Der Euro war seit seinem Beginn ein politisches Projekt. Deshalb war auch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank von Anfang an in Gefahr. Letztlich ging – und geht es immer noch – um die Alternative „Cambridge oder Wien“, d.h.: „Keynes oder Hayek“. Die Entscheidung für Keynes führte zu einem konjunkturpolitischen Drama, infolge der zur Rettung des Euros geschaffenen Liquiditätsschwemme zu volkswirtschaftlichen Fehlentwicklungen und zu einer zunehmenden Politisierung der Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion. Dieser Missbrauch der Geldpolitik ruft nach einer Rückbesinnung auf die Erkenntnisse der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. „Wien statt Cambridge“ hieße die Lösung: Konjunkturbelebung und echtes Wachstum nicht durch kurzfristige Stimulierung der Wirtschaft, sondern das Zulassen von Strukturbereinigung und „schöpferischer Zerstörung“.
Dieser Beitrag wurde exklusiv für die XIII. Gottfried von Haberler Konferenz, Vaduz (Fürstentum Liechtenstein) verfasst und dort vorgetragen. Wir veröffentlichen ihn mit freundlicher Erlaubnis des ECAEF (European Center of Austrian Economics Foundation, http://ecaef.org/. Der Text kann auch als Austrian Institute Paper heruntergeladen werden: Download: Joachim Starbatty, Über den Missbrauch der Geldpolitik.
I. Geld ist immer politisch, aber politisiertes Geld ist etwas anderes
Notenbanken, die an Ihrem Auftrag, den Geldwert stabil zu halten, festhalten, stehen oft im politischen Feuer, wenn sie mit ihrer Haltung die konjunkturpolitischen Kreise der jeweiligen Regierungen stören. Es ist deswegen wichtig, dass sie in der jeweiligen Bevölkerung Rückendeckung finden. Insofern ist Geld ein politisches Medium. Politisiertes Geld ist die Konsequenz politischer Aktionen, die über die Manipulation von Geldmenge und Zinsen politische Ziele, wie Haushaltsfinanzierung und Beschäftigungssteigerung, realisieren wollen.
Die Einstellung von Regierungen und Bevölkerungen zum Geld hängen zum großen Teil auch von den spezifischen Erfahrungen mit Deflation und Inflation ab. Daher sagt Joseph Schumpeter: „Nichts sagt so deutlich, aus welchem Holz ein Volk geschnitzt, wie das, was es währungspolitisch tut.“ Frankreichs Einstellung ist durch die verheerenden deflationären Prozesse im Zuge der Rückkehr zum Goldstandard der Vorkriegsparität in der zweiten Hälfte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt worden. Damit war der französische Franc überbewertet. Anstatt abzuwerten, wählte die Politik den Weg, über Lohnkürzungen international wieder konkurrenzfähig zu werden. Das führte in Frankreich zu Verarmung und löste erhebliche soziale Unruhen aus. Deutschland hatte demgegenüber 1923 unter einer galoppierenden Inflation gelitten, die die Geldvermögenbesitzer enteignete und den Mittelstand nahezu vernichtete. Im Jahre 1948 beendete die Währungsreform die zurückgestaute Inflation mit einem Rationierungssystem und strengster Warenbewirtschaftung. Daher sagen französische Politiker, Geld ist zu wichtig, um es unabhängigen Experten anzuvertrauen. In Deutschland galt: Geld ist zu wichtig, als es Politikern anzuvertrauen.
Mit der Einführung des Euro taten die Politiker so, als ob alle teilnehmenden Völker aus demselben Holz geschnitzt wären. Dass dies ein Trugschluss war, zeigte bereits das politische Tauziehen um die Besetzung des Präsidenten der EZB im Mai des Jahres 1998. Die meisten potentiellen Mitgliedstaaten hatten sich für den niederländischen Zentralbankpräsidenten, Wim Duisenberg, entschieden, weil er für die Fortführung des stabilitätspolitischen Kurses der Deutschen Bundesbank stand, während der französische Staatspräsident, Jacques Chirac, den französischen Zentralbankpräsidenten nominieren wollte. Man einigte sich schließlich auf einen Kompromiss: Duisenberg erklärte sich bereit, bereits nach der Hälfte seiner Präsidentschaft von acht Jahren zurückzutreten. Wenn alle Politiker sich die deutsche Stabilitätskultur zu eigen gemacht hätten, hätte Chirac ja warten können, bis sein Favorit an der Reihe gewesen wäre. Dass es bei der Besetzung des Präsidentenpostens politisch zugeht, hat auch die Wahl von Mario Draghi zum EZB-Präsidenten gezeigt.
