Im Jahre 1848 stürzten sich weit über 100 000 junge Männer in ihrer Gier nach Gold auf einige wenige kalifornische Felder, mit Pickeln und Schaufeln, kannten einander nicht, kamen aus aller Herren Länder. Führte das zu Chaos, Mord und Totschlag? Nein, denn rasch fanden sie Formen des Umgangs miteinander, ohne Staat, ohne Gesetze und ohne Sheriffs, die für deren Durchsetzung sorgten. Spontane Ordnung stellte sich ein in einer überhitzten Lage, nicht nur klimatisch, sondern aufgeputscht durch den allseitigen Drang, rasch reich zu werden. Gerade dieser Drang aber konnte nur erfüllt werden, wenn er ebenso allseitig gebändigt und in gewissen Formen kanalisiert wurde.
Die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Menschen ist heute historisch vielfach belegt. Sie führt zu einer entsakralisierten Sicht des Staates. Er soll nützen, Eigentum schützen, Selbstinitiative erlauben. Vor allem aber soll er in der Macht Gleicher über Gleichgestellte bestehen.
Ohne Staat – Kalifornien war damals ein Niemandsland, Mexiko hatte es aufgegeben, in die junge Union war es noch nicht aufgenommen. Es gab keine Verfassung, keine Gesetze. So schufen die Goldgräber sich diese Gesetze. „We the Miners“ hießen mehrere Proklamationen, welche Gruppen von Goldgräbern in den aufgewühlten Wiesen und Flussbetten sich selbst verpassten. Darüber hat nun die an der Seton Hall Law School lehrende US-amerikanische Historikerin und Rechtsprofessorin Andrea G. McDovell ein Buch geschrieben – We the Miners: Self-Government in the California Gold Rush (Harvard University Press 2022) –, das all dies reichlich dokumentiert.
Von der spontanen Selbstregulierung zur Staatlichkeit
Rudimentäre Verhaltensformen wurden festgeschrieben, „laws“ (Gesetze) geheißen. Sie regelten das Dringendste: was ist ein „claim“, ein Grabungsanspruch, der oft nur vier mal vier Meter ausmachte? Wie viele solcher Claims darf ein Goldgräber belegen? Wie sichert er diese, wenn er mal wegmuss? Ganz einfach, indem er den Pickel darüber legt. Doch geregelt war auch, wann ein solcher Claim verfällt, dann nämlich, wenn er nicht dauernd und sichtlich bearbeitet wird. Festgelegt war das Verfahren, falls darüber Streit entstand, so dass ein Claim neu zugeteilt werden konnte.
Auch für eigentliche Verbrechen gaben diese Proklamationen „We the Miners“ klare Verfahren vor: Die Goldgräber des Tals traten zusammen, wählten drei Männer, und diese bestimmten zwölf Jury-Mitglieder. Die Jury richtete rasch, und die Urteile waren einfach – den Zuwiderhandelnden verjagen, ihn auspeitschen, ihn brandmarken oder kahlscheren, ihn hängen, ihn freisprechen. Zeitungsberichte naher Stadtzentren, Tagebücher, Briefe dokumentieren Hunderte solcher Gerichtsfälle, auch das recht zivile Vorgehen dabei. Die umstehende Menge gab ihre Meinung kund, Scharfmacher, die „hängt ihn“ riefen, wurden besänftigt, es fanden sich fürs Auspeitschen oft keine Freiwillige, schon eher machte man mit Hängen kurzen Prozess – aber nach formellem Urteil. Wichtig wie immer für selbststeuernde Gesetzgebung aus dem Volk waren die regelmäßig einzuberufenden Versammlungen – das dämpft die Willkür der Wortführer und Beauftragten.
Nach ein, zwei Jahren des Wühlens im Boden stolperte man nicht mehr wie anfangs buchstäblich über Goldklumpen. Komplexere Techniken wurden notwendig, diese verlangten den Zusammenschluss, woraus Aktiengesellschaften entstanden. Übergeordnete Gesetze wurden erlassen, Kalifornien trat in die Union ein. Die Goldgräber wehrten sich zunächst noch gegen „monopoly“, „capital“, wie sie es nannten, doch Staat, Firmen konstituierten sich schließlich in unserem gewohnten Rahmen. Einer dieser Pioniere schrieb, dieser Teil des Wilden Westens sei zu Ende gegangen, als Kirchen, Schulen, Frauen und Klaviere ankamen.
