits“ als der „Welt der Dinge“ kommen, da Überregulierung die letztere mehr behindert als die erstere (Thiel 2014).
Mazzucato versucht, sich nur schon vor dem bloßen Gedanken abzuschotten, Staatstätigkeit könnte ein Hindernis für Innovation sein. Um jedoch die Schlüsselposition des Staates für Innovationen überzeugend nachzuweisen, müsste Mazzucato sich damit auseinandersetzen, wie Regierungsplaner und -ingenieure selektioniert und aufgrund welcher Kriterien sie angestellt werden – ebenso wie sie über die Anreize sprechen müsste, die eine staatliche Bürokratie in den Stand setzt, ein „Crowding in“ von Innovationen im wirtschaftlichen Prozess zu bewirken. Leider behandelt Mazzucato diese Probleme überhaupt nicht.
Damit sollte nun klargeworden sein, dass auch Mazzucatos Staat nicht im eigentlichen Sinne „unternehmerisch“ ist, so wie dieses Wort allgemein verwendet wird. Unternehmerische Tätigkeit bewirkt nicht nur die Entdeckung neuer Technologien, sondern auch die Entdeckung neuer Bedürfnisse und Kundenpräferenzen sowie besserer Wege, die Produktionsfaktoren so zu koordinieren, damit diesen Bedürfnissen und Präferenzen auch entsprochen werden kann. Mazzucato behauptet, der Staat sei im „Erraten von Gewinnern“ besser als der Markt, doch sie erklärt nicht wirklich, worin der Wettlauf besteht, in dem diese „Gewinner“ gegeneinander antreten. Sie lässt die Tatsache außer Acht, dass Unternehmer auf Feedbackmechanismen reagieren müssen, während dies auf solche, die öffentliche Ausgaben tätigen, normalerweise nicht zutrifft. Mazzucatos Auffassung von Fortschritt ist also eine solche, in der die Nachfrageseite überhaupt keine Rolle spielt.
Der fehlende Konsument
In dem von ihr ausgefochtenen „Kampf um Worte“ vermeidet Mazzucato sorgfältig, irgendein Gegenargument oder die bloße Möglichkeit einer Falsifizierung ihrer These zu erwähnen. Ihrer Ansicht nach gibt es „keinen zuverlässigen Maßstab, um seine [des Staates] Investitionen fair zu beurteilen“ (Mazzucato 2014, S. 32). Zudem „wird oft übersehen, dass der Staat in den Fällen, in denen er angeblich versagt hat, oft etwas viel Schwierigeres versuchte als viele private Firmen: Entweder wollte er die Glanzzeit einer reifen Industrie ausdehnen (das Concorde-Experiment oder das amerikanische Projekt eines Überschall-Transportsystems) oder aktiv einen neuen Technologiesektor auf den Weg bringen (das Internet oder die IT-Revolution)“ (Mazzucato 2014, S. 32).
Was das impliziert, wird deutlicher, wenn Mazzucato die Geschichten zweier Solarenergieunternehmen, Solyndra in den USA und Suntech in China, gegenüberstellt: „Veränderungen auf dem globalen Markt für Solarzellen verhinderten, dass Solyndra von seinen Investitionen profitieren konnte. Bevor das Unternehmen die Kostenvorteile durch die gesteigerten Produktionskapazitäten nutzen konnte, brach der Preis für Roh-Silizium ein. Und bei der konkurrierenden Technologie der Siliziumzellen fielen die Kosten noch stärker als erwartet, weil sich die Chinesen massiv dieser Technologie zuwandten. Trotz staatlicher Hilfe und 1,1 Milliarden Dollar von seinen Investoren erklärte Solyndra im Herbst 2011 Insolvenz“ (Mazzucato 2014, S. 168).