Die geldpolitische Praxis der EZB hat auch gezeigt, dass Unabhängigkeit allein keine Garantie für eine Politik ist, die dem gesetzlichen Auftrag entspricht. Sie ist sogar dazu missbraucht worden, eine vertragswidrige Politik betreiben. Das weitsichtige Wort von Walter Eucken aus dem Jahre 1952 trifft dermaßen genau die Politik der EZB in der Eurozone, dass man es geradezu prophetisch nennen könnte:
„Die Erfahrung zeigt, dass eine Währungsverfassung, die den Leitern der Geldpolitik freie Hand lässt, diesen mehr zutraut, als ihnen im Allgemeinen zugetraut werden kann. Unkenntnis, Schwäche gegenüber Interessentengruppen und der öffentlichen Meinung, falsche Theorien, alles das beeinflusst die Leiter sehr zum Schaden der ihnen anvertrauten Aufgabe.“ (Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952, S. 257)
II. Das konjunkturpolitische Drama (John R. Hicks)
Bei der Auseinandersetzung um die richtige Geldpolitik spielt auch die theoretische Ausrichtung eine entscheidende Rolle. So lässt sich feststellen, dass angelsächsische Ökonomen relativ unbefangen mit der Null-Zins-Politik umgehen – Maurice Obstfeld sagt: „Räumt die Bowle noch nicht ab“, während deutsche Ökonomen die Langfristschäden – u.a. Entstehen von Blasen – betonen und die Umverteilung von unten nach oben attackieren. Die US-amerikanische Position ist die Konsequenz des keynesschen Erbes: Jede Konjunkturabschwächung ohne genauere Diagnose mit Billig-Geld-Politik und Haushaltsdefiziten zu bekämpfen. Das Erscheinen von Keynes‘ „General Theory of Employment Interest and Money“ (1936) wurde seinerzeit wie eine Heilsbotschaft gefeiert: Jetzt glaubte man zu wissen, was zu tun sei, um dauerhaft in der besten aller ökonomischen Welten zu leben. Die konjunkturtheoretischen Überlegungen von Schumpeter und Hayek lagen so weit ab vom ökonomischen Mainstream, dass sich sowohl Schumpeter als auch F.A. von Hayek gesellschaftspolitischen Themen widmeten: „Capitalism, Socialism and Democracy“ (1946) und „The Road to Serfdom“ (1944). Sie hatten es aufgegeben, sich der Keynesianischen Welle entgegen zu stemmen. Einer der Großen der Ökonomie, John R. Hicks, war einer der wenigen, die das konjunkturpolitische Drama zwischen Keynes und v. Hayek noch nicht endgültig zugunsten von Keynes entschieden sahen.
Im Allgemeinen wird zwischen den Konjunkturtheorien Schumpeters und F. A. v. Hayeks unterschieden; im Kern sind sie sich aber ähnlich; sie gründen beide auf der Theorie der Produktionsumwege von Erich von Böhm-Bawerk. Ich muss mich hier auf die Hayeksche Konjunkturtheorie konzentrieren und kann sie auch nur skizzieren. Ausgangspunkt für eine Abweichung der wirtschaftlichen Entwicklung von einem Gleichgewichtspfad ist für v. Hayek die perverse Elastizität des Kreditangebotes: Eine größere Nachfrage nach Krediten führt im Anfangsstadium nicht zu einer Erhöhung des Zinssatzes und damit nicht zu einer Aussonderung derjenigen Produktionsumwege, die langfristig nicht rentabel sind. Die Banken glauben, über genügend Liquidität zu verfügen, um die größere Nachfrage nach Krediten zu gleichbleibenden Zinsen zu bedienen. Der frühere Bundespräsident, Horst Köhler, nannte als Ursache für die gerade erlebte Finanzkrise ein „underpricing of risk“. Die so ausgelöste Investitionswelle wird schließlich abrupt beendet, wenn die Zinsen – marktbedingt oder wegen der Interventionen der Zentralbank – steigen und eine Reihe von Produktionsumwegen abgebrochen werden müssen. Wir können auch sagen: Zu niedrige Zinsen haben Blasen entstehen lassen, die bei Anhebung der Zinssätze platzen.
