Die COVID-19-Pandemie war gerade ausgebrochen und der erste strenge Lockdown verhängt, da wussten schon manche alles über die Zeit „danach“. Von allen Seiten wurden uns ermunternde Botschaften zugerufen. „Das wird jeden einzelnen und die Gesellschaft verändern“, schrieb eine junge Dame hochgemut und setzte hinzu: „Man muss sich an den kleinen schönen Dingen festhalten, dem Sonnenschein, der aufwachenden Natur, Telefongesprächen mit den Lieben, gute Bücher, Musik, ich bin heute mit Kardinal Schönborn und der Messe im Livestream aufgestanden“. Überall fühlt sie ein „neues Nachbarschaftsgefühl“ entstehen. Als alter Mensch mit wenig Neigung zu solcher poetischen Lebenshaltung sollte man sich da wohl beschämt vorkommen.
Vor den „Goldenen Zwanzigerjahren“ des 21. Jahrhunderts
Dass eine große Prüfung wie Corona die Menschen bessern werde, ist eine sehr idealistische Erwartung an die Folgen der Krise. Eine historische Evidenz gibt es dafür nicht. Aus den Zeiten nach den Pest-Epidemien im Mittelalter und der frühen Neuzeit wird uns nichts von Einkehr und Abkehr vom sündhaften Leben berichtet, das als Ursache für das Unglück galt. „Die Menschen bleiben immer gleich. Aber das ist ihre Kraft und ihre Unschuld“ lässt Albert Camus den Arzt Doktor Rieux in der „Pest“ sagen, einem Buch, dass während der Pandemie wieder viel gelesen wurde. Von Unschuld will Karl Kraus ohnehin nichts hören: „Die Kugel ist der Menschheit beim einen Ohr hinein- und beim anderen hinausgegangen“, schrieb er nach dem ersten Weltkrieg voll wütenden Zynismus´.
Die folgenden Zwanzigerjahre waren dann bekanntlich nicht eine Zeit der Besinnung und einer neuen Bescheidenheit, sondern eine der hektischen Lebensgier und wilder Ausgelassenheit. Jemand hat sie die „goldenen, rasanten, dröhnenden, verrückten und lustvollen Zwanzigerjahre“ genannt. Damit wird man wohl auch in den bevorstehenden Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts rechnen dürfen. Es wäre die naheliegende Reaktion von Überlebenden, die froh sind, dass sie es hinter sich haben. Allerdings waren die sagenhaften Zwanzigerjahre auch eine Zeit großer schöpferischer Vitalität. Momentan freilich haben viele Künstler Existenzsorgen und sind hauptsächlich damit beschäftigt, sich ihre öffentlichen Subsidien zu bewahren, worin sich die meisten als durchaus tüchtig erweisen.
Hoch-greifende Philosophen und sich lächerlich machende Zukunftsforscher
Krisen waren immer schon die große Stunde der Intellektuellen. Geradezu von der „Krisenlust der Intellektuellen“ sprach die Generaldirektorin des Wiener Museums Belvedere, Stella Rollig einmal. Der Intellektuelle sucht die große Welterklärung oder zumindest ein „neues System“. Mit der Erkundung einzelner Ursachen einer Krise und der Suche nach möglicher Abhilfe schlägt er sich nicht herum. Vielleicht mögliche Korrekturen am Bestehenden sind ihm jedenfalls zu wenig. Das würde ja die große Verdammung unmöglich und den prophetischen Gestus lächerlich machen.
Der linke slowenische Zeitgeistphilosoph Slavoj Zizek meint etwa, wir würden durch Corona „unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen – im Sinne unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen.” Das ist etwas hochgegriffen, unbestreitbar ist aber, dass die aktuelle Krise zeigt, „wie globale Solidarität und Zusammenarbeit im Überlebensinteresse von uns allen und das einzig Rationale und Egoistische sind, was man tun kann.“
Der Lächerlichkeit preisgegeben haben sich wieder einmal die sogenannten Zukunftsforscher. In einem vielverbreiteten Essay über die schöne neue Zeit nach der Krise schrieb einer gleich nach Ausbruch der Pandemie: „Sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch werden nicht so schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.“ Hier schlägt die Romantik der Wohlhabenden in Zynismus gegenüber der großen Mehrheit derer um, die mit bescheidenem Einkommen in einer Mietwohnung vielleicht gerade noch mit einem Balkon leben.