Viele Berichterstatter sahen in Solyndras Insolvenz einen spektakulären Beweis für die Unfähigkeit des Staates, durch „Herauspicken von Gewinnern“ komplexe Investitionen in neue Technologien zu tätigen – also ein klägliches Scheitern der Industriepolitik (Jenkins 2011, Taylor und Van Doren 2011). Dagegen ist Mazzucato überzeugt, dass die Schuld die der Ratten (d.h. der Investoren) ist, die das sinkende Schiff verlassen: das Problem trat auf, „als die Geldgeber die Geduld oder die Risikobereitschaft verloren“” (Mazzucato 2014, S. 291, Anm. 12).
Mazzucatos Schlussfolgerung ist folgende: „Echte“ Innovationen brauchen Jahre zur Entwicklung, und unter Bedingungen grundlegender Unsicherheit kann nicht genau definiert werden, wie viel Zeit die Innovationen benötigen, um Früchte zu tragen. Daher wird ein Investor mit begrenztem Zeithorizont geneigt sein, sich zu früh zurückzuziehen, und damit riskieren, dass echte Innovationen ausbleiben. Mazzucato ist sich bewusst, dass manche Leute die Unfähigkeit eines Unternehmens, Profite zu erzielen, als Beweis für die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit einer Technologie interpretieren; sie ist jedoch der Meinung, diese Ansicht widerspreche „der historischen Erfahrung, dass alle Energietechnologien lange Entwicklungsperioden und langfristige staatliche Unterstützung benötigten und davon profitiert haben“ (Mazzucato 2014, S. 105).
Wenn ungeduldige Investoren in Mazzucatos Geschichte die Bösewichte sind, dann ist der chinesische Staat der Held, da er die Vermögenswerte von Suntech verstaatlicht hat mit dem Ziel, „die Interessen tausender Arbeiter, der öffentlichen Banken und des Staates“ (Mazzucato 2014, S. 197) zu schützen. Hier nun ergreift Mazzucato eindeutig Partei für sogenannte Industriepolitik. Industriepolitik impliziert das Festhalten an gegenwärtigen Verwendungsweisen der Produktionsfaktoren und damit die Überzeugung, dies sei – verglichen mit einer dramatischen Reallokation derselben infolge von Firmenpleiten – die bestmögliche Weise, diese Produktionsfaktoren zu verwenden.
Dies ist es letztlich, weshalb Mazzucato annimmt, der Staat könne „neue Produkte und neue Märkte schaffen“. Denn der Staat brauche nicht auf potentielle Kapitalrenditen zu schauen und kann deshalb unverrückbar die Stellung halten. Doch gibt es nicht auch beim Staat Kosten-Nutzen-Abwägungen und entsprechende Zielkonflikte (trade-offs)? Unterstützt der Staat eine bestimmte Innovation oder ein bestimmtes Unternehmen, kann er ja offensichtlich nicht dieselben Mittel zur Förderung anderer Aktivitäten oder Unternehmen verwenden. Ebenso wenig kann dies der private Sektor, aus dem diese Ressourcen notgedrungen stammen. Mazzucatos Argumente bewegen sich in einer irrealen Welt, in der Privatinvestoren knappe Ressourcen auf nicht optimale Weise einsetzen, sich hingegen der Staat um Knappheit gar keine Gedanken zu machen braucht! Das zeigt erneut, dass Mazzucatos „Unternehmerstaat“ in Wahrheit gar nicht unternehmerisch ist.
Natürlich besteht die Möglichkeit, dass Privatinvestoren ihre Ressourcen fehlallozieren, doch private Fehlallokation hat für die Gesellschaft in der Gesamtheit den offenkundigen Vorteil, eben „privat“ zu sein. Ganz im Gegensatz dazu werden staatliche Gelder jedem Einzelnen aus der Tasche gezogen. Mazzucato bedenkt dieses simple Faktum nicht.