Mittlerweile ist die perverse Elastizität des Kreditangebotes durch die Niedrigzins-Politik der Zentralbanken abgelöst worden. Wir stellen fest: Die Geldpolitik wurde eingesetzt, um die Beschäftigung zu steigern, Handelsdefizite zu finanzieren oder – wie im Falle der Europäischen Währungsunion – um die Eurozone zusammenzuhalten. Die Geldpolitik wird in den Dienst politischer Ziele gestellt und damit missbraucht.
III. Volkswirtschaftliche Fehlentwicklungen bei Liquiditätsschwemme
Wie gut die modifizierte Hayek-Theorie „Boom-Bust-Entwicklungen“ weltweit erklärt, ist mir bei der Japan-Blase (1989/90) so recht bewusst geworden. Die US-Regierung hatte mit der japanischen Regierung Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhundert vereinbart, über niedrige Zinsen den japanischen Yen unter Abwertungsdruck zu ersetzen, um den USA einen höheren Zins zur Stabilisierung des Dollars zu ersparen. Die niedrigen Zinsen lösten in Japan eine Immobilien- und Aktien-Blase aus, die sich gegenseitig verstärkten. Steigende Immobilienpreise waren die Sicherheit für eine massive Kreditausleihe, die den Aktienmarkt beflügelte. Die Kurssteigerungen hier waren der Hebel für weitere Immobilienkäufe. So trieben sich Aktienkurs- und Immobilienpreissteigerungen wechselseitig in die Höhe. Als die Bank of Japan den Kurs änderte und an der Zinsschraube drehte, wollten die Anleger ihre Windfall Profits retten und stiegen massenhaft aus ihren Engagements aus. Da alle Anleger auf einmal ihre Positionen liquidierten, stürzten sowohl die Immobilienwerte als auch die Aktienkurse ab. Da viele Engagements auf Krediten basierten und die Anleger gezwungen waren, ihre Portfolios den vereinbarten Verhältnissen anzupassen, gab es kein Halten mehr. Im Grunde hat sich Japan von dem Schock der geplatzten Blasen nie richtig erholt. Immer noch werden Unternehmen und Banken als Zombie-Unternehmen und -Banken mitgeschleppt, die im Zuge des Crashs hätten Konkurs gehen müssen.
Die Südostasien-Krise Mitte und Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhundert folgt einem ähnlichen Muster. Investitionsschwächen in den westlichen und japanischen Volkswirtschaften wurden mit niedrigen Zinsen bekämpft; doch sie belebten nicht die eigene Volkswirtschaft; viel mehr schwappte die damit einhergehende Liquiditätsschwemme in Richtung Südostasien, wo höhere Erträge lockten. Da die Währungen dieser Länder an den Dollar gebunden waren, glaubten die Anleger, das Wechselkursrisiko vernachlässigen zu können, zumal der Kapitalfluss die dortigen Devisenreserven erhöhte. So sanken dort die Zinsen, und ein allgemeiner Investitionsboom setzte ein. Das ging solange gut, bis die ausländischen Kapitalanleger wegen steigender Konkursgefahr ihr Geld in Sicherheit bringen wollten. Der abrupte Abfluss an Devisen, trocknete die Kreditmärkte aus, die Zinsen schossen nach oben und viele begonnene Produktionsumwege konnten nicht zur Ausreifung gebracht werden – unser bekanntes Boom-Bust-Phänomen. Hinzu kam, dass spekulative Attacken schließlich die dortigen Zentralbanken zwangen, die Dollar-Kurs-Bindungen aufzugeben. Die daraus resultierenden Abwertungen erhöhten für solche nationalen Investoren die Schuldenlast, deren Verpflichtungen in Dollar denominiert waren. Aber diese – teilweise massiven – Abwertungen stärkten die internationale Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder, die mittlerweile wieder geachtete Spieler im Globalisierungskonzert geworden sind.
