Gerfried Sperl beklagte unlängst in der „Wiener Zeitung“ einen „Prozess der Entkoppelung“ von „christlich“ und „sozial“ angesichts der Hinwendung der gegenwärtigen österreichischen Regierung zu einer „liberalen“ statt einer „sozialen“ Marktwirtschaft. Das komme einer „Entmachtung der Bergpredigt“ gleich, zitiert Sperl Kritiker der Regierung. Man ist erstaunt. Denn wer soll entscheiden, was in der Politik das „christliche Verständnis“ von „sozial“ ist?
„Christlich-sozial“ stand einmal in Österreich für kleinbürgerlichen Antikapitalismus, Antisemitismus, Klerikalismus und schließlich anti-parlamentarischen Autoritarismus und Ständestaat – vertreten durch Namen wie Karl Lueger, Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuß. Das ist Vergangenheit. Erhalten haben sich aber, so scheint es, Antikapitalismus und Klerikalismus just bei jenen, die jetzt behaupten, ein liberaler wirtschafts- und sozialpolitischer Kurs sei Verrat am Christlich-Sozialen. Linkskatholische Kritiker der Regierung berufen sich nicht nur auf die Bergpredigt, sondern in bester christlich-sozialer Tradition auch auf päpstliche Enzykliken – allerdings reichlich selektiv.
Insbesondere die Enzyklika „Populorum progressio“ von 1967 wird von vielen, auch von Sperl genannten Verteidigern des Christlich-Sozialen beschworen. Das Lehrschreiben Papst Pauls VI. hatte Marktwirtschaft und internationalen Handel durch die Brille der längst widerlegten Dependenztheorie gesehen. 1989 widersprach Johannes Paul II. in der Enzyklika „Centesimus annus“ dieser Orientierung und verteidigte Marktwirtschaft und einen „recht verstandenen Kapitalismus“. Dieses Lehrschreiben lassen Linkskatholiken verschämt unter den Tisch fallen. Für sie repräsentiert „Populorum progressio“ bis heute die Quintessenz katholischer Soziallehre. Wer davon abweicht, übt Verrat am „Christlich-Sozialen“.
Dabei wird übersehen, dass das Zweite Vatikanische Konzil – in Abwendung von einem früheren Klerikalismus – lehrte, die katholischen Laien sollten in weltlichen Fragen selbstverantwortlich urteilen und nicht wie früher denken, es müsse eine für alle Katholiken „einheitliche Marschrichtung“ (Paul Jostock, 1932) geben. Niemand solle andere Ansichten mit dem Argument zurückweisen, die eigene Position sei eine „eindeutige Folgerung aus der Botschaft des Evangeliums“, und habe in solchen Fragen das Recht, „die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen“.
Der alte Antikapitalismus lebt wieder auf
Was jedoch früher am Rockzipfel des Klerus hängende Christlichsoziale taten, tun heute die linksaufgeklärten Erben dieses Etiketts, insbesondere wenn sie gegen einen ihrer Ansicht nach unsozialen „Neoliberalismus“ ins Feld ziehen: Sie berufen sich aufs Evangelium und auf das kirchliche Lehramt – aber nur dann, wenn es in ihrem Sinne spricht. So lassen sie heute den Antikapitalismus der alten Christlichsozialen wieder aufleben, und zwar in völliger Verkennung der Tatsache, dass es die kapitalistische, unternehmerorientierte Marktwirtschaft war, die in den vergangenen 200 Jahren den Massenwohlstand der sogenannten westlichen Welt erzeugte und dies gegenwärtig auf globaler Ebene weiterhin tut. Vor diesem historisch beispiellosen Erfolg schließen die neuen Anwälte des Christlich-Sozialen beharrlich die Augen, machen gegen alles Kapitalistisch-Marktwirtschaftliche Stimmung und pachten im Namen des Christentums das „Soziale“ für sich selbst.
