Die Bewegung, die „Degrowth“ propagiert – Null- oder gar Negativwachstum, auf Französisch „décroissance“ – hat seit langem Auftrieb in vielen reichen Ländern – kaum aber in brasilianischen Favelas oder indischen Bauerndörfern. Aber lassen wir die Polemik und wenden wir uns zuerst einer populären Quelle dieses Denkens zu, danach den ökonomischen und gesellschaftlichen Fakten.
Populär, populärwissenschaftlich sind immer noch die Studien des Club of Rome, oft zitiert, kaum je gegeneinander gehalten. Denn 1972 – „Die Grenzen des Wachstums“ – alarmierte der Club die Welt, es werde in Kürze kein Öl, kein Blei, kein Kupfer mehr geben für das ewige Wachstum. Die Input-Seite der Weltgesellschaft falle weg. Das hat sich nicht bestätigt. Die darauf folgenden Warnungen hingegen beklagen den CO2-Ausstoß für das Klima – nun also ist die Output-Seite unzuträglich.
Vollends herrscht Kurzsichtigkeit, wenn sich die Tagespolitik der langen Frist bemächtigt: Nach dem Tsunami gegen das AKW in Fukushima war diese Stromquelle abgesagt, elektrischer Strom überhaupt fiel in Ungnade. Doch kurz darnach kam die Klimafrage an der Pariser Konferenz wieder in den Blick und seither ist kein Stromaufwand zu hoch, um das Öl zu eliminieren und Geothermie oder Elektromobilität zu fördern.
Wachstumszwang? Wandlungen einer alten Theorie
Doch lassen wir die Tagespolitik. Grundsätzlich unterstellt die Bewegung für ein Nullwachstum, dass Umweltprobleme ungefähr proportional zum Wirtschaftswachstum anfallen, also immer bedrohlicher werden. Um die Umwelt zu retten, muss folglich das Wachstum gestoppt, werden.
Zunächst das Wachstum: Es sei ein unaufhebbarer Zwang der Markt- und Kapitalgesellschaft. Diese These zieht sich seit Marx durch viele Theorien hindurch, seinerzeit bei Klaus Traube („Wachstum oder Askese?“ 1979), heute, genau vierzig Jahre später, etwa bei Mathias Binswanger („Der Wachstumszwang“ 2019). Seit jeher auch finden viele, der Zins verlange der Volkswirtschaft ewiges Wachstum ab, sonst könne es ihn gar nicht geben.
Der Schluss vom Wachstum der einzelnen Firmen auf das volkswirtschaftliche Ganze ist keineswegs zwingend. Immer wieder machen Firmen Konkurs, steigen aus oder auf anderes um.
So bindet auch Binswanger den Zwang u.a. auf die erteilten Kredite an Firmen zurück – sie müssen die Zinsen aus mehr Produktion erwirtschaften. Allgemein aber würden die Konkurrenz, die Erneuerungs- und Erweiterungsinvestitionen die Firmen zu „immer mehr“ zwängen. Diese behauptete Zinsfalle – so sagt auch der Volksmund – verkennt aber die Möglichkeit, Zinsen einfach aus anderer Gewinn- und Einkommensaufteilung zu bezahlen, ohne Mehreinnahmen. Außerdem treiben viele Unternehmer ihre Geschäfte, ohne laufend Kredite aufzunehmen. Sodann auch findet der „rat-race“ zur Größe und Marktbeherrschung nur in der Konkurrenz zwischen den Großen statt, kaum im mittelständischen Großteil der Volkswirtschaft, in Gewerbe und Dienstleistungen.
Der Schluss vom Wachstum der einzelnen Firmen auf das volkswirtschaftliche Ganze ist deshalb keineswegs zwingend. Immer wieder machen Firmen Konkurs, steigen aus oder auf anderes um. Die durchschnittlichen Wachstumsschritte sind nicht jene jährlichen 12 und mehr Prozent, die junge Analysten den ergrauten CEOs vorschreiben. Binswangers Theorie stützt sich auf elf Gleichungen mit etwa fast gleich vielen Variablen – doch auf diesem Abstraktionsgrad stimmt nichts mehr so richtig.