Einen eigenen Vortrag verdiente das Platzen der Immobilienblase in den USA und die davon ausgehenden Schockwirkungen rund um den Globus. Die Niedrigzinspolitik von Alan Greenspan und die von ihm initiierte und international abgestimmte Rettung der LTCM-Gruppe gaben der internationalen Investorenwelt die vermeintliche Sicherheit, dass im Falle eines Falles die Federal Reserve Bank der USA Konjunkturabschwächungen auffangen würde – der sog. Greenspan-Put. Er wiegte die Geschäftsbanken dermaßen in Sicherheit, dass ihrer Bereitschaft, Kredite zu gewähren, keine Grenzen gesetzt waren. Die Liquidität floss hauptsächlich in den Immobilienmarkt. Hinzu kamen noch verschiedene Faktoren, die ein allgemeines Moral hazard-Verhalten auslösten: bei Kreditnehmern, das sogenannte NINJA-Phänomen, bei Kreditmaklern und bei Banken, die über „Special purpose entities“ Hypothekenkredite verbrieften und von Rating-Agenturen bewerten ließen. Dubiose Papiere gelangten dann über Triple A-Bewertungen in die Portfolios weltweit agierender Banken. Diese Ratings sollten die Risiken im Kreditsektor reduzieren. Bei Triple A-Papieren konnte daher die Haftungsquote halbiert werden. So schienen die Risiken im Bankensektor beherrschbar zu sein. Das Gegenteil ist eingetreten. Diese Papiere, entgegen dem Rat mancher Chefvolkswirte eingekauft, haben die Banken oft in eine Schieflage gebracht. Wir finden wieder auf eine frappierende Weise bestätigt, dass die perverse Elastizität des Kreditangebots – ermöglicht durch die Billig-Zins-Politik der Zentralbanken – Blasen hat entstehen lassen und dass die Zinsanhebungen der Notenbanken die Investoren zwangen, ihre Positionen klarzustellen. Und so platzte die US-Immobilienblase. Immobilienmärkte sind ein ideales Terrain für unser Boom-Bust-Phänomen. Die Preise für Immobilien sind relativ unelastisch: Sie steigen bei einem Nachfrageanstieg stark an, da das Angebot nur verzögert reagiert und umgekehrt fallen sie rasch, weil bei einem Nachfragerückgang ein vergrößertes Angebot auf den Markt drängt.
Die Geldpolitik hat sowohl Blasen aufgepumpt als auch durch ihre restriktive Reaktion zum Platzen gebracht. Auch jetzt betreiben sie wieder eine Politik, die Blasen nach sich zieht. Aber sie sind nun Gefangene ihrer eigenen Politik geworden: Sie zögern, zu einem notwendigen restriktiven Kurs überzugehen, weil sie ein Platzen der Blasen verhindern wollen. Dies gilt insbesondere für die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die die Eurozone zusammenhalten will und über ihre Nullzinspolitik und ihre negativen Zinsen Banken ins Risiko treibt. So verhindert sie aber, dass die Regierungen der notleidenden Schuldnerländer strukturelle Reformen unternehmen, um ihre Haushalte zu sanieren.
IV. Die Politisierung der Geldpolitik in der Europäischen Union
Die Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion war für die potentiellen Beitrittskandidaten verlockend, weil sie erwarteten, nach Gründung der Währungsunion in den Genuss der niedrigen deutschen Zinsen zu kommen. Ihre Erwartung hat sich erfüllt. Diese abrupte Zinssenkung hat den privaten und öffentlichen Konsum dort enorm beflügelt und die Investitionstätigkeit insbesondere im Immobiliensektor angekurbelt. Da die Konjunktur in den Zentralstaaten Frankreich, Deutschland und Italien schwächelte, hat die EZB den Zinssatz auf 2 Prozent – das bisher niedrigste Niveau – gedrückt. Die Inflationsrate in den Ländern, die besonders von dem Zinsgeschenk begünstigt wurden – Irland, Spanien, Portugal, Griechenland -, war höher als im EU-Durchschnitt. Daher waren hier die Realzinsen im Zeitraum 2002-2007 negativ. Bei gutgehender Konjunktur wird dann der Selektionsmechanismus bei der Kreditvergabe völlig außer Kraft gesetzt. Die Märkte spielen verrückt. Die Anhebung der Zinsen durch die EZB hat dann die Blase zum Platzen gebracht. Da im Zuge des Booms die Lohnkosten überdurchschnittlich gestiegen waren, hatten diese Länder nicht bloß die strukturelle Verwerfung ihrer Volkswirtschaften zu überwinden, sondern hatten obendrein noch ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verloren.