Leute, denen es an nichts mangelt, predigen den Verzicht, sagen aber nicht, worauf die anderen verzichten sollen.
Ob Philosoph, Soziologe, Naturwissenschaftler, Bischof – alle sind sich einig darin einig, „dass Corona das Angesicht der Erde verändern wird,“ wie es der Erzbischof von Wien mit dem bekannten pfingstlichen Gebet ausdrückte. Wegen Corona werde es „zu einem Umdenken in Wirtschaftsfragen aber auch jeweils im eigenen Lebensstil kommen“. „Umdenken“ ist überhaupt ein beliebtes Wort geworden. Leute, denen es an nichts mangelt, predigen den Verzicht, sagen aber nicht, worauf die anderen verzichten sollen. Alles was diesen Zivilisationskritikern und Armutspredigern an Verzicht bisher eingefallen ist, sind ein paar Flugreisen im Jahr weniger.
Kollateralschaden: Die Infantilisierung der Gesellschaft
Zu den ernüchternden Erkenntnissen aus der Corona-Krise gehört freilich, wie groß die Wehleidigkeit der Menschen in der modernen Welt ist. Unter dem Eindruck der ersten Angst wurden die Ausgangsbeschränkungen anstandslos akzeptiert. Kaum ließ der Druck nach, wurden sie so dargestellt und empfunden, als ob es sich um eine Schikane der Regierung gegen die Bevölkerung handle. Die Lockerung der jedenfalls in Österreich nicht sehr strengen Maßnahmen wurde herbeigejubelt, als ob wir alle aus dem Gefängnis befreit worden wären.
Das Selbstmitleid führt zur paradoxen Haltung, den Staat als Feind zu betrachten und zugleich alles von ihm zu erwarten.
Die Maskenpflicht, eine simple und wie sich herausgestellt hat sehr wirksame medizinische Vorkehrung, wurde zu einer „Beleidigung des Bürgersinns“ stilisiert oder als „Komödie“ lächerlich gemacht. Das Selbstmitleid führt zur paradoxen Haltung, den Staat als Feind zu betrachten und zugleich alles von ihm zu erwarten. Diese Infantilisierung der Gesellschaft könnte sich noch als einer der größeren Kollateralschäden der Krise herausstellen.
Unersetzlichkeit der Nationalstaaten – und der Globalisierung
In der COVID-19-Krise hat sich die Unersetzlichkeit des Nationalstaates erwiesen. Ein Staat, der in guten Zeiten kein stabiles Gesundheitssystem aufgebaut hat, dem kann in der Krise auch keine EU-Solidarität helfen. Zweifellos darf sich Europa bei Medikamenten und Schutzausrüstungen nicht vollkommen auf nicht-europäische Produzenten verlassen. Auch Vorräte an Gesundheitsmaterial, wie sie Österreich einmal gehabt hat, müssen wieder angelegt werden.
Diese Notwendigkeit darf aber nicht dazu führen, den Propagandisten einer De-Globalisierung auf den Leim zu gehen. Gerade Länder wie Deutschland und Österreich, die vom Export leben, sollten sich solchen Illusionen nicht hingeben. Immer noch gibt es Leute, die sich wünschen, dass die Volkswirtschaft „zumindest etwas zurückgefahren“ wird. Das ist angesichts von Millionen Arbeitsloser und tausender akut gefährdeter Unternehmen entweder weltfremd oder zynisch. Ökonomische Utopisten verbreiten auch schon wieder Konzepte der Arbeitszeitverkürzung, mit der die „vorhandene Arbeit“ angeblich gerechter verteilt wird.
Höherer Anteil von COVID-19-Patienten mit Migrationshintergrund?
Österreich wurde in der COVID-19-Krise an eine unerfreuliche Tatsache erinnert, die allerdings niemanden überraschen kann: Dass hunderttausende Menschen im Land leben, von denen man nicht weiß, wie und ob überhaupt sie die Anordnungen und Verhaltensratschläge der Regierung erfahren und zur Kenntnis nehmen, weil sie nicht Deutsch können. Schnell mussten deshalb Informationsprogramme in 17 Sprachen geschaffen werden. Ganz sicher, dass das bei den Adressaten angekommen ist, scheint auch die zuständige Ministerin nicht zu sein.