Damit wird jeder sachlichen Diskussion über die sozialen Auswirkungen verschiedener Wirtschaftskonzepte aus dem Weg gegangen und auch die Frage vermieden, woher eigentlich der moderne Massenwohlstand kommt. Man glaubt stattdessen, alles, vor allem aber Kritik an freiem Markt und Wettbewerb, direkt aus der Bergpredigt und dem Evangelium ableiten zu können und reklamiert dafür deren Autorität – wie auch jene ausgewählter Päpste. Klerikaler geht es nicht mehr!
Letztlich ist das ein Schritt zurück in die Vergangenheit der harschen – und verfehlten – Kritik an Marktwirtschaft und freiem Wettbewerb, wie sie die Enzyklika „Quadragesimo anno“ (1931) von Pius XI. vertrat. Diese plädierte bekanntlich für eine „berufsständische Ordnung“ als Alternative zur marktwirtschaftlichen. Ihre Sichtweise galt damals als der Inbegriff von „christlich“ und „sozial“, Bundeskanzler Dollfuß berief sich auf sie.
Gerfried Sperl versucht nun statt der diskreditierten Enzyklika von 1931 die allererste Sozialenzyklika, „Rerum novarum“ (1891), für das in seinem Sinne Christlich-Soziale zu vereinnahmen, in der, wie er schreibt, Papst Leo XIII. „sowohl Sozialismus als auch Kapitalismus angriff und eine staatliche Sozialpolitik zum Schutz der arbeitenden Menschen forderte“.
Auf Papst Leo XIII. beruft man sich zu Unrecht
Eine genaue Lektüre der Enzyklika vermittelt jedoch ein anderes Bild. Leo XIII. verurteilte den Sozialismus, aber nicht den Kapitalismus. Den Sozialismus verurteilte er, weil er das Privateigentum – die Grundlage des Kapitalismus – abschaffen wolle, das Papst Leo aber gerade als das beste Mittel bezeichnete, damit die Güter dieser Erde allen Menschen zugutekommen. Jeglichen Versuch, ins Privateigentum einzugreifen, um so die Lage der Industriearbeiter zu verbessern, bezeichnete er als „unselige Gleichmacherei“ und „Raub“. Vorrangige Aufgabe des Staates sei vielmehr, das Eigentum zu schützen. Nur so könnten die jetzt noch Besitzlosen durch eigene Arbeit mit der Zeit zu Wohlstand und Vermögen gelangen.
Leo XIII. geißelte nicht die kapitalistische Wirtschaftsordnung, sondern rücksichtlose Fabrikherren und die oft furchtbaren Arbeitsbedingungen und verlangte Schutzgesetze für die Industriearbeiter und die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Mit einer staatlichen, in die Einkommens- und Vermögensverhältnisse eingreifenden „Sozialpolitik“, wie sie damals von vielen gefordert wurde, hatte das nichts gemein.
Christen dürfen und sollen darüber streiten, welche Politik sozial ist. „Sozial“ ist aber nicht einfach mit staatlichem Geldverteilen gleichzusetzen, sozial ist vielmehr, was Menschen aus der Armut befreit und Wohlstand für die breiten Massen schafft. Das ist die historische Leistung der kapitalistischen Marktwirtschaft, die auf dem Schutz des Privateigentums und unternehmerischem Wettbewerb beruht. Darin erblickte auch Ludwig Erhard das Soziale der von ihm geschaffenen „sozialen Marktwirtschaft“, und deshalb meinte er, die beste Sozialpolitik sei eine gute Wirtschaftspolitik.
Sollte die Regierung Kurz in diese Richtung gehen, könnte das gerade aus sozialen Gründen nur begrüßt werden. Wer das als Christ anders sieht, soll dafür sachbezogene Argumente liefern, sich aber nicht auf die Bibel und (ausgewählte) kirchliche Lehrschreiben berufen oder einfach Andersdenkende als unchristlich oder unsozial abstempeln. Am besten wäre es, er würde auf verstaubte Bezeichnungen wie „christlich-sozial“ als politisches Qualitätsmerkmal verzichten, denn es wurde schon immer missbraucht und schafft nur Verwirrung.
Dieser Artikel ist ursprünglich in der „Wiener Zeitung“ vom 2./3. März 2019 erschienen und dort auch online zugänglich.