Die Akteure auf den Kapitalmärkten vermuteten, dass diese Länder sich womöglich nicht in der Währungsunion halten könnten und deren Regierungen Schwierigkeiten haben würden, die Staatsschulden dauerhaft zu bedienen und zurückzuzahlen. Daher stiegen die Spreads – Renditedifferenzen zwischen Zinsen für deutsche Staatsanleihen und den jeweiligen nationalen Anleihen – im Frühsommer 2012 stark an. Solche Zinsen hätten diese Länder nicht lange verkraften können. Daher rechneten die internationalen Kapitalanleger, aber auch die verantwortliche Politik mit einem Auseinanderbrechen der Eurozone. Daraufhin gab es einen lebhaften Verkehr zwischen den verantwortlichen Politikern und mit dem Präsidenten der EZB, Mario Draghi. Das Ergebnis: Am 20. Juli 2012 verkündete Mario Draghi auf einer Investorenkonferenz in London: Die EZB stehe vor, neben und hinter dem Euro – „whatever it takes.“ Daraufhin schossen die Aktienkurse geradezu in die Höhe – der Index bewegte sich von ca. 5.000 auf mittlerweile 12.600.
Draghi hatte damit zugesagt, dass die EZB die Staatsanleihen der sogenannten Programmländer, die unter dem Rettungsschirm des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Schutz gesucht hatten, im Falle eines Falles ankaufen werde. Bisher hat die EZB solche „Outright-Monetary-Transactions“ (OMT-Käufe) nicht tätigen müssen, weil die Akteure davon ausgehen, dass die Bürgschaft der EZB genügend Gewähr für die Sicherheit ihrer Anlagen biete. Die Begründung Präsident Draghis für solche angekündigten OMTs lautet: Der Transaktionsmechanismus der Geldpolitik sei nicht mehr gewährleistet gewesen, da eine Zinslockerung der EZB nicht mehr auf die Zinsen für Staatsanleihen und für Kredite in den notleidenden Schuldnerstaaten durchschlagen würde. Insofern sei das Programm der EZB geldpolitisch bedingt und kein Beitrag zur Finanzierung notleidender Staaten. In einem aufsehenerregenden Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) wurde das Vorgehen der EZB als eine „ultra vires“-Aktion angesehen; es hat sein Urteil aber zur Überprüfung an den Europäischen Gerichtshof EuGH überwiesen. Dieser hat das Urteil des BVerfG verworfen und die Entscheidung der EZB als vertragskonform beurteilt. Um des europäischen Rechtsfriedens willen hat sich das BVerfG dem Richtspruch des EuGH gebeugt.
Nun sind Klagen gegen das massenhafte Ankaufsprogramm von Staatsanleihen und Unternehmensanleihen vor dem BVerfG anhängig. Das Ankaufsprogramm ist von 1.260 Bio Euro (60 Mrd. monatlich) auf inzwischen 1.800 Bio Euro (80 Mrd. monatlich) aufgestockt worden. Draghi begründet dies mit der Notwendigkeit, die Investitionstätigkeit in der Eurozone anzuschieben und eine gefährliche Deflationsspirale zu verhindern. In die gleiche Richtung geht die Sanktion, die Banken mit einem Negativzins von 0,4 Prozent zu belasten, weil sie ihre Barreserven nicht für die Ausreichung von Krediten nutzen. Hier ist es die Zentralbank, die mit ihrer politischen Perversität der Kreditausweitung die Banken in absehbare Schieflagen treibt. Dass sie den Preisdämpfungseffekt importierter Primärenergie als deflationstreibend ansieht, stellt die Dinge geradezu auf den Kopf: Die billigeren Energieimporte setzen heimische Kaufkraft frei und stimulieren so die interne Konjunktur. Wenn der Zins bewusst als Selektionskriterium ausgeschaltet wird, gibt es natürlich unausweichliche Fehlentwicklungen, die solange nicht als solche wahrgenommen werden, als die Akteure auf den einzelnen Märkten die erwarteten Renditen einfahren können und noch keine Unruhe unter ihresgleichen spüren. Die EZB greift mit ihrer Nullzinspolitik auch bewusst in die Einkommensverteilung ein: Sie geht zulasten der Sparer und der Besitzer festverzinslicher Wertpapiere zugunsten der Schuldner – private wie öffentliche.