Mazzucato leugnet nicht, dass es zu opportunistischem Verhalten kommen kann, doch sieht sie ein solches nur in Fällen, die ihre persönliche Präferenz für staatliche Interventionen bestätigen. So zeigt sie großen Argwohn gegenüber Gruppen- und Firmeninteressen, wobei sie hier – offenbar ohne dies zu bemerken – genau jene Public-Choice-Perspektive einnimmt, die sie bei der Beurteilung staatlichen Handelns sträflich vernachlässigt. Insbesondere tut sie den Protest der Pharmaindustrie gegen die Überregulierung als sogenannten cheap talk, leeres Gerede ab; dies mit der Begründung, die Industrie lasse sich in der Regel gar nicht an Orten mit niedrigeren Steuern und geringer Regulierungsdichte nieder, sondern dort, wo es – wie auch immer geartete – Subventionen zu holen gibt.
Mazzucato behauptet auch, dass „nur die Apple-Aktionäre finanziell von den Erfolgen des Unternehmens in der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit profitieren“ dürfen, „obwohl viele einfache Arbeitnehmer direkt dazu beitragen“ (Mazzucato 2014, S. 219). Hier klingt einmal mehr Präsident Obamas „You didn’t build that“-Rede nach. Gemeint ist, dass diejenigen, die aus welchem Grund auch immer Innovationen nicht aus dem Nichts zustande brachten, das mit der Entrichtung höherer Steuern kompensieren sollen.
Wenn der Staat wirklich hinter so vielen Innovationen steckt, die dann von privaten Unternehmen auf den Markt gebracht werden, dann ist es laut Mazzucato nicht zu tolerieren, dass diese privaten Unternehmen Geld verdienen, um dann ständig dorthin zu übersiedeln, wo gerade die günstigste Steuergesetzgebung vorherrscht. Sie sollten vielmehr dem Staat Ressourcen „zurückgeben“, die wiederum staatliche Forschung und Entwicklung anzutreiben und einen positiven Kreislauf in Gang zu setzen vermögen. Daher schlägt Mazzucato für die Politik ein altbekanntes Bündel an Maßnahmen vor: staatliche Direktinvestitionen in innovative Unternehmen und eine „goldene Aktie“ bei Patenten, die aus öffentlich finanzierter Forschung hervorgegangen sind.
Laut Mazzucato wird es eine „der größten zukünftigen Herausforderungen bei sauberen Technologien wie bei jeder künftigen technologischen Innovation“ sein, „dafür zu sorgen, dass wir durch den Aufbau kooperativer Ökosysteme nicht nur die Risiken auf alle verteilen, sondern auch die Gewinne. Nur so wird der Innovationszyklus politisch wie wirtschaftlich nachhaltig sein“ (Mazzucato 2014, S. 200). Mazzucato schenkt den Auswirkungen der zur Erhaltung dieser „kollaborativen Ökosysteme“ benötigten Besteuerung privater Unternehmen oder des Konsums wenig Beachtung. Denn Steuern stellen für ein Unternehmen Produktionskosten dar. Können wir davon ausgehen, dass der Preis eines bestimmten Gutes komplett unabhängig von dessen Produktionskosten ist? Ist das nicht der Fall, schlagen sich höhere Steuern schließlich in höheren Preisen für die Konsumenten nieder, einhergehend mit einem dämpfenden Effekt auf die Nachfrage, die private Innovationen vorantreibt. Ebenso: Ist es realistisch anzunehmen, private Unternehmen würden weiterhin ihrer zentralen Rolle bei Innovationen gerecht werden, wenn ihre Profite durch höhere Steuern geschmälert werden? Denn sowohl bei Innovationen wie auch in anderen Bereichen spielen ja die Anreize eine wesentliche Rolle.