Die „anekdotische Evidenz“, dass der Anteil der COVID-19-Patienten mit Migrationshintergrund auf den Intensivstationen weit über deren Anteil an der Bevölkerung gelegen ist, wurde nie seriös überprüft. Bekannt ist das allerdings auch aus anderen Ländern. Über die Ursachen hat man nur Vermutungen: Unwissenheit oder Gleichgültigkeit gegenüber der Gefahr durch das Virus; allgemein schlechterer Gesundheitszustand der migrantischen Bevölkerung; beengte Wohnverhältnisse von großen Familien; Arbeit in exponierten Bereichen etwa des Gesundheitswesens.
Diametral entgegengesetzt sind dementsprechend die Einschätzungen der Folgen der Pandemie auf die Immigranten-Gemeinschaften und das Zusammenleben mit der Mehrheitsbevölkerung. Während ein Integrationsexperte von der Erfahrung einer “Schicksalsgemeinschaft“ schwärmt, befürchtet die Integrationsministerin einen verstärkten Rückzug in Parallelgesellschaften.
Von der Krise zum permanenten Ausnahmezustand
Drei Tage vor dem ersten Lockdown im März 2020 hat der damalige österreichische Gesundheitsminister – er gehört der Partei der Grünen an – in einem Radio-Interview erklärt, man könne die Zwangsmaßnahmen, die der Staat nun für die Bekämpfung der Pandemie einsetze, auch für die Lösung anderer Probleme anwenden. Er nannte nicht zufällig den Klimawandel. Da sich das „Klima“ aber nicht so schnell „retten“ lassen wird, bedeutet das die Ankündigung des permanenten Ausnahmezustands.
Das anscheinend grenzenlose Versprechen des Staates, Geld für jeden und alles (…) herzugeben, hat sich bei vielen Bürgern als Anspruch niedergeschlagen.
Das ist die größte Gefahr, die am vorläufigen oder womöglich nur erhofften Ende dieser Pandemie steht: Das anscheinend grenzenlose Versprechen des Staates, Geld für jeden und alles, vom Taxi-Gutschein bis zu diversen „Solidaritäts-, Kunst-, Gemeinde-Milliarden“ herzugeben, hat sich bei vielen Bürgern als Anspruch niedergeschlagen. Jede obskure NGO darf sich für staatstragend halten und möchte ihren Spendenausfall vom Staat ersetzt bekommen.
Auf die Erfahrung der Krise und „Not“ antwortet ein gestärkter Staat, der im Namen von Zielen und politischen Wünschen, über die keine demokratischen Entscheidungen stattgefunden haben, weil sie sich angeblich ohnehin von selbst verstehen, die Gesellschaft umgestaltet und die Wirtschaft steuert. Im Namen staatlicher Wohltätigkeit werden Eingriffe ins Eigentum wie Mietendeckel und im Namen der „Rettung der Stadt“ Enteignungen von Immobilien propagiert. Die Pandemie habe gezeigt, „wozu der Staat fähig ist“, formuliert ein Autor der Wiener „Presse“ absichtlich doppeldeutig.
Unternehmen der Privatwirtschaft: Die stillen Helden
Man muss gar nicht auf das vielfache Versagen staatlicher Bürokratien bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens verweisen, um die Überlegenheit unternehmerischen Wirtschaftens zu erkennen. Viele Unternehmen haben die Krise dazu benützt, ihre innere Organisation zu verbessern, Abläufe zu rationalisieren, neue Produkte zu entwickeln und die Digitalisierung voranzutreiben. Neue Formen der Gastronomie wurden ebenso entwickelt wie neue Vertriebsformen gefunden. Kaum ein Manager eines größeren Unternehmens, der nicht beteuert, man sei darauf vorbereitet, nach Krise „durchzustarten“.
Kaum je zuvor ist so viel übers Geld geredet worden wie jetzt: Das Geld des Staates, das er nicht hat, aber mit vollen Händen ausgibt; das Geld, das die Bürger vom Staat bekommen wollen, ob er es hat oder nicht; das Geld, das man am besten den „Reichen“ wegnehmen sollte, um die Schulden, die gemacht werden mussten, abzutragen. Zu den positiven Überraschungen der COVID-19-Zeit gehört allerdings auch, dass nun Markt, Wirtschaft, Unternehmertum, Wettbewerb, Gewinn keine Schimpfwörter mehr sind. Wenn ein Tanker im Suezkanal festsitzt oder Industrien keine Rohstoffe bekommen, ahnt auch der ökonomisch wenig Gebildete, was Lieferketten sind.