Fragwürdige Wachstumsstatistiken
Die Art, wie Wachstum heute definiert und gemessen wird, gibt schon bessere Aufschlüsse. Im Bruttosozialprodukt zählen die Statistiker aller Länder – oder eher: schätzen sie – das, was gegen Geld über den Ladentisch geht. Oft kritisiert wird ja, dass Freiwilligenarbeit, Hausarbeit dabei nichtberücksichtigt werden. Sie sind ja ein wichtiger Faktor des Anstiegs der Wachstumszahlen. Seit zweihundert Jahren werden nämlich dieselben Leistungen nicht mehr zuhause, sondern „über den Ladentisch“ erbracht, treten also in die formale Volkswirtschaft ein.
Früher hätten während eines Lockdowns die Alten in der Stube ihre Sagen erzählt, heute kauft man diese Illusionen bei Netflix gegen Geld ein. In Schweden sind fast alle Frauen voll erwerbstätig, doch erbringen sie mit Schule, in Horten, in der Pflege, beim Hundeausführen, mit Sozialfürsorge gegen Entlöhnung nun als Teil der Volkswirtschaft das, was früher Hauswirtschaft war. Buchhaltung, Gartenarbeit, Putzen, Coaching, Beratungstätigkeit, alles geht diesen Weg, mit Frauen wie mit Männern. Überall werden Gemeinden fusioniert, und ehrenamtliche, früher kleinlokale Tätigkeiten sind jetzt professionalisiert und bezahlt. Und jeder Beamte wird einfach in die Statistik mit seinem Lohn eingesetzt – und siehe da: schon wieder steigt das Inlandprodukt.
Etwas weniger allgemein zeigt aber auch ein Börsenindex wie der Dow Jones wie wenig maßgebend „Wachstum“ gemessen wird. Kritisiert wird gerne, wie er graphisch dargestellt fast zur Senkrechten wurde, in exponentiellem Wachstum. Doch heute sind 30 Firmen drin, seit seinem Beginn wurden aber ca. 100 Firmen ausgewechselt. Noch letzten August fiel der Ölgigant Exxon hinaus, weil er an Bedeutung verliert. Falls er dank „grüner Politik“ gänzlich zu Boden fällt, wird der Index diesen Substanzverlust bisheriger Wirtschaft aber nicht anzeigen – und das heißt: er bildet nur die positive Seite des Wachstums ab, die Nettobilanz wäre eine ganz andere, bescheidenere.
Nicht bezifferbarer technischer Fortschritt
Die erwähnte Streaming-Firma Netflix vermag einen weiteren Aspekt zu illustrieren: Der „wachsende Teil“ der Volkswirtschaften beruht auf viel Informationstechnologie. Diese wird vom Markt aufgrund der Verkäufe in Statistiken hoch bewertet – Netflix mit 230 Milliarden – aber da sind wesentlich weniger Realkapital und Ressourcen gebunden als etwa im seit Jahrzehnten defizitären italienischen Stahlwerk Ilva (ehemals Gioia Tauro) in Tarent, das kaum produziert, enorme Umweltschäden verursacht und seine 20’000 Arbeiter mit Kurzarbeitsgeldern durchhält.
Übersehen, weil meist nicht bezifferbar und deshalb als „Black Box“ bezeichnet, wird dabei der technische Fortschritt. Die Technik steigert seit 250 Jahren die Pro-Kopf-Leistung, die Arbeitsproduktivität und – meist – die Kapitalproduktivität. Mit gleichviel Aufwand gibt es also mehr Ertrag, Wachstum. Doch schlägt sich nun dieser öfters in IT, Dienstleistungen, in nicht bezifferbarer Bequemlichkeit nieder, nicht in Tonnen von Stahl. Was haben das Internet, und dann das Mobiltelephon für unglaubliche Fortschritte, und eben auch Erleichterungen für das Leben gebracht! Märkte sind für Firmen transparent geworden, rationaler. Jeder hat Zugriff auf das Wissen der Welt. Nach der Installation der ersten Überseekabel versammelten sich die leitenden Herren der Großbanken im Direktionszimmer, um den Börsendaten aus London zu lauschen, heute hat sie jede GameStop-Traderin auf dem eigenen Handy. Jeder kann abrufen, was Nobelpreisträger geschrieben haben; Sitzungen fallen aus und jeder weiß es und reist gar nicht erst einmal an. Reisen sind planbar bis in die Besichtigung der Hotelzimmer. Dieses Wachstum „“der Volkswirtschaft „nach innen“ wird einfach hingenommen – es ist real, nicht aber in den Zahlen drin.
Wachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln sich
Setzt sich nun aber ein erfolgreicher Programmierer von Elektronenhäufchen abends in seinen Porsche, dann schafft er ein Klimaproblem: der Output der Volkswirtschaft legt sich auf die Umwelt.
Das ist denn der zweite Aspekt, den Kritiker im Auge haben – zu Recht: den Porsche, nicht die IT und ihr Niederschlag in den abstrakten Wachstumszahlen.
Denn tatsächlich ging vieles des einstigen Wachstums aus steigender Arbeits- und Kapitalproduktivität hervor, setzte jedoch überproportional mehr Umweltressourcen ein – Energie, Land, Lärm. Die Ressourcenproduktivität sank. Ist das heute immer noch so? Wenn nicht, dann wäre selbst ein „Wachstumszwang“, wenn es ihn denn gibt, kein Problem. Der Ressourcenverbrauch pro Einheit sänke dann ja schon.
Da Wachstum schwer zu messen ist und eben nur sehr unzulänglich aus den einzelnen Firmengewinnen auf die gesamte Volkswirtschaft umgelegt werden kann, hält man sich besser an den „Fußabdruck“ dieses Wachstums in den Realien. Hier gilt die Überlegung eines Altmeisters des „stationären Wachstums“, Nicholas Georgescu-Roegen, dass nämlich in einem endlichen Ökosystem die Wirtschaft nicht unendlich wachsen kann – dies aber nur, so sieht man es heute, , wenn sie ebenso proportional Ressourcen verschlingt.
Seit langem erkennen Politiker die Probleme nicht besser und auch nicht früher, sie sollen daher besser keine „dauernde Abhilfe“ schaffen. Sie sollen nicht Lösungen bieten, nur Verfahren.
Doch findet die Entkoppelung von Wachstum und Ressourceninput – oder eher, Ressourcenoutput – bereits statt und wird stetig weiter gehen. Die Umweltgüter müssen in die Kostenüberlegungen der Firmen, der Haushalte, des Staates internalisiert werden. Dazu dienen CO2-Zertifikate, die ersteigert werden müssen, dazu können in Extremfällen auch direkte Verbote wie beim Fluorkohlenwasserstoff oder von Methanschleudern dienen. Dabei sind auch heilige Kühe anzufassen, etwa die Kühe der fleischintensiven Landwirtschaft, die enorm methanproduzierenden Abfallhalden Kaliforniens, das sich heuchlerisch nur gegen die Benzinautos wendet. Doch dürfen wir auch hier auf technischen Fortschritt hoffen: Gen- und Agrotechnik hat in Neuseeland den Methanausstoß der dortigen Kühe bereits wesentlich gesenkt, und die Forschung ist in vollem Gang.
Eine Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch dank technischer Innovationen erscheint heute etwa auch am Horizont, wenn solar- und winderzeugter Wasserstoff den Großteil des Energie-Inputs übernehmen kann. Georgescu-Roegen argumentierte sichtlich aus einer Erdölökonomie heraus, Klaus Traube wegen Atomkraft, andere „wegen des Wachstums“ an sich.
Das verräterische „Wir“
Aber das „Wir“ ist verräterisch: nur politische Entscheide könnten derartige Gewaltsumstellungen bewirken. Seit langem erkennen aber Politiker die Probleme nicht besser und auch nicht früher, sie sollen daher besser keine „dauernde Abhilfe“ schaffen. Sie sollen nicht Lösungen bieten, nur Verfahren. Mit Internalisierungen hingegen belässt man die Initiative bei den einzelnen Firmen, Haushalten, und sie können entlang der technischen Lernkurve situativ und individuell den Kurs bestimmen.
Verräterisch sind bei Wachstumskritikern auch die Anmaßungen, vor allem jene zu wissen, wieviel „das Volk“ konsumieren sollte. Askese aus wissender Hand wird angesagt. Und Mathias Binswanger weiß sogar, dass das ganze Wachstum heute in „Bullshit-Jobs“ geht. Er also weiß besser, wie die vielen unten anders arbeiten sollten – gesehen aus dem Elfenbeinturm der Hochschule.
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