Die Rechtfertigung der EZB, einer gefährlichen Deflationsspirale Einhalt gebieten zu müssen, beruht auf einer falschen Inflationstheorie. Inflation ist nicht Anstieg der Konsumgüterpreise – das ist bloß deren Folge –, sondern Aufblähung der für private und öffentliche Akteure verfügbaren Liquidität, die sowohl Vermögenspreise als auch Konsumgüterpreise in die Höhe treiben können. Inflation ist im Kern „Geldmengenaufblähung“, die besonders gefährlich ist, wenn sie volkswirtschaftliche Fehlentwicklungen hervorruft. Wilhelm Hankel, mein verstorbener Kollege und Freund, hat gesagt: Natürlich gibt es Inflation, man sucht sie bloß an der falschen Stelle.
Der Grund für diese perverse Haltung der EZB ist letztlich ein politisches Ziel: Sie will mit Negativzinsen und Ankauf von Staatsanleihen die Eurozone zusammenhalten. Sie verhindert aber so, dass die Regierungen notleidender Schuldnerstaaten die notwendigen Strukturreformen in ihren Sozialsystemen und auf den Arbeitsmärkten realisieren. Das Motto für die Regierungen lautet: Warum sich mit unangenehmen Reformen bei der Bevölkerung unbeliebt machen und die nächsten Wahlen verlieren, wenn wir uns beliebig verschulden können und dafür keine oder kaum Zinsen zahlen müssen. Damit wird das Problem der Sanierung der Eurozone auf den „Sankt Nimmerleinstag“ oder „ad calendas graecas“ verschoben.
Wie gefährlich der Missbrauch der Geldpolitik durch die EZB ist, zeigt die Zusammenstellung von Zeitungsartikeln in ihren „Auszügen aus Presseartikeln Nr. 16 (17. April 2017):
- Herausforderungen für Bankensektor (Weidmann)
- Heftiger Streit um das Ende der Geldflut
- Gefährlicher EZB Rekord
- EZB erlaubt Staatshilfen für Italiens Krisenbanken
- Europas Zombiebanken
- Die Billionen-Bombe (Dombret)
- Europas Billionen-Risiko bei den Banken
- Schäuble erteilt Euro-Haushalt eine Abfuhr
- Grundsatzeinigung mit Griechenland
- Alle Fragen offen
- Greece’s creditors must act to end the gridlock
- Gefangene in der Krise
- Schuldenberg wächst in der Welt gefährlich schnell
- Die Vorsicht und die Fed
- „Ich sehe keinen Sinn in höheren Inflationszielen“ (Caruana)
- IWF: Gefahr in Dauerzinstief
Diese Aufstellung offenbart auch die tiefe Skepsis der Deutschen Bundesbank gegenüber der Politik von Mario Draghi. Doch kann sich Jens Weidmann im Zentralbankrat nicht durchsetzen. Das zeigt auch, dass der entscheidende Grund für die Schaffung des Euro die Entmachtung der Bundesbank war.
V. Schöpferische Zerstörung als Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum
Ein Großteil der ökonomischen Zunft, unterstützt von internationalen Institutionen wie IWF und OECD, sieht die Ursache für die schwächeren Wachstumsraten in einer zu geringen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. So betitelte der Internationale Währungsfonds seinen jüngsten Weltwirtschaftsausblick mit „Gedämpfte Nachfrage. Symptome und Lösungen“. Die ultralockere Geldpolitik der Zentralbanken soll fortgesetzt und durch zusätzliche fiskalpolitische Stimulierung ergänzt werden. Gegenwärtig fordern die international renommierten US-Ökonomen Summers und Krugman, die ultralockere Geldpolitik auch nach Einsetzen der wirtschaftlichen Erholung fortzusetzen, um die Inflationserwartungen zu stimulieren und eine höhere Inflationsrate zu erreichen. So sollen die Realzinsen weiter abgesenkt werden. Der gleichgewichtige Realzins sei bereits seit längerer Zeit negativ geworden. Aber wegen der niedrigen Inflation sei er noch nicht negativ genug, um eine höhere gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu generieren. In einer Situation wie derzeit, „muss die Zentralbank glaubwürdig versprechen, unverantwortlich zu sein“, wie es Krugman bereits im Jahr 1988 forderte.
Genau diese Unverantwortlichkeit der Zentralbanken und die ständige Abstützung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage über Staatsverschuldung wären für Joseph Schumpeter, dem Antipoden von John Maynard Keynes im 20. Jahrhundert, der Grund für die anhaltende Stagnation. In seiner „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1908) hat er zunächst den Kern von Blasenbildungen herausgearbeitet: Im Zuge einer dauerhaften Prosperitätsphase schwimme vieles ohne eigene Antriebskraft mit, gewinne die spekulative Antizipation Eigenbedeutung, werde das Prosperitätssymptom schließlich in der bekannten Weise selbst wieder Prosperitätsfaktor: Alle Welt investiert oder kauft Unternehmen oder Anteile von Unternehmen, ohne genau zu prüfen, ob es sich langfristig rechne.
