Wenn mir in Deutschland vom Staat ein Grundstück enteignet wird, weil es direkt neben einem staatlichen Nationalpark liegt und dieser erweitert werden soll, dann habe ich ein Recht auf Entschädigung. In der Bundesrepublik Deutschland folgt das aus Artikel 14 Absatz 3 des Grundgesetzes. Nur sehr wenige Zeitgenossen würden ernsthaft behaupten, dass dieses Grundrecht auf Entschädigung den Rechtsstaat und den demokratischen Entscheidungsprozess beeinträchtigt, weil sich die gewählten Vertreter des Volkes aufgrund der möglichen Entschädigungszahlungen gegen das geplante Projekt entscheiden könnten. Die möglichen Entschädigungszahlungen gehören zu den Kosten des Projektes. Wenn die demokratische Mehrheit das Projekt will, muss der Staat diese Kosten tragen. Fast jedem in unserem Land ist klar, dass eine entschädigungslose Enteignung gegen Grundprinzipien eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates verstößt. Eine entschädigungslose Enteignung wäre staatlicher Raub.
Doch sobald auf die internationale Ebene gewechselt und englische Begriffe wie Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) und Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) sowie Investor State Dispute Settlement (ISDS) verwendet werden, findet mit dem Wechsel der Handlungs- und Sprachebene bei vielen Zeitgenossen offensichtlich auch ein Wechsel der Grundsätze statt: „TTIP ist böse!“ und „Stoppt TTIP – keine Geschenke für Monsanto, BASF und Co“ plakatieren Pressure-Groups wie ATTAC und professionelle „Campaigner“ wie Compact, aber auch rechte und linke Parteien. In dieser Lesart ist es böse, wenn durch Freihandels- und Investitionsschutzabkommen „Monsanto, BASF und Co“ Entschädigungszahlungen für Enteignungen oder enteignungsähnliche staatliche Maßnahmen zustehen würden.
Auffällig ist nicht nur, dass von Großkonzernen die Rede ist und nicht von Herrn Meier und Frau Müller, die zum Zwecke ihrer Alterssicherung Anteile an diesen international agierenden Konzernen besitzen. Auffällig ist vor allem, dass eine heimliche Bewertungsumkehr vorgenommen wird. Es wird behauptet, dass diejenigen, die auch im Rahmen der internationalen ökonomischen Kooperation Sicherungen gegen entschädigungslose Enteignungen verlangen, ein illegitimes Anliegen verfolgen würden. Dass gesicherte Eigentumsrechte, die unparteiische Durchsetzung von Verträgen und die Abwesenheit von Raub in jeglicher Form die Grundvoraussetzungen für Wohlstand für alle sind, wird dabei gezielt ignoriert.
Darüber hinaus wird in der Anti-TTIP-Kampagne behauptet, dass internationale Schiedsgerichte, die in Streitfällen zwischen Investoren und Staaten entscheiden sollen (Investor State Dispute Settlement – ISDS), Demokratie und Rechtsstaat aushöhlen würden. Es könne nicht sein, dass internationale Schiedsgerichte und nicht deutsche Gerichte in solchen Fällen entscheiden. Auch dieser Behauptung liegt eine heimliche Bewertungsumkehr zugrunde. Denn entscheidend ist nicht, ob ein deutsches Gericht, ein internationales Gericht oder ein internationales Schiedsgericht diese Streitfälle zwischen Staaten und Investoren entscheidet. Entscheidend ist, ob nach Recht und Gesetz entschieden wird. Demokratie und Rechtsstaat werden nicht durch internationale Schiedsgerichte ausgehöhlt, sondern durch Entscheidungen, die Recht und Gesetz widersprechen. Und zu behaupten, nur deutsche Gerichte würden in Streitfällen, in denen der deutsche Staat verklagt wird, nach Recht und Gesetz entscheiden, zeugt zumindest von einer gewissen Lebensfremdheit, wenn nicht gar von nationaler Verblendung. Natürlich besteht immer die Gefahr, dass ein Gericht, sei es ein deutsches, ein internationales oder nur eine internationale Schiedsstelle, Fehlentscheidungen oder sogar interessengefärbte Entscheidungen fällt. Aber gerade deshalb entspricht es rechtsstaatlichen Grundsätzen, dass nicht die Organe des Staates, der in einem Streitverfahren Partei ist, entscheiden sollten, sondern Organe, die nicht Partei sind, aber vorab von beiden Parteien als Streitschlichtungsinstanz vertraglich anerkannt wurden.
Aber auch diese Selbstverständlichkeit wurde durch die eigentumsfeindlichen und national gefärbten Kampagnen von ATTAC, Compact und anderen aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt, was vor allem in Deutschland bislang sehr erfolgreich war. Nur noch 39 Prozent der Deutschen befürworten den Abschluss von TTIP. Selbst in Frankreich sind es hingegen 50 Prozent, in Polen 73 Prozent, in Dänemark 71 Prozent und in Großbritannien 65 Prozent der Befragten, die TTIP befürworten.
Dass ausgerechnet im exportorientierten Deutschland die Freihandels- und Investitionsschutzabkommen TTIP und CETA auf Ablehnung stoßen, gefährdet die Sicherung des deutschen wirtschaftlichen Engagements im Ausland. Die deutschen Direktinvestitionen im Ausland sind von 1991 bis 2014 nominal um das 4,4-fache gestiegen, preisbereinigt um das 3,2-fache. Nach Auskunft des BDI übten deutsche Investoren im Jahr 2012 über Direktinvestitionen Einfluss auf über 34.686 ausländische Unternehmen aus und waren mitverantwortlich für 6,5 Millionen ausländische Arbeitsplätze. Die wachsende Bedeutung der deutschen Direktinvestitionen im Ausland zeige sich auch daran, dass die deutsche Industrie im Jahr 2012 mehr als doppelt so viele Güter über ihre Direktinvestitionen im Ausland verkauft habe (2,4 Bio. Euro) als Güter aus Deutschland exportiert wurden (1,1 Bio. Euro).
Deutschland war das Land, das 1959 in einem bilateralen Investitionsschutzvertrag mit Pakistan den weltweit ersten Vertag dieser Art abgeschlossen hat. Heute hat Deutschland 139 Investitionsschutzverträge, von denen 131 in Kraft getreten sind. Deutschland ist weltweit das Land mit den meisten Investitionsschutzverträgen. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist in Deutschland dadurch nicht untergegangen und wird sicherlich nicht durch TTIP und CETA untergehen. Im Gegenteil: Der Investitionsschutz in diesen Verträgen trägt dazu bei, dass im demokratischen Entscheidungsprozess alle Kosten eines Projekts zu berücksichtigen und zu tragen sind und Eigentumsrechte möglichst nicht verletzt werden. Aber vielleicht wollen ATTAC, Compact und Co ja gerade das verhindern.
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Deutschland und die Schiedsgerichte: Der Sinneswandel des Angeklagten