Solche Fragen bleiben bei Mazzucato jedoch unerwähnt. Sie scheint dagegen zu glauben, die Kosten ihrer Vorschläge seien deshalb tragfähig, weil das Fehlen einer effizienten staatlichen F&E-Infrastruktur mit noch höheren Kosten verbunden wäre und somit die Fähigkeit einer Wirtschaft zur Innovation untergraben würde. Diese These passt hier natürlich bestens, doch entspringt sie deswegen nicht weniger einer Konfusion. Denn Mazzucato versucht gar nicht erst, die gesellschaftlichen Kosten eventueller Unzulänglichkeiten staatlicher F&E zu quantifizieren. In diesem Sinne gehört sie zu jener Art von Theoretikern, die, um mit McCloskey (2014, S. 77) zu sprechen, es nicht für nötig halten, Beweise dafür zu liefern, dass die von ihnen „geforderte staatliche Intervention so funktionieren wird, wie sie sollte“, und die es auch nicht für nötig zu erachten scheinen, den Nachweis dafür zu erbringen, dass „die nur unvollkommen erreichte notwendige Bedingung für Vollkommenheit vor einer staatlichen Intervention so stark ins Gewicht fällt, dass sie die aggregierte Leistung der Wirtschaft erheblich zu mindern vermag“[25].
Zusammenfassung
Mazzucato erklärt in Wirklichkeit nicht, wie staatliche Bürokratie durch „auftragsorientierte Zielgerichtetheit“ zu Innovationen führen kann. Überdies betrachtet sie offensichtlich Innovationen als gleichbedeutend mit technischem Fortschritt als solchem. Die Tatsache, dass Innovationen zu „Produkten“ werden sollten, die Menschen nützlich sind, fällt in ihrer Argumentation aus dem Raster.
Angenommen wir können für alle möglichen Forschungsprojekte Gelder auftreiben, dann dürfen wir natürlich auch getrost annehmen, dass dies, sofern „alles“ finanziert wird, irgendwann einmal zu dem einen oder anderen Resultat führen wird. Allerdings funktioniert das US-Finanzministerium nicht so wie die Tasche von Mary Poppins. Wie passt das Ganze also in eine Welt knapper Ressourcen und unvermeidlicher Kosten-Nutzen- und Zielkonflikte (trade-offs)?
In einer solchen Welt helfen die unaufgeregten und trockenen Beurteilungen durch Investoren zumindest dabei herauszufinden, welche technologischen Fortschritte dem Konsumenten zu nützen versprechen und welche nicht. Konsumenten sind nicht nur passive Subjekte: auch ihre Präferenzen und Bedürfnisse beeinflussen die Produktion. In dieser Hinsicht scheint Mazzucatos Konstruktion des allmächtigen Unternehmerstaates Entscheidendes zu fehlen. Ihre mangelnde Beachtung der Rolle des Konsumenten (und damit der Nachfrage) in der Marktwirtschaft lässt ein Verständnis von Wirtschaft durchblicken, das sich am Rennen zwischen den USA und der Sowjetunion, wer den ersten Menschen ins All senden würde, orientiert. Wie diese kalten Krieger vor ihr, übersieht Mazzucato das Faktum, dass es bei Innovationen nicht nur um technologischen Fortschritt um seiner selbst willen geht, sondern eher darum, das Leben anderer Menschen besser und einfacher zu machen. Letzten Endes scheint Mazzucatos Unternehmerstaat, trotz seines Einsatzes für den Fortschritt, für diese wichtige Aufgabe wenig geeignet.
Anmerkungen
[1] Im Original: „…our failure to recognize the role of the government in driving innovation may well be the greatest threat to rising prosperity”.
[2] Für eine kritische Reaktion auf die Rezension von Wolf siehe Kealey (2015).
[3] „…the Federal government has encouraged innovations and their diffusion throughout the private market economy throughout most of our history“.
[4] Mazzucato (2014) scheint ihre Ansichten über „public choice“ auf Tullock, Seldon and Brady (2000) zu stützen.
[5] Originaltext: „The market failure framework is problematic for addressing societal challenges because it cannot explain and justify the kinds of transformative mission-oriented investments that in the past ‘picked’ directions, coordinated public and private initiatives, built new networks, and drove the entire techno-economic process, thus resulting in the creation of new markets—not just in the fixing of existing ones.“
[6] Für eine Studie marktwirtschaftlicher Antworten zum Marktversagen, siehe Tabarrok (2002).