Damit sagt Schumpeter, dass diese Übertreibungen Fehlentwicklungen der gesamtwirtschaftlichen Produktionsstruktur hervorrufen. Bei einem unausweichlichen konjunkturellen Niedergang müssten solche Fehlinvestitionen aus dem Produktionsprozess ausscheiden. Die freigesetzten Produktionsfaktoren seien Rohstoff für nachfolgende Prosperitätsphasen, die hauptsächlich durch Produkt- und Prozessinnovationen getrieben würden. Natürlich werde dieser Ausleseprozess als schmerzlich empfunden, weil Werte und Existenzen vernichtet würden und Arbeitslosigkeit entstünde, doch wäre es falsch, die positiven Wirkungen zu übersehen, die damit verbunden wären. Später hat Schumpeter diese Phase als „schöpferische Zerstörung“ bezeichnet.
Eine Politik, die mit „Billigst – Geld“ und staatlicher Nachfragestimulierung diesen Prozess in der Hoffnung zu verhindern versuche, dass sich bei einer Konjunkturbelebung solche Schwachstellen beseitigen ließen, geht davon aus, dass die gegebene Produktionsstruktur auch die zukünftigen Bedürfnisse befriedigen könne. Dies sei aber der entscheidende Trugschluss: Eine Politik, die sowohl Lebensfähiges retten als auch Lebensunfähiges erhalten wolle, verhindere, dass die Volkswirtschaft sich auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zubewege. Genau das ist seit dem Platzen verschiedener Blasen seit Beginn dieses Jahrhundert geschehen. Kurzfristig wurden die erforderlichen volkswirtschaftlichen Anpassungen durch immer niedrigere Zinsen, mehr Liquidität und immer höhere öffentliche Schulden verhindert.
Die derzeitige Entwicklung kann als eine Bestätigung der Schumpeterschen Sicht gelten. Die geschilderten geldpolitischen Interventionen untergraben sukzessive die Glaubwürdigkeit der Zentralbank. Das Vertrauen geht verloren, weil die Wirksamkeit der Maßnahmen infrage gestellt wird und zunehmend die „unbeabsichtigten Folgen“ dieser Politik erkennbar werden, auf die die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bereits seit mehreren Jahren hinweist. Die Zentralbankpolitik führt zu finanziellen Instabilitäten, zu neuen Marktexzessen, da der Zins seine Steuerungs- und Signalfunktion verloren hat. Die Zentralbankpolitik ist dann nicht mehr Teil der Lösung, sondern wird Teil des Problems. Es droht die Zombifizierung der Wirtschaft. Notwendige Korrekturen der Bank- und Unternehmensbilanzen werden verzögert, unproduktive Unternehmen bleiben am Markt, Banken mit unzureichendem Eigenkapital und fehlendem tragfähigen Geschäftsmodell bestehen fort. All das bedeutet eine erhebliche wirtschaftliche Belastung und führt zu signifikanten Produktivitätseinbußen.
Für mich steht fest: Die derzeit vorherrschende keynesianische Rezeptur trägt nicht zur nachhaltigen Lösung der Probleme bei. Sie ist auf Kurzfristeffekte ausgerichtet. Mittelfristig führt sie zu neuen Exzessen und verschärft die krisenhaften Entwicklungen der öffentlichen Finanzen und die negativen Folgen der heutigen ultralockeren Zentralbankpolitik. Es wird Zeit, dass sich die Ökonomen von Keynes und seinen Jüngern emanzipieren, ihren Blick auf die Wiener Schule richten und sich auf Erkenntnisse ihrer wichtigsten Vertreter besinnen: Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk, Joseph Schumpeter, Ludwig von Mises, F.A. von Hayek und auch Gottfried von Haberler.
Daher wollen wir Ludwig von Mises das Schlusswort überlassen. „Die Aufgabe des Ökonomen ist es, über die entfernter liegenden Effekte zu informieren, sodass wir Handlungen vermeiden können wie die Versuche, gegenwärtige Übel dadurch zu heilen, dass wir den Samen für künftige größere Übel säen.“