Der Mensch – das Ordnung schaffende Wesen
In ihrem Buch schildert Andrea G. McDovell aufgrund beeindruckender Belege die spontane Selbstorganisation der Goldgräber unter diesen unruhigen, testosterongeladenen Umständen. Diese kurze, spontane „Staatsfindung“ war vielleicht die letzte, die im späteren, ökonomisch entwickelten Westen stattgefunden hat. War sie eine Ausnahme, oder kann man annehmen, der Mensch schaffe immer seine Ordnung in nicht mehr sippen- und familienmäßig geschlossenen Gruppen?
Der kalifornische Goldrausch war insofern eine Sondersituation, als im Gegensatz zum allgemeinen „Wilden Westen“ nicht so sehr Desperados, Entflohene dort eintrafen, sondern meist junge Leute, die einen Beruf aufgaben, um auf die Zeitungsmeldungen hin von durchschnittlich ein, zwei Unzen Gold-Gewinn pro Tag das Abenteuer zu wagen. Außerdem – der erwähnte Titel der Proklamationen zeigt es – hatten sie eine Ahnung von der US-Verfassung und von Menschenrechtserklärungen, auch von gesetzlichen Formeln ganz allgemein.
Eine internationale Konferenz über Goldgräber in aller Welt aber stellte 2003 ähnliche Vorgehen überall fest. Sie bilden also nicht eine Ausnahme, sondern die Regel.
Selbstverwaltung unter Gleichen im frühen Europa
Alexis de Tocqueville lieferte eine systematische Darstellung dieses Vorgangs in seinem zweibändigen Werk „Über die Demokratie in Amerika“. Initiativen gesellschaftlicher, staatlicher Gestaltung kämen in Britannien von den Clubs vornehmer Landbesitzer, in Frankreich von oben, vom Staat, in den USA aber von den zahllosen „associations“, den Vereinen des Volkes. Die Miners schöpften sicherlich aus diesem Fundus.
Die zahlreichen Selbstverwaltungen des früheren Europa bildeten ähnliche spontane Staatswerdungen aus – die Eidgenossenschaft der „frumen, edlen puren“ (damals die Chiffre für Nicht-Adelige), das Lübecker Stadtrecht, freiwillig übernommen in Dutzenden anderer Städte der Hanse, die süddeutschen Städtebünde, die Signorien der lombardischen, toskanischen Städte, Venedig, die Provinzen Hollands.
Den schroffen Gegensatz dazu formulierte Kaiser Ferdinand 1555 – „par in parem imperium non habet“: ein Gleicher kann nicht Gleichgestellten befehlen, also ist Demokratie unmöglich, nur „top-down“ ist staatlich. Ein anderes Beispiel aus Europa zeigt eine fast anekdotische Selbstverwaltung, geadelt aber durch die Dauer von 400 Jahren – die Repubblica di Cospaia. Bei einer Grenzziehung zwischen dem Kirchenstaat und der toskanischen Republik 1441 hatte man in den Sitzungszimmern übersehen, dass der obere Tiber sich in zwei Arme teilte, die das Dorf Cospaia umflossen und das daher weder zum einen Staat (westlich davon) noch zum anderen (östlich davon) gehörte. Sofort rief es sich zur Republik aus und blieb bis 1826 frei – ohne Zölle, ohne Steuern, ohne Gefängnis, ohne fernen Zentralstaat.
Fragwürdige Zentralisierung des modernen Staates
Heute ist dieses kleinräumig selbstverwaltete Europa dem kollektiven Gedächtnis entschwunden, seit die großen Flächenstaaten alles weggehobelt und zentralisiert haben. Frankreichs Revolution schaffte alle vielfältigen „corps intermédiaires“, alle Verbände, Regionen, Gewalten zwischen Zentralstaat und Bürger ab. Die Preußen und die Savoyerdynastie boxten in Deutschland und Italien alle kleineren Staaten, die Städte mit Kanonen und Zehntausenden Toter im 19. Jh. in den Zentralstaat.
Das ist kein gutes Omen für den angestrebten Zentralstaat Europa, der zwar nicht mit Kanonen, sondern mit einseitigen Entscheiden des Gerichtshofs und der Kommission diese „Einigungen“ nachzubilden versucht. Doch die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Menschen ist heute historisch vielfach belegt. Sie führt zu einer entsakralisierten Sicht des Staates. Er soll nützen, Eigentum schützen, Selbstinitiative erlauben. Vor allem aber soll er in der Macht Gleicher über Gleichgestellte bestehen.
Dies ist, nach dem Artikel über Ronald Coase Verhandeln statt regulieren – ein längst bekannter, aber zu wenig befolgter Ratschlag (Juni 2023), ein zweiter Beitrag des Autors zum Thema, wie Menschen für die Lösung konkreter Probleme spontan, in gemeinschaftlicher Verantwortung und im allgemeinen Interesse Verfahrensregeln schaffen können und wieso deshalb der Staat nur subsidiär tätig werden sollte.