[7] Wenn sie jedoch kurz auf das Beispiel Japans zu sprechen kommt, erwähnt Mazzucato auch organisatorische Innovationen (Mazzucato 2014, S. 55 f.).
[8] Zum Wachstum des Staates und dessen Tempo siehe Tanzi and Schuknecht (1999).
[9] „Any policy objective aimed deliberately at promoting long-run economic growth would be hard to document in Britain before and during the Industrial Revolution. … In Britain the public sector by and large eschewed any entrepreneurial activity.“
[10] „Most of all, they involved a confident state that was able and willing to courageously envision the direction of change-defining missions and to organize institutional structures across public agencies and departments.“
[11] „… no one can deny the vast repercussions of militarily motivated activities (…).“
[12] „The military’s role was clearly sufficient to develop the early technologies, but arguably it was not necessary. The credit for these technologies should go to the actual people performing the research.“
[13] „The military funding contributed spillover benefits to the development of the commercial internet.“
[14] „…the government deliberately attempts to promote industry.“
[15] Scott Wallstein vertritt die These, das SBIR-Programm verdränge private F+E-Investitionen. Mazzucato zieht die Möglichkeit des Auftretens eines derartigen Phänomens gar nicht erst in Betracht, denn „Keynesianer haben bestritten, dass der Staat mit seinen Ausgaben private Investitionen verdrängt, und darauf hingewiesen, dies sei nur in einer Phase mit voller Auslastung der Kapazitäten möglich, und dieser Fall trete kaum ein“ (Mazzucato 2014, S. 38f.).
[16] „Most government programs that are created have a tendency to grow almost continuously and spontaneously over the years and to become more expensive with the passage of time. “
[17] Was die Evolution des Touchscreens anbelangt, gab es tatsächlich noch lange vor der Konzeption des iPhones eine Vielzahl an Entwicklungen, sowohl privat- als auch staatsfinanzierte (s. Buxton [2007] 2014).
[18] Siehe www.federalregister.gov/articles/2012/08/06/2012-19086/clinical-studies-of-safety-and-effectiveness-of-orphan-products-research-project-grant-r01 ; abgerufen am 19. 6. 2017.
[19] Angesichts der „Regulierungsintensität“ der Pharmabranche könnte man argumentieren, dass die Sonderprivilegien für die Hersteller von Orphan-Medikamenten lediglich der Kompensation für Hindernisse bei der Produktion dienen, die der Staat selber verursacht hat. Doch ist dies nicht der Ort, um auf diese Diskussion einzutreten..
[20] „… the path to the modern“ economic world „was (…) about discovery, and a creativity supported by novel words.“
[21] [A certain] „propensity for entrepreneurial discovery and innovation“.
[22] „[The Japanese government] was funding less than 20 percent of its R&D and, remarkably, less than half of its country’s academic science – an extraordinary exception to the average OECD government, which was funding around 50 percent of its R&D and 85 percent of its country’s academic science“.
[23] „… compared with the work of the engineer that of the merchant is in a sense much more ‘social,’ i.e., interwoven with the free activities of other people.“.
[24] „…social economies [are] fatally lacking in dynamism“.
[25] [… that their] „proposed state intervention will work as it is supposed to” [or that] „the imperfectly attained necessary condition for perfection before intervention is large enough to have much reduced the performance of the economy in aggregate.“
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Dieser Artikel erschien zunächst in englischer Sprache unter dem Titel „A Critique of Mazzucato’s Entrepreneurial State“ im Cato Journal, Vol. 35, No. 3 (2015). © Cato Institute, Washington D.C. Übersetzung und Publikation mit freundlicher Genehmigung. Deutsche Übersetzung: Elisabeth Kainzmeier/Austrian